Melodien des Lebens

Melodien des Lebens

Besinnliche bis heitere kurze Erzählungen

Stefan Pinter


EUR 16,90
EUR 13,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 108
ISBN: 978-3-99131-605-3
Erscheinungsdatum: 31.10.2022
Nicht erkaltet sind unsere Gefühle. Sie verstecken sich in ihrer ambivalenten Vielfalt in den scheinbar unbedeutenden Ereignissen des Lebens. Eine bunte Vielfalt von Erzählungen, Reflexionen, Satiren, Sinnsprüchen und lyrischen Betrachtungen berichtet davon.
Das Gesicht der Kunst

Ist es echt, oder nur dargestellt?
Ist es Wahrheit oder Fantasie?
Die Menschen versuchen, es zu ergründen,
versuchen, in diesem Gesicht zu lesen.
Und manchmal kommen sie dir auf die Schliche,
kommen bedrohlich nahe der Wahrheit.

Deshalb wandelst du es immer wieder, dieses Gesicht.
Du bist ihnen immer um eine Nasenlänge voraus,
ihrem Denken, ihrem Verstehen und ihrem
Verstehenwollen.

Du zeigst ihnen ein lachendes, ein weinendes,
ein trauriges, ein emotionsloses Gesicht.
Und manchmal ist es sogar echt.



Das Begräbnis

Von überall, aus der Hotelanlage kamen sie dahergeströmt, die Kinder. Die helle Stimme meiner Schwester hatte sie angelockt. Grausam, wenn eine Vogelmutter ihr Junges, weil es kleiner und schwächer ist als die anderen, verhungern ließ und jetzt aus dem Nest warf, direkt vor den Balkonen der Urlauber. „Schau, schnell …“ Und wie schnell die Kinder kamen.

Nackt und bloß lag es da, das Vogeljunge, auf den weißen Marmorfliesen. Manche versuchten, es zu berühren, herumzudrehen, redeten leise, aber keines benahm sich auffällig. Die Natur hatte sie vereint.

Ich nahm dann eine Plastikschaufel, mit der sonst die Kinder Sandburgen bauen, und trug darauf das Junge über den feucht gesprengten grünen Rasen zu einer Blumenreihe neben der Gartenmauer. Dort begrub ich es. Die Kinder standen daneben, friedlich, redeten leise. Sie legten ihm ein Blütenblatt vom rosa blühenden Oleander auf sein Grab.

Kinder. Dann gingen sie wieder zurück in ihr Nest.



Der Becher des Lebens

„Du hast was?“
„Du hast den Becher des Lebens getrunken?“
„Ja, ich hatte Durst.“
„Sag mal, du spinnst wohl. Der Becher des Lebens ist doch nicht zum Trinken da!“
„Wozu denn dann?“
„Na ja. Zum Aufbewahren, Herzeigen. Als Pfand für das, was man dafür geliehen bekommt. Zum Beschützen und Festhalten, um mehr daraus zu machen. Aber doch nicht zum Trinken.“
„Ich hatte Durst.“
„Aber jetzt ist er leer, dein Becher. Dein Leben ist vorbei.“
„Aber ich lebe doch. Sieh her! Ich lebe!“
„Aber nicht mehr lange, wirst schon sehen!“
„Ich hätte auch nicht länger gelebt, hätte ich den Becher noch.“
„Du hättest aber etwas vorzuweisen. Einen vollen Becher. Dein Leben. Aber wie stehst du jetzt da? Wie ein Gieriger, der nicht einmal sein Leben in einem Becher bewahren kann.“

… so und so ähnlich sprechen sie zu mir, die Menschen, die vorgeben, es gut mit mir zu meinen.

Dann aber kommt jemand – er gehört zu den wenigen, die anders sind – und sagt frei heraus: „Es stimmt ja gar nicht, was man dir da nachsagt. Du hast ihn gar nicht selber ausgetrunken. Jemand anderer hat deinen Becher getrunken.“
Du hast ihn ihm gegeben, weil du ihn liebtest und weil er ihn brauchte. Jetzt deckst du ihn und ziehst auch noch den Spott und die Verachtung für den leeren Becher auf dich.
„Du bist ein kluges Kind“, antworte ich ihm. Oder besser noch: Sensibel genug, um das zu erkennen und zu verstehen. Und sensibel genug, um nicht weiter in mir zu bohren. Ein anderer läuft mit meinem Becher herum. Einmal wird er nicht stehen wie eine Vase auf meinem Grab, mein Becher, voll und trotzdem nutzlos, er wird leben, irgendwo, bei einem anderen Menschen, dem ich ihn gab, weil ich ihn liebte.



Der Ausbruch des Vesuvs

Geht es rasch – so wie damals vor einigen hundert Jahren – bleibt alles, so wie es war. Für Archäologen ein gefundenes Fressen: Menschen am Küchentisch sitzend, im Bett schlafend, Kinder im Unterricht, Vieh im Stall. So, wie sie waren, wurden sie überrascht, konserviert in glühender Lavaflugasche.

