Wie Werte sich wandeln

Wie Werte sich wandeln

Siegfried Langhein


EUR 23,90
EUR 14,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 284
ISBN: 978-3-95840-009-2
Erscheinungsdatum: 06.10.2015
Jürgen erlebt als kleiner Junge die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Mecklenburg mit eigenen Augen und Hoffnungen. Seine Jugendliebe Karin findet in den Aufbaujahren keinen Weg zu seinem Herzen. Doch viele Jahre später, als Familienvater, trifft er sie in Berlin wieder.
Kurzfassung

Es werden die Erlebnisse eines jungen Menschen nach 1945 erzählt. Der Zeitbogen spannt sich dann bis 2010. Seine Erlebnisse spiegeln den Wertewandel wider und sollen den Leser zu eigenen Anschauungen und zum Vergleichen führen.
Vielleicht erkennen Sie sich in der einen oder anderen Situation wieder und nehmen die Veränderungen der schnelllebigen Zeit wahr. Die Erlebnisse der Romanfiguren sind ein Zeugnis dieses Wertewandels. Alltagsprobleme, Liebe und Veränderungen in den gesellschaftlichen Verhältnissen im Zuge des Wertewandels und das Wandern zwischen den Welten sind die Begleiterscheinungen dieser schnelllebigen Zeit.

