Weg mit Aufenthalten

Weg mit Aufenthalten

Johann Sebastian Steif


EUR 16,90
EUR 10,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 234
ISBN: 978-3-99048-451-7
Erscheinungsdatum: 29.02.2016
Ein außergewöhnlicher Roman in Form innerer Monologe: Zwar geht es um Protagonist Weber, doch wird man nicht nur Zeuge seiner Gedanken, sondern auch von denen anderer Personen - wir tauchen in die verschiedensten Betrachtungsweisen der Wirklichkeit ein.
1

Es schneit. Doktor Weber steht am Gehsteig, blickt nach links, blickt nach rechts, blickt wieder nach links, lässt ein Auto mit einem grau melierten, brillentragenden Mann hinter dem Steuer samt einer sehr alten Dame, die soeben einen nicht abreißen wollenden Monolog hält, als Beifahrerin passieren, überquert die Straße, geht weiter in Richtung Innenstadt.

grau melierter, brillentragender Autofahrer

Von der Zweiten in die Dritte. Nein. Kurve. Konzentration auf die Straße, auf die enge Straße, hoffentlich eine Einbahn, ansonsten könnte jeden Moment ein Problem auftreten, ein Unglück geschehen. Und sie neben mir, die alte Dame, die uralte Tante, die nur zum sonntäglichen Mittagessen aus der dreißig Kilometer entfernten Ortschaft abgeholt, rechtzeitig zum Mittagsschläfchen aber wieder in ihrem einsam-kleinen Häuschen abgeliefert werden muss. Und sie neben mir. Die alte Dame neben mir. Die uralte Tante, die durchgehend spricht, spricht und spricht, die einzig und ausschließlich von sich spricht, von sich und nichts anderem. Tante Hilde besitzt die Gabe jedes Gesprächsthema binnen Sekunden auf sich, auf ihr ureigenes Leben, ummünzen zu können, was durchaus nicht schlimm wäre, führte sie ein tatsächlich aufregendes Leben. Dem ist jedoch leider nicht so. Das macht es zur Qual. Macht das Zuhören zur Qual. Ich höre ihrem Gebrabbel, ihrem Geschwafel, ihrem Gewäsch, ja, ihrem Altweibergewäsch schon seit meinem zwanzigsten Lebensjahr nicht mal mehr einohrig zu, obwohl ich sie durchaus verstehen könnte, ja verstehen könnte, wenn ich wollte. Ich könnte allerdings auch in ihr wettergegerbt-verschrumpeltes Gesicht brüllen: „Jetzt hör endlich auf zu reden! Hör auf zu reden!“
Das könnte ich ihr ins Gesicht schreien. Dazu fühle ich mich stark genug. Aber die Straße, die Kurve, die Einbahn, rechts, gerade noch am Gehsteig, ein Passant, ein Wartender, ein wartender Passant, ein Widerspruch, ein Stehender, Kulisse unter Kulissen aber mit Gedanken, möglicherweise nicht nachvollziehbaren, hoffentlich bleibt er stehen, wartet weiter, wartet bis ich an ihm vorbei und um die Kurve gefahren, hinter der Kurve verschwunden bin, hoffentlich.
Jetzt vom Gas. Auf die Kupplung. Leicht auf die Bremse. Nun hör endlich auf zu reden! Mach dir mal Gedanken über Wichtigeres, über tatsächlich Wichtiges! Siehst du nicht, dass ich fahre? Jetzt reicht’s! Bla. Bla. Bla. Ja, ich verstehe schon. Irgendwie verstehe ich dich ja. Onkel Herbert ist vor zehn Jahren verstorben, du wohnst allein, hast niemanden, der dir zuhört außer deinen Pflanzen, außer Onkel Herberts Briefmarkensammlung samt blauer Mauritius, hast niemanden, der während du erzählst ab und an mit dir Blicke austauscht, niemanden, der an den richtigen Stellen ein „Aso“ in sich hinein murmelt, ja ich verstehe dich doch, gefangen, wie du bist, eingesperrt mit Pflanzen und Briefmarken, die nun mal grundsätzlich keine Blicke austauschen, die bloß unentwegt vor sich hinstarren, die leider auch an den richtigen Stellen kein „Aso“ in sich hinein murmeln. Schade. Vielleicht würden dir mehr Leute zuhören, vielleicht würden wir, deine Verwandten, dich auch öfters, möglicherweise sogar wochentags besuchen kommen, wenn du dich erzähltechnisch auch nur ein wenig zurückhalten würdest oder deine alten, modrigen, unerträglich langweiligen Familiengeschichten zumindest einer Art Vorauswahl unterziehen und bei der Gelegenheit auch gleich die bereits dreimalig erzählten einmal aussortieren, am besten völlig aus deinem Geschichtensortiment entfernen würdest.
Das wäre ein Anfang. So. Einschlagen, einschlagen, ganz vom Gas, die Motorbremse arbeiten lassen. In die Kurve. Halt den Mund! Halt doch deinen saublöden Mund!