Heute brach der Stöckel eines Frauenschuhs. Auf der Reichsbrücke passierte das, unweit der Bootsanlegestelle. So wie er war, nach dem Bruch, quasi den letzten Schritt seiner Trägerin konservierend, blieb er dort auf dem Gehweg liegen, auf der Brücke unweit der Bootsanlegestelle.

Kein Vulkan hatte sie überrascht, die Frau, nur die Hektik unserer Zeit.



Die Litfaßsäule

Ich lehnte an einer sich drehenden Litfaßsäule, einfach nur, um das Gefühl kennen zu lernen, wie es ist, sich an eine, sich drehende, Litfaßsäule zu lehnen. Die Leute – so sagen die Werbeleute – sollen mehr sehen können, wenn die Litfaßsäule sich dreht.
Und das taten sie auch.



Die Kernseife

Die G-Saite eines Klaviers verwendet man, um sie zu schneiden. Weil diese Saite stark und geschmeidig ist und die Spannung verträgt, die gebraucht wird, um die biologisch, ohne Erhitzen angefertigte Kernseife durchzuschneiden. Mehrere G-Saiten sind dazu nebeneinander gespannt.

Ist der große Kernseifenteil komplett durchgezogen, erklingt ein melodisches, leicht seifengedämpftes, helles G. Vielleicht deshalb die Bezeichnung: Seifenoper.



Kopflos

Seinen Kopf zur Seite gelegt hatte ein junger Mann, so schien es jedenfalls. Es war der Kopf seiner Freundin, auf seinem Schoß. Den seinen, auf der Seite liegend zurückgebogen, sah man nicht. So wirkte es eben, als ob er ihn zur Seite gelegt hätte.

Vielleicht tut man das auch, wenn man verliebt ist.



Die B-Seite der CD

Früher gab es sie, auf den Singles, den 45-igern für Plattenspieler. Ein großer Hit war drauf, auf der A-Seite. Das, was sich verkaufen ließ. Das aber, was der Künstler kreativ entworfen, gerne unters Volk gebracht, sich aber dafür geniert hatte, es deshalb vielleicht nicht so ausfeilte und verfeinerte, das, was er meinte, was nicht für die Allgemeinheit bestimmt sei, das gab er auf die B-Seite.

Dafür verlangte er auch nicht extra einen Preis. Urtümlichkeit, Natürlichkeit, abseits vom Mainstream. A- und B-Seite. In und out.

Bonus Track, heißt es jetzt. Sie probieren’s wieder, die Kreativen. Sie probieren’s wieder, Urtümlichkeit, Natürlichkeit unters Volk zu bringen. Da kauft man was Marktschreierisches und hat im Körberl Einfachheit, etwas, was man nicht vermutete.

Sieht er so hungrig aus, der moderne Käufer, so sehnsuchtsvoll, gierend nach Urtümlichkeit? Schiebt er die A-Seite nur vor, weil er nicht weiß, wie er ihn formulieren soll, seinen Wunsch nach der B-Seite, und sich deshalb nur des Klischees der A-Seite bedient?

Die A-Verkäufer wachen darüber, dass Autor und Konsument streng getrennt bleiben, nur über Klischee miteinander kommunizieren. Die B-Seite schafft plötzlich Nähe und Intimität. Trotz Marktwirtschaft und Kapitalismus.



Die Erotik des „L“

Was wäre Mode ohne das „L“? Verleiht es doch der Leere Empfindung, dem toten Stoff Leben.

Vor den Fassaden alter Häuser, in einer Pariser Seitengasse, im kitschigen graublauem Rock mit Rüschenabschluss, der aussieht, als ob der Unterrock vorstünde. Und hässliche durchsichtige Nylon Kniestrümpfe mit Bündchen. Kitschige rosafarbene spitze Schuhe. Zuckerlrosa Pulli, übervoll mit Pommeln besetzt. Eine Perlenkette, nicht um den Hals, sondern ums Handgelenk gewickelt. „Coco Chanel“ betitelt. Hinweis auf ihre Entstehung.
Jede „normale“ Frau würde man fragen, welchem Altkleidercontainer sie das entnommen. Die Coco-Chanel-Gekleidete nicht. Sie wirkt sogar hübscher als vorhin im modernen Look.

Diesen Vorgang nenne ich „die Erotik des L“. Der Buchstabe L. Fügt man ihn nämlich zum an und für sich nüchternen Wort Mode hinzu, ergibt sich der gleiche Effekt.



Der Pfiff

Sie pfiff nach mir, dort im Birkenhain. Eine tiefe Schneise hatte man hinein geholzt. Ein neuer Weg, schlammig, Raupen-, Bagger- und Lastwagenspuren, schmutziger Schnee, kaum getauter Boden.