Cammin, April 2014

***

Kapitel 1

Ein wunderschöner Sommertag begann am Stadtrand von Rostock und trotzdem fielen auch an so einem Tag für Jürgen die üblichen Pflichten im Haushalt der Eltern an. Er musste tüchtig helfen zu Hause, sowohl im Haus als auch im Garten. Der Garten war ein großer Nutzen für die Familie in dieser Zeit, der Nachkriegszeit. Die Gartenfläche mit dem Gemüseanbau, den Obstbäumen und Blumenbeeten erschien Jürgen riesig, denn die Arbeit nahm für ihn nie ein Ende. Der Stiefvater hatte ebenfalls immer etwas zu erledigen und sorgte dafür, dass die Arbeit für Jürgen nie ausging. Die väterliche Beschreibung für das, was getan werden musste, erfolgte wortkarg aber deutlich und klar ausgesprochen, und er duldete keinen Widerspruch.
Das Hausvieh mit Hühnern, Enten, Gänsen und einem Schwein musste versorgt und das Unkraut von den Beeten gezogen werden. Jürgen lernte früh die Anstrengungen eines jeden Tages zu meistern. Natürlich kam das Spielen mit den Nachbarkindern immer zu kurz und das stimmte Jürgen manchmal traurig. Doch die erledigte Arbeit machte ihn auch zufrieden und manchmal kam sogar ein glückliches Gefühl auf, wenn er den geputzten Garten seiner Mutter zeigte.
An diesem Sommertag entfernte sich Jürgen mit Erlaubnis der Mutter vom Elternhaus. Aber er ging nicht zum Spielen auf die Straße. Öfter als ihm lieb war, musste er auf das nahegelegene, abgeerntete Kornfeld gehen und nach Kornähren suchen. Barfuß ging Jürgen über das abgeerntete Feld und konnte immer besser den Getreidestoppeln geschickt mit den Füßen ausweichen. Auch wenn er heute nur wenig Ähren fand, sie halfen, die Not zu Hause etwas zu lindern, denn sie konnten gegen Mehl zusätzlich zu den Lebensmittelkartenzuteilungen eingetauscht werden. Den Blick auf den Boden gerichtet, die nackten Füße gegen die Stoppeln gedrückt, hoffte Jürgen, nicht dem Großbauern oder seinem Knecht zu begegnen, denn die konnten die sammelnden Stadtmenschen nicht leiden. Zum Absammeln seiner abgeernteten Felder kam der Bauer aber nicht; die Arbeit auf seinen vielen Äckern ließ ihm für das Nachsammeln keine Zeit. Jürgen dachte: „Er ärgert sich bestimmt, dass beim Mähen zu viele Ähren auf dem Ackerboden liegen blieben, aber er gönnt sie den Ährensammlern aus der Stadt auch nicht. Warum eigentlich, wenn er selbst nicht dazu kommt?“, rechtfertigte Jürgen sein Sammeln. Die unbegründete Abneigung zwischen den Stadtrandbewohnern und dem Großbauern bestand schon immer und ein wenig Angst schwang immer mit, wenn der Hund des Großbauern zu hören war. Aber er dachte noch an etwas anderes. Vielleicht hatte er heute Glück und die Tochter des Großbauern ließ sich einmal blicken. Seltsam, dass auf einem Bauernhof mit so viel harter Arbeit, ein in seinen Augen so hübsches Mädchen lebte. Alle Freunde von Jürgen wussten auch um die Schönheit dieses Mädchens, zumal sie in der benachbarten Schule am Rande der Stadt zum Unterricht ging. Die Freunde wussten aber nicht, dass Jürgen eine heimliche Zuneigung zu dem Mädchen, das sich so unnahbar und stolz zeigen konnte, empfand. Nur selten sah er sie, aus der Nähe schon gar nicht. Noch nie hatten sie ein Wort miteinander gesprochen.