einen Monolog haltende, sehr alte Beifahrerin
Tante Hilde

Und in dem roten Haus da drüben wohnt der Doktor Gregor, also nicht der Lungenfacharzt, sondern der Vater, nein, das muss schon der Großvater sein oder der Urgroßvater, bei dem waren wir damals sehr oft, also dein Onkel und ich, aber der is ja jünger als der Onkel Herbert, drei Jahre oder was, der hat’s mit den Hüften, nein, das muss doch der Großvater sein, der sitzt nur zhaus, die Frau is ja schon ewig tot, an der Bauchspeicheldrüse, den Bauspeichelkrebs hat’s ghabt, war immer auch ein sehr lustiger Mann, das hat er gekauft ghabt, das Haus in der Schleizergasse in den Siebzigern irgendwann, jetzt hat er’s verkaufen müssen, ja ich glaub an irgend so einen, ja ich weiß nicht, aber der lasst ihn ja eh drinnen wohnen, also ich glaub zumindest, is aber glaub ich eh angenehm für ihn, er is ja nie viel rausgangen, das hat ihn nie wirklich interessiert, na ja … und der Bruder hat die Pferdezucht, das weißt eh, aber die wachst ihm langsam eh auch schon über den Kopf, da hat der Sohn ja Wirtschaft gmacht, oder macht’s immer noch, der is ja in der Schule zweimal sitzen blieben oder so, ja, der studiert noch, hat glaub ich eh noch die Wohnung in Wien, die von der Tante, von der Kehrbauer Liesl, also von der Kehrbauerseite kommt die, das waren ja immer sehr arbeitsame Menschen, die war mit mir in der Volksschule, damals in Sankt Egyden, mim Martin, mim Herrn Gschwendt, den kennst eh noch vom Onkel Herbert, der von den Zeugen Jehovas, dem geht’s überhaupt ganz schlecht, der dürft halb blind sein, was ich ghört hab, und seine Frau, die eh keiner kennt, die is ja überhaupt …, na ja ich glaub nicht, dass die ihm guttut …


am Gehsteig stehender, nach links, nach rechts, dann wieder nach links blickender, ein Auto passieren lassender, die Straße überquerender, in Richtung Innenstadt gehender
Doktor Weber

Fahr schon vorbei! …
Gut. Über die Straße, auf den Gehsteig in Richtung Bank.

Doktor Weber biegt in eine schmale Seitengasse ein, die direkt in der Kurve in die Fußgängerzone der städtischen Einkaufsstraße abzweigt. Auf halbem Weg durch diese Seitenstraße kommt er an einer jungen Dame in einer violetten Pelzkragenwinterjacke samt den darauf perfekt abgestimmten Schuhen, einen Kinderwagen schiebend, in die ihm entgegengesetzte Richtung gehend, vorbei.

in eine schmale Seitengasse einbiegender, auf halbem Wege in der Seitengasse an einer jungen Dame in einer violetten Pelzkragenwinterjacke samt den darauf perfekt abgestimmten Schuhen, die einen Kinderwagen schiebt, vorbeigehender
Doktor Weber