Sie, in lockerer Leinenhose mit aufgesetzten Taschen, einem Rucksäckchen auf dem Rücken. Vorauslaufend der Hund. Natürlich pfiff sie nach ihm, nicht nach mir, der ich mich – im frühlingshaften Joggerwahn – zwischen sie geschoben hatte.

Aber sie pfiff gut. So gut, dass er gepasst hätte, der Pfiff, für mich, und dass ich mich dieser Illusion hingeben konnte.



Wunschkennzeichen

„1Leben“, auf seinem Auto. Sein Wunschkennzeichen. Ob er es sich gewünscht hat, sein Leben? Er weiß es nicht. Aber er wünscht, dass es ein Leben ist, und dass es jeder sieht, so wie jetzt sein Wunschkennzeichen.
„1Leben“ wird bestraft. Man lächelt darüber. Man ärgert sich, wenn es einem die Vorfahrt raubt. Man lobt die kreative Idee dahinter.
„1Leben“ ist unterwegs. Zu schnell, zu oberflächlich, zu vorsichtig. Es wird wahrgenommen, aber nur von jenen, die gerade in seiner Nähe sind.

„1Leben“. In diesem halbrunden Ding aus Blech, dem wir viel zu viel Bedeutung geben, zuviel Sinn, zuviel Aufmerksamkeit, obwohl sein Inhalt das Wertvollste ist: ein Leben.



Venedig retten

Mit Gummistiefel und Regenschutz in Venedig. Wasser von oben und Wasser von unten. In den Seitengassen sieht man Maurer bei der Arbeit. Ich kann mir vorstellen, dass es Mühe macht, das Mauerwerk trocken zu halten. Schönheit, Außergewöhnlichkeit nur für die Touristen.

Der Kaffee ist klein und schwarz. In den Kanälen schwimmen Plastikflaschen und Styropor. Von der Adriaseite schwappen die Wellen über die Gehsteige. Auf kleinen Seitenwegen gibt es oft kein Durchkommen. Nasse Füße und grell beleuchtetes Muranoglas. Geschäfte mit Masken vor der Tür.

Ich habe zwei rote Rosen aus Muranoglas für dich gekauft. Rot, weil du so auf Farben stehst. Daraus Empfindungen und die Zukunft herauszulesen glaubst. Rot wie …

Alles ruht auf morschen Pfeilern, wie Venedig. Schön anzusehen. Feuchte Mauern, schwer, darin zu wohnen. Man sehnt sich nach Trockenheit und festem Boden unter den Füßen.

Ob du dich darüber freust, über mein Souvenir. Verbinde ich damit Absichten? Möchte ich Venedig retten?

Über Stege gehen, auf Gassen und Plätzen, und wissen, dass darunter Wasser ist, Schlamm und Schlick und Pfeiler. Pfeiler, unsichtbar und doch bedeutungsvoll, hässlich und modrig. Das beachten, was oben ist, aber nicht das, worauf es ruht.

In einer Ecke hat man Kisten aufgestapelt, alten Salat, Gemüseabfälle, die darauf warten, abtransportiert zu werden. Das Leben geht seinen Weg. Austausch und Weitergabe, damit Neues nachkommen kann. Möchte ich dich auswechseln? Noch nicht. Du bist es wert.



Ein Stern

Ein Flugzeug hat einen Stern verloren, am nächtlichen Himmel, als es vorüberflog, hell erleuchtet, mit blinkenden Lichtern. Der Stern ist zurückgeblieben, funkelnd, weit entfernt.



Die Frage nach dem Weg

Nicht bloß einmal ist es mir passiert, dass ich jemandem Auskunft geben sollte, der meinte ich wäre kompetent, ich wüsste den Weg. Dabei war ich erst gerade angekommen und genauso fremd wie er.

Zum ersten Mal las ich, genauso wie er, bloß im Vorübergehen mir unbekannte Straßennamen. Trotzdem antwortete ich entschlossen und kompetent klingend. Und er, der fragende Fremde, fühlte sich gut beraten. Vielleicht ist es mein Äußeres, das mich so kompetent erscheinen lässt. Ob er mir wohl jede Antwort abgenommen hätte?

Jedenfalls schritt er, durch meine Antwort mutig und gestärkt, in jene Richtung, die ich ihm gewiesen hatte, und bog um die Ecke, um kurze Zeit später freudestrahlend zurückzukehren. Mir zuwinkend bedankte er sich überschwänglich, denn meine Antwort hatte ihn auf den richtigen Weg geführt.



Wo waren sie?

„Die erste Halbzeit“, resümierte der Trainer nach dem Spiel, „waren sie gar nicht da.“ „Wo waren sie dann“, frage ich mich. Fußballer, können die so perfekt Körper und Geist trennen? Wo waren sie gedanklich, in der ersten Halbzeit?

Als Zuschauer glaubt man ja gerne die Mär von Ehre, Sportsgeist, Siegeswille und