Jürgen entfernte sich immer weiter vom Elternhaus und vom Stadtrand. Er wusste, dass am Ende des Getreidefeldes unmittelbar am Waldrand ein abgestürztes Flugzeug aus dem Zweiten Weltkrieg lag. Die Stadtrandeltern hatten ihren Kindern strikt verboten dort zu spielen. Das Flugzeug stürzte kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges brennend auf den Acker des Großbauern. Jetzt wurde das Flugzeug nach allen Regeln der Kunst ausgeschlachtet, alle Teile aus Metall, Gummi und sonstigem Material verschwanden in den Häusern für alle möglichen Zwecke. Die Menschen, die am Stadtrand wohnten, nutzten eben alles und verwerteten in dieser Zeit aus der Not heraus alles, was ihnen irgendwie brauchbar erschien oder brauchbar gemacht werden konnte.
Das Flugzeug kam den Jungs und Mädchen riesig vor und wurde gern als „Spielzeug“ genutzt, denn das Verbotene lockte immer wieder.
Jürgen musste sich immer jedes Mal an das Barfußgehen über den Stoppelacker gewöhnen und hatte neben einer kurzen Hose und einem leichten Hemd nur den Beutel für die Kornähren umgehängt. Der heiße Sommertag machte ihm nichts aus. So langsam kam er dem Flugzeug näher, in der Hoffnung, vielleicht etwas Brauchbares für zu Hause zu finden. Er ging um die Ecke des Maisfeldes, sah die andere Seite des Getreidefeldes und vor sich das Flugzeugwrack und – unglaublich – ganz hinten die hübsche Bauerstochter. Noch konnte er nicht erkennen, welchen Weg sie nehmen würde. Er sah angestrengt in ihre Richtung und erkannte, dass sie, wie er selbst, auf das Flugzeug zuging, ohne ihn offenbar zunächst zu bemerken. Jürgen klopfte das Herz fast bis zum Hals und er wusste nicht, wie er sich bemerkbar machen sollte. In der Deckung des abgestürzten Flugzeuges, so halb versteckt, hatte er endlich Mut, als sie auf der anderen Seite des Flugzeuges angekommen war, sich bemerkbar zu machen. Überrascht blickte sie auf und rief zornig: „Was willst du hier? Es reicht doch, wenn du unser Korn stiehlst!“ Jürgen reagierte nicht böse auf diesen Vorwurf und die Andeutung des Stehlens, da seine Freude, das Mädchen hier zu treffen, zu groß war. Er fragte versöhnlich zurück, ohne auf ihren Vorwurf einzugehen. „Wie heißt du? Ich weiß, dass du die Tochter des Großbauern bist.“ „Was interessiert dich mein Name, du bist ein Dieb!“ „Ho, ho, ich bin kein Dieb, ich hab nur Hunger, den du nicht kennst. Lass uns nicht böse reden“, sprach Jürgen weiter. „Ich komme von dort“ und er zeigte auf den Stadtrand, der am Horizont schimmerte. „Und du kommst vom Bauernhof. Stimmt’s?“ „Es stimmt“, sagte das Mädchen etwas versöhnlicher, doch sie verriet immer noch nicht ihren Namen. „Ich heiße Jürgen.“ „Ich heiße Karin“, überwand sie sich. „Und wenn mich mein Vater hier mit dir sieht, schlägt er mich.