Ich sollte mir meine Augen wieder anschauen lassen. Vielleicht hat sich erneut eine Dioptrie zu meiner Kurzsichtigkeit dazugesellt. Das kann leicht sein. Eine Frau kommt näher, wird menschlich, aus der farbigen Silhouette entsteht ein Mensch aus Fleisch und Blut, der etwas vor sich herschiebt, der einen Kinderwagen vor sich herschiebt. Auf etwa dreißig Jahre würde ich die Dame schätzen, die mir im Kleid des neuesten, modischen Trends mit dazu passenden Schuhen, jedoch auch mit einem so ganz und gar nicht zu ihrem Aussehen, ganz und gar nicht zu ihrem Kleid, so ganz und gar nicht zu ihren Schuhen passen wollenden Kinderwagen samt friedlich vor sich hin schlummerndem Kleinkind, entgegen geschlendert kommt. Vollkommen auf sich selbst konzentriert, ihr Kind im Kinderwagen vor sich herschiebend, kommt mir die etwa dreißigjährige Frau, wahrscheinlich im Glauben an ihre tatsächliche kind-, also abkömmlingsbedingte Unsterblichkeit gefestigt, entgegen. Sie eilt, so kommt es mir vor, ihren Blick eisern-unausweichlich ans Ende der Gasse geheftet, ihrem ewigen Leben, beziehungsweise dem ihr scheinbar unsichtbaren lebenslänglichen Tod entgegen, der Fortsetzung ihres Lebens im Leben ihres Kindes, ihrem Glauben daran, ihr Kind würde ebenfalls der Versuchung erliegen weitere Nachkommen oder im besten Falle nur einen einzigen, aber dafür männlichen Nachkommen in die Welt zu setzen. Allerdings eine traurige Existenz, sollte das schon alles sein, alles, an dem ihr Leben hängt, wenn es sich dabei um den einzigen Sinn ihres Lebens handelt, wenn das den einzigen Hoffnungsschimmer in ihrem langsam aber stetig vor sich hinsterbenden Leben darstellen sollte. Gewiss geht sie in ihrem Beruf auf, ja mit unumstößlicher Sicherheit ist ihr berufliches Leben ihr wirkliches Leben, Familie und Kind jedoch zumindest ebenso gewiss ihr zweites, dem ersten wahrscheinlich um nichts nachstehendes, Leben. Ihr Kind scheint sich nicht zu interessieren, für seine Umgebung nicht zu interessieren, keineswegs, ja ganz und gar nicht, noch nicht einmal ansatzweise zu interessieren. Die Welt wegschlummernd liegt das Kind bewegungslos im Kinderwagen. Nur der Umstand, ein Kind ihr Eigen nennen zu können, scheint für die Dame von Belang. Für sie persönlich Sinn gebend wichtig. Erbarmungswürdig. Ekelhaft.

junge, einen Kinderwagen schiebende, violette Pelzkragenwinterjacke samt perfekt darauf abgestimmten Schuhen tragende, Dame

Hoffentlich wacht der Kleine auf, sobald ich ihn aus dem Kinderwagen heraus- und in den Kindersitz hineinhebe, sonst schläft er heute Nacht wieder nicht, beziehungsweise zu wenig und wenn, dann nur höchst unruhig. Gut. Erstens: zum Auto. Zweitens: bei Caro den Blumenstock abholen. Drittens: einkaufen. Oder? Nein. Moment! Babybrei ist noch ausreichend vorhanden, zwar der mit Karotte, den der Kleine nicht so gerne mag, aber auch der muss einmal aufgegessen werden, Klopapier ist auch noch im Keller eingelagert. Tja. Also, nein. Der Einkauf wird gestrichen. Drittens, drittens, ja drittens. Nun gut. Drittens: Abendessen kochen. Lebensmittel sind genügend vorhanden. Brot wird aufgebacken, dann kommt Martin eh schon heim. Heute ist er an der Reihe den Kleinen schlafen zu legen, auch den Baby-Nachtdienst, die von uns sogenannte Babynachtwache, zu halten. Dann wird das Konzept noch einmal überarbeitet, damit morgen alles perfekt läuft, wie geplant ablaufen kann. Die nächste Woche bleibt der Martin zu Hause, um auf den Kleinen aufzupassen. Ja, nächste Woche. Die nächste Woche. Wenn die nächste Woche tatsächlich so laufen sollte, wie ich sie mir vorstelle, wie von mir ausgemalt, steht einer Gehaltserhöhung nichts mehr im Wege. Zwei Wochen Urlaub im Fünfsternehotel.