“ „Na, na, Karin, so schlimm wird es nicht kommen“, lenkte Jürgen ein. So redeten sie noch eine Weile und bemerkten nicht, dass der Knecht des Großbauern, der wohl auf Umwegen vom Gutshof durch den Wald Karin gefolgt war, zum Schrecken beider Kinder plötzlich neben ihnen stand. Karin wusste, dass der Knecht nicht ganz bei Trost war und schon immer ein Auge auf das kleine Mädchen seines Herrn geworfen hatte. Karin erfasste die Situation als Erste und fragte zornig: „Was suchst du hier, Alfred?“ Alfred tat unbeholfen und meinte: „Ich suche das Flugzeug ab und will dich beschützen.“ „Du brauchst mich nicht beschützen“, antwortete Karin. Alfred verfolgte ein Ziel, er wollte Karin berühren und zog sie vom Flugzeug weg. Karin wehrte sich und schlug auf den Oberarm des Knechtes. Jürgen erschrak und wollte Karin helfen. Karin rief: „Jürgen, hilf, der Knecht ist von Sinnen!“ Der Knecht zog Karin immer weiter vom Flugzeug fort in den Wald. Der Knecht wusste wohl, dass so ein kleiner, schwächlicher Junge wie Jürgen ihm nichts antun konnte. Sein Zerren wurde immer kräftiger und Karin weinte. Jürgen ergriff eine Stange, die andere „Flugzeugbesucher“ beim letzten Demontieren offensichtlich hatten liegen lassen, lief auf den Knecht zu und schlug so kräftig er konnte auf sein Kreuz und seine Hüfte. Der Knecht hatte Jürgen nicht kommen sehen und sank nach dem letzten Hieb in sich zusammen. Der Knecht wimmerte und schrie: „Du Schwein!“ Jürgen war wütend geworden und schlug noch einmal auf den Leib des Knechtes. Der Knecht wand sich nach den heftigen Schlägen, bis er sich nur noch schwach bewegte. Beide Kinder erschraken vor dem hilflosen Körper des Knechtes und liefen voller Angst von der Stelle des Grauens fort. Sie fassten sich beide an die Hand und ruhten sich erst am Waldrand im hohen Gras aus. Beide zitterten vor Angst und Erschöpfung. Was war geschehen? Ein furchtbarer Gedanke kam in Jürgen und gleichzeitig in Karin hoch. „Warum hast du so heftig zugeschlagen?“, fragte Karin. „Das wollte ich nicht, ich wollte dir nur helfen“, antwortete Jürgen. „Bin ich nun ein Schläger und werde verfolgt?“, schluchzte Jürgen und drehte sich von Karin weg. „Was machen wir nun bloß?“, fragte Karin. „Ich weiß keinen Rat.“ Jürgen schluchzte weiter: „Ich wollte dich nur sehen und hab mich so gefreut, als du plötzlich beim Flugzeug warst“, sagte Jürgen. „Ich muss nach Hause und weiß nicht, was ich machen soll“, stammelte Jürgen. „Ja, es ist besser so, wir gehen beide nach Hause“, sagte Karin. „Wir treffen uns morgen wieder, genau hier.“ „Ja, das ist gut“, war Jürgens Reaktion und er stand auf, um fortzugehen. „Wir können den Knecht doch nicht so einfach liegen lassen“, kam es verängstigt von Jürgen. „Der wird nicht tot sein, der kann allerhand vertragen“, meinte Karin. Jürgen warf ihr noch einen flüchtigen, ängstlichen Blick zu. „Ich sage zu Hause nichts“, murmelte er, als sollten andere Menschen nicht wissen, was hier geschehen war. „Ich sage auch nichts, es bleibt unser Geheimnis“, flüsterte Karin. Jürgen konnte die Flüstertöne kaum noch hören. Er lief, so schnell er konnte, nach Hause.

***

Jürgens Familie wohnte in der kleinen Vorstadt von Rostock. Die Stadt an der Küste der Ostsee im Nord-Osten Mecklenburgs hatte starke Zerstörungen im Krieg erlitten. Das Zentrum war zerstört, genauso wie die ehemaligen Heinkel-Flugzeugwerke. Jürgens Familie, wie viele andere auch, sind durch die Not der Hinterlassenschaft des Zweiten Weltkrieges gezeichnet worden. Jürgens leiblicher Vater wurde leider vom Krieg verschlungen. Sein Vater suchte als Arbeitsloser 1936 mit seiner Frau, aus Hamburg nach Rostock kommend, Arbeit im neuen Werk. Der Vater war ein tüchtiger Mann und fand in Rostock gleich Arbeit als Elektriker im Flugzeugwerk, das die Wasserflugzeuge baute. Sein Leben in Rostock, nun mit Arbeit, Familienleben und Musik ausgefüllt, mussten beide damals wohl genossen haben. Er spielte auch gerne Violine in einem Stadtorchester. Jürgens Vater galt im Flugzeugwerk als unabkömmlich und brauchte zunächst nicht an die Kriegsfront. Fanatisch, wie viele Deutsche zu dieser Zeit waren, konnte er die Siegesmeldungen im Radio nicht mehr hören und meldete sich freiwillig für die Front. Kaum an der Ostfront angekommen, erwartete ihn schon der Todesschuss. Der Tod des Vaters hatte schlimme Folgen: Not und Armut für Jürgen, seinen Bruder und für seine Mutter. „Wie nun weiter mit den beiden kleinen Jungen?“, lautete ihre ständige Frage, die das Bangen um das tägliche Essen widerspiegelte. Keiner hatte eine Antwort, jeder lebte von Tag zu Tag. Jürgens Bruder war schwerbehindert zur Welt gekommen und sollte sein Leben lang ein Pflegefall bleiben. Jürgen musste viele Hausarbeiten übernehmen und teilte sich mit seinem Bruder das kärgliche Essen und das Bett. Spielen konnten beide nie miteinander.
Vielen Frauen ging es nicht viel anders, nämlich mit ihren Sorgen für den nächsten Morgen tagtäglich fertig zu werden. So begann ein Suchen nach neuen Freundschaften mit Menschen, die sich gegenseitig helfen konnten, denn sie brauchten Mut und suchten in dieser Zeit diesen Weg der Hilfe, des Verstehens der Sorgen des Nachbarn. Die Not brachte alle zueinander und es wurden dauerhafte Gemeinschaften und Freundschaften aufgebaut, die möglicherweise später nicht mehr erklärt werden konnten. Solche Wertegemeinschaften waren durch die gegenseitige Hilfe unter- und zueinander gekennzeichnet.
In der Not der unmittelbaren Nachkriegszeit heiratete Jürgens Mutter erneut. Jürgen bekam einen Stiefvater, der im Krieg seinen linken Arm noch in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges verloren hatte. Der Stiefvater kam scheinbar damit zurecht. Wortkarg und wohl doch zufrieden ging sein Stiefvater mit Jürgens Mutter durch das neue Leben nach dem grausamen Krieg. Wie es im Inneren des Stiefvaters aussah, wusste keiner seiner neuen Freunde. Doch alle hatten so ihre Leiden und Probleme. Jeder wusste vom anderen nur das Wichtigste und wenige Frontsoldaten erzählten über die Zeit vor und im Krieg.
Die Familie Federow wohnte im gleichen Haus wie Jürgens Familie und hatte einen Sohn. Fritz war in Jürgens Alter und wurde Jürgens Spielkamerad. Vater Federow, früher ein hoher SS-Offizier, verbrannte seine Uniform gleich nach Kriegsende mit sonstigen Dingen seiner politischen Laufbahn, bevor die „Russen“ kamen. Alle hatten Angst vor den Sowjetsoldaten, die einfach nur „Russen“ genannt wurden. Einen anderen Begriff hatte die alte Nazipropaganda für die Menschen aus dem Osten, die nun die Befreier und Besetzer der Stadt Rostock waren, nicht hinterlassen. Keiner konnte zu dieser Zeit das gesellschaftliche Joch von früher von dem neuen Joch der Besetzung durch die Sowjetunion unterscheiden.
Rostock war eine Stadt mit hunderttausend Einwohnern vor dem Weltkrieg. Ein großer Teil der Innenstadt mit ihren Häusern und öffentlichen Gebäuden, Kirchen war vernichtet und zerstört worden. Wie ein Wurm zog sich die Spur der Verwüstung durch die Stadt.
An die Nazizeit und das Jubeln für diese Zeit mochte sich keiner mehr erinnern. Aber die älteren Menschen erzählten, wie sie dem Naziführer auf dem Marktplatz begeistert zugejubelt hatten. Eigentlich unbegreiflich, wie fast die ganze Stadt dem Naziführer zujubeln konnte. Wie sind die Menschen damals in die Innenstadt gekommen? Doch, es gab mit dieser Zeit wieder Arbeit und Wohlstand. Die Propagandamaschine trichterte das Deutschtum ein, wir Deutschen sollten etwas sein in der Welt.
Am Stadtrand war die Zerstörung nicht so zu spüren. Die Menschen wohnten in Siedlungshäusern, die aus Holz auf Betonfundamenten und -kellern gebaut waren. Der Siedlungsbau am Stadtrand, immer noch nicht abgeschlossen, fand weit weg vom Zentrum der Stadt Rostock statt, sodass dort ein Eigenleben entwickelt wurde, wo völlig anders gelebt wurde als in der Innenstadt. Denn zur Sicherung der Ernährung mit Grundnahrungsmitteln wurden kleine Sparten, Kleingartenflächen durch Vorstadtverwaltung den Menschen am Stadtrand gegeben, die damit eigenes Obst und Gemüse ernten konnten, ein Segen für viele Familien. Auch die Familie von Jürgen bekam Gartenland gleich am Stadtrand gelegen, genauso wie die Familien Federow, Breuer und Niehaus. So hatte Jürgen seine täglichen Pflichten nicht nur in der Siedlung, sondern auch im Kleingarten und natürlich in der Schule täglich zu erledigen. Die Leidensgeschichten der Mitmenschen, die nun Nachbarn waren und Freunde werden wollten, wollte keiner wissen. Sie kannten sich aus früheren Zeiten nicht und diese spielten auch keine Rolle mehr. So blieb auch Jürgen vieles seiner Schul- und Spielkameraden verborgen. Die Spielkameraden wussten nicht, was Jürgen so täglich zu erledigen hatte, sie wunderten sich nur, dass Jürgen weniger Zeit zum Spielen hatte als seine neuen Freunde.