Kleinkind


An der Frau mit ihrem Kinderwagen vorbei geht Doktor Weber weiter durch die schmale Gasse in Richtung der städtischen Einkaufsstraße.

durch die schmale Gasse in Richtung städtischer Einkaufsstraße gehender Doktor Weber

Jetzt Geld abheben. Das bedeutet abbiegen, mich einordnen, mich in den Tross einordnen, in den Tross der freitagmorgendlichen, durch und durch pensionierten Bevölkerung einordnen, mich von der Menge treiben lassen, die Beton-Rollstuhlrampe empor, oben angekommen, rechts am in die Wand eingelassenen Bankomaten vorbei, durch den mit automatisch öffnenden Türen versehenen Eingang hindurch, hinein in die Bank. Geld abheben, Kontobelege ausdrucken. Dann Kaffee.

Doktor Weber biegt in die Einkaufsstraße ein, stößt dabei beinahe mit einem kleinen Mädchen in einer übergroßen, roten Daunenjacke, mit rund-naivem Mondgesicht, blonden Haaren, grünen Augen zusammen, welches seiner Mutter vorausgerannt war, das nach dem Beinahe-Zusammenstoß wie angewurzelt stehen bleibt, dem sie um eineinhalb Kleinmädchenkörpergrößen überragenden Doktor Weber nachblickend. Eine alte, feine Dame in brauner Jacke, braunen Lederhandschuhen sowie einer grauen Mütze kommt Doktor Weber entgegen, er geht an ihr vorbei, ordnet sich zwischen einer offensichtlich obdachlosen Frau mittleren Alters, die in alten, ja allerältesten Winterkleidern steckt, die zusätzlich mindestens drei Zahnlücken ihr Eigen nennen kann sowie einem untersetzten, kahlköpfigen Anzugträger mit schwarzer Aktentasche ein, geht die Beton-Rollstuhlrampe empor. Auf der ihm gegenüberliegenden Seite der Fußgängerzone befindet sich ein altes, wortlos-stilles Paar, er im langen, braunen Wintermantel, sie in grauem Pelzmantel, er mit Brille und schütter-weißem Haar, sie ohne Brille und pechschwarz von geschmolzenen Schneeflocken glänzender Pelzmütze, vor einer Reisebüroauslage. Drei Schüler, zwei davon männlich, einer links, einer rechts, in der Mitte eine weibliche, der eine Schüler groß, schlank, sportlich im perfekt abgestimmten Abercrombie & Fitch-Winteroutfit, der andere in schwarzer, äußerst auftragender Daunenjacke und Jeans, die Schülerin in weinrot-grau-karierter Jacke, grauen, eng anliegenden Leggins, zertretenen Converse und einer grauen Strickhaube, gehen nebeneinander an ihnen vorbei.
Am Fuße der Beton-Rollstuhlrampe steht eine Holzbank, auf dieser sitzt ein Mann in joggingaufmachungsgerecht-grüner Winterjacke um die vierzig mit einem etwa fünfjährigen Jungen in gelber Mütze, blau-gelber Jacke samt dazu passender Skihose. Beide naschen Braterdäpfel aus einer Tüte, die der etwa vierzigjährige Mann in der Hand hält. Der etwa fünfjährige Junge macht während dem Essen Flugzeuggeräusche nach. Doktor Weber biegt unterdessen am Ende und also am Höhepunkt der Beton-Rollstuhlrampe rechts in die Gemäuer des städtischen Bankgebäudes ein, am Außenbankomaten vorbei, durch die elektronisch-automatisch öffnenden Glastüren hindurch.

kleines, vor Doktor Weber haltendes, auch nach dessen Weitergehen an derselben Stelle stehen bleibendes Mädchen in übergroßer, roter Daunenjacke, mit rund-naivem Mondgesicht, blonden Haaren, grünen Augen