***

Jürgen kam von seinem dramatischen Erlebnis am Flugzeug erschöpft zu Hause an. Keiner bemerkte sein Zurückkommen. Nur sein Bruder sah seine Erschöpfung und wunderte sich über sein wortkarges Verhalten. Jürgen legte sich neben das Bett, hatte eine alte Decke aus dem Keller mitgenommen und diese über den Kopf gezogen. Seinen Herzschlag spürte er stark und sein Kopf tat weh. Er konnte noch immer keinen klaren Gedanken fassen. Immer wieder sah er den Knecht zusammengesunken im Wald liegen und wusste nicht, ob er vielleicht ein Mörder war. Dass er Karin, die hübsche Bauerstochter, das erste Mal gesehen hatte, rückte in den Hintergrund. Was sollte aus dem Geheimnis werden, das er mit Karin teilte? „Was soll nun aus meinem Leben werden? Können wir das Geheimnis überhaupt geheim halten?“ In diesen Gedanken kreisend, übermannte Jürgen die Müdigkeit und er schlief auf dem Fußboden im Kinderzimmer ein. Sein Bruder hatte nichts dagegen, denn nun durfte er im Gemeinschaftsbett alleine schlafen.
Auch die Eltern schauten nicht mehr ins Kinderzimmer, sie waren zu einer Versammlung der Gartenfreunde gegangen und hatten den beiden Jungen etwas zu essen auf den Tisch gestellt. Jürgen ging nicht mehr in die Küche, um nach Essen zu schauen. Auch mit seinem Bruder hatte er über nichts gesprochen und der fragte nicht, wo er sich so lange aufgehalten hatte. Jürgen musste ohnehin mit seinen täglichen Problemen alleine klar kommen. Das sollte auch in der Zukunft so bleiben.
Die Familie lebte in eine Zukunft hinein, die keiner kannte. Von den Behörden, Verwaltungen, die sich auch erst finden mussten, kam kaum eine Nachricht zu der Grundfrage, wie es weitergehen sollte. Nur in der Nachbarschaft suchte und fand man sich zwangsläufig. Die Nachbarn wurden auch die Gartenfreunde, weil sie alle aus der Not heraus für das tägliche Essen handeln mussten. Man half und achtete sich. Keiner fragte ernsthaft nach der Vergangenheit, jeder schaute in die Zukunft. Die hinterlassene Not des Weltkrieges spürten alle noch heftig, sodass die kommenden Werte im Leben, wie Gemeinschaftsgeist, Sparsamkeit, der tägliche Fleiß und die Werte für das Familienleben tagtäglich an Bedeutung gewannen.

***

Seine Mutter überraschte ihn am nächsten Tag mit der Nachricht, dass sie ein Kind erwartet. Sie und sein Stiefvater sahen glücklich aus. Stiefvater würde nun Vater werden. Das Leben hatte für seinen Stiefvater einen neuen Sinn bekommen. Jürgen hatte bis dahin noch nichts bemerkt. Seine Mutter hatte es ihm unter Freudentränen gesagt.
Es gehörte in dieser Zeit viel Mut dazu, in dieser Notlage Kinder zu bekommen, sie hatten genug Sorgen, wie sie ihre Kinder und sich selbst die nächsten Tage ernähren sollten. Doch gerade deshalb kam Freude auf den Neuankömmling bei Jürgens Mutter und seinem Stiefvater auf. Die Freunde und die Nachbarschaft freuten sich ebenfalls mit ihnen und nahmen Jürgens Mutter viele Erledigungen ab.
Wie sollte Jürgen es nach dieser Nachricht nun fertigbringen, seinen Eltern das Erlebnis beim Flugzeug zu erzählen? Jürgen musste der Mutter seinen Kummer irgendwie nahebringen, er wusste nur nicht wie.
Am nächsten Morgen lief alles wie gewohnt ab. Sein Stiefvater war schon aus dem Haus. Sehr früh ging er tagtäglich zu seiner Arbeitsstätte, früher als er musste. Die Mutter sorgte dafür, dass die Geschwister in die Schule kamen und vorher etwas zu essen bekamen. Natürlich merkte Jürgen, dass sein Abendessen sein Bruder mitverzehrt hatte. Früher hätte Jürgen geschimpft. Doch jetzt hatte er andere Sorgen und blickte nicht auf. Seine Mutter bemerkte seine bedrückte Stimmungslage nicht. Die Kinder gingen zur Schule, die nicht weit weg auf dem Marktplatz der Vorstadt lag. Sein Bruder ging in eine Sonderklasse, die extra für Behinderte und „Sitzenbleiber“ eingerichtet wurde. Es gab zu viele Kinder, die in den Kriegsjahren keine Schule besucht hatten und den ganzen Tag nur Blödsinn anstellten. So waren diese für ein paar Stunden in geordneten Verhältnissen. Die Lehrer älteren Semesters, also zumeist Neulehrer alter Schule, hatten es nicht einfach mit dieser Gruppe von Schülern. Ein Lernziel für diese Klasse mit Sonderschülern gab es nicht, vielleicht nur das Ziel, dass die Jungen und Mädchen eine bestimmte Zeit unter öffentlicher Aufsicht standen.

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