Maroni. Heiß-weiche Maroni. So wie letztes Mal, wo Papa mir die Maroni gekauft hat, obwohl Mama das nicht wollte. Mama wollte heim. Aber jetzt habe ich die zwei Euro-Münze schon in der Hand. Mama hat sie mir gegeben, sie hat gesagt: Kauf dir welche! Ich schau da nur kurz hinein. In die Trafik. Ich weiß genau, dass sie sich dort drinnen Zigaretten kauft, die unglaublich stinken. Ein großer Mann! Beinahe wäre er mit mir zusammengestoßen. Glücklicherweise ist er stehen geblieben. Am besten, ich bleibe ebenfalls stehen, rühre mich nicht vom Fleck. Nun geht er weiter. Wo muss er hin? Was geht in ihm vor? Weshalb passt er nicht besser auf?
obdachlose Frau mittleren Alters, die in alten, ja allerältesten Winterkleidern steckt, die zusätzlich mindestens drei Zahnlücken ihr Eigen nennt, vor der sich Doktor Weber einordnet

Die sonst so triste Stadtlandschaft wird vom frischen Schnee weiß gezaubert, weiß wie ein Blatt Papier, ein unbeschriebenes, genau wie ein weißes, unbeschriebenes Blatt Papier bietet auch die weiße Landschaft, die weiße Stadt, die weiße Umgebung einen Hauch von Hoffnung, einen naiven Glanz der Reinheit, den leicht angedeuteten Schimmer des scheinbar noch Möglichen, des tatsächlich noch Machbaren. Ja, des Machbaren. Die Welt steht einem offen, immer steht einem die Welt offen, immer. Ja, die ganze Welt steht einem immer weit offen. Die ganze Welt. Immer offen. Weit. Wahrscheinlich jedoch zu weit, dadurch auf die unübersichtlichste Weise offen, so weit offen, dass sie einen höchstwahrscheinlich bald erschlagen wird. Davor war die Welt geschlossen, eine für mich abgeschlossene in alle Richtungen, eine in alle Richtungen versperrte gewesen. Jetzt, da die Welt sich mir wirklich erschlossen, aufgeschlossen, geöffnet hat, ja jetzt, da die ganze weite Welt sich tagtäglich vor mir ausbreitet, sich in voller Glorie vor mir in ihrer grässlichen Ausstrahlung alles Machbaren Tag für Tag neu erstreckt, ja, was fange ich nun damit an, was stelle ich mit dieser Welt an? Kann nichts tun, bin nur noch mehr gefangen, auf noch engerem Raum eingesperrt, dazu gezwungen auf die eine oder andere Art zu verhungern. Früher war mir dieses Gefühl fremd, mir das abwegigste aller Gefühle gewesen. Damals. Vor langer Zeit, bis es dann geschah, bis ich schließlich in dieser gewiss gewissen Ungewissheit gefangen, gefesselt, geknebelt wurde. Wenn einem die Welt auf diese Weise offen steht, man alles anfangen kann, doch nichts anfängt oder aber das Falsche anfängt, dann ist genau das das Dilemma. Immer diese drei Möglichkeiten des Machbaren: das Richtige, das Falsche oder das Nichts. Einzig das Richtige bringt einen weiter, lässt einen sein altes Leben behalten, beziehungsweise die Silhouette des alten Lebens, füllt diese aber mit neuen, angenehmen, persönlich angenehmen neuen Einzelheiten und Details auf, das Falsche zerstört das alte Leben unwiderruflich, entleert das alte Leben, füllt dessen Silhouette jedoch mit nichts oder bloß mit Schlechtem wieder auf, das Nichtsmachen behält die ganze Existenz auf demselben Niveau, bloß eine gewisse Zeit lang, zerstört diese somit über einen längeren Zeitraum hinweg, zerstört sie restlos. Hoffnung wird vom Schnee immer nur auf den ersten Blick ausgestrahlt, auf den zweiten, dritten, vierten sieht die Sache völlig anders aus, gänzlich unterschiedlich, dann wirkt die weiß bedeckte Umgebung höchstens refugitiv, wirft einen auf sich selbst zurück, macht die so weit offene Welt umgehend um so vieles enger, schließt sie vor einem zu, lässt einen allein in der weiß-kargen Kälte zurück, lässt diese Straße, diese Stadt, dieses Land, diesen Kontinent, alle Kontinente, diese Welt auf ein Kleinstes zusammenschrumpfen, aufs Kleinste, aufs Engste schrumpfen, bis sich alles einzig und allein auf sich selbst bezieht, lässt sogar alles Verbliebene noch schrumpfen, bis sich alles, tatsächlich alles auf einen selbst, bis sich alles bloß noch auf mich bezieht, bis meine Gedanken die ganze Welt einnehmen, ja vielleicht noch mehr, vielleicht auch die gesamte erforschte und unerforschte Gegend darüber hinaus für sich beanspruchen. Ich kenne diesen Gedankengang, ich kenne ihn nur zu gut, ich kenne seine Auswirkungen, er wirkt aufbauend, ermunternd, angenehm, zeigt einem die absolute Unwichtigkeit dieses riesigen Schauspiels, welches sich Tag und Jahr auf diesem Planeten abspielt, ununterbrochen, ewig fortwährend abspielt, immer wieder und immer wieder auf exakt dieselbe Art und Weise. Wie unwichtig. Wie ernüchternd. Wie unwichtig alles scheint, wie unwichtig man selbst. Wie gut das tut. Beim Anblick des zentimeterhoch liegenden Schnees drängt sich mir genau dasselbe Gefühl auf, beim Anblick des Schnees, der einfach alles bedeckt, wirklich alles bedeckt, zudeckt, trotz seiner eigenen Kälte und der Kälte der Jahreszeit, dadurch selbstverständlich und trotzdem ein Gefühl, das Gefühl der fest um einen gewickelten Daunendecke vermittelt. Früher bin ich diesem Gefühl sehr wohl nachgehangen, oft über mehrere Stunden hinweg hing ich diesem Gefühl hinterher, ließ mich von diesem Gefühl zu Abertausenden absurd-naiv-träumerisch-schwärmerischen Gedankengängen verführen, ja verleiten. Heute verhält sich die Sache anders, obwohl es sich immer noch um dasselbe Gefühl handelt, dasselbe Gefühl, welches beim Anblick einer schneebedeckten Umgebung auftritt, mich weiterführt, weiter bis zu eben jenen Gedankengängen, die damals in meinem Kopf herumschwirrten, jedoch verhält es sich im Großen und Ganzen unterschiedlich, denn ab einem gewissen Punkt (dabei handelt es sich immer um ein und denselben Punkt in ungefähr demselben trockenen Gedankenumfeld) bricht diese Gedankenkette ab, unwiderruflich bricht sie immer wieder an demselben Punkt ab, lässt mich nicht weiter fantasieren, hält mich zurück, kritisiert stillschweigend meine erbärmlich kleine Existenz. Mein Blick richtet sich erneut auf die ringsum befindliche Wirklichkeit, sowohl auf die schrecklich-düster-graue Wirklichkeit dieser Straße, dieser Stadt, dieses Landes, dieses Kontinents, dieser Welt als auch auf mich selbst als schrecklich-düster-graue Existenz. Ja, diese Zeit davor, die Zeit vorher, diese Zeit war so vollkommen konträr zu der jetzigen Zeit, dem Zustand, in dem ich mich soeben befinde, absolut entgegengesetzt. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die schneebedeckten Antlitze meiner Heimatstadt, meiner Heimatumgebung, die immer der Anlass zu kindlich-schwärmend-naiv-absurden Gedankengängen waren, ein wichtiger Teil meines Lebens. Damals. Bevor es dann geschehen war, konnte ich jeden Tag in Gedankenwelten, in gedankliche Traumwelten flüchten, beziehungsweise konnte ich es mir damals noch leisten in diese zu flüchten, stündlich einmal in meine abstrusen Gedankenwelten flüchten, minütlich einmal in meine Traumwelten flüchten. Das geht heute nicht mehr, ist auch jetzt und hier beim Anblick dieser schneebedeckten Innenstadt vollkommen ausgeschlossen, sozusagen ein Ding der Unmöglichkeit. Ich kann mir keine Zigaretten leisten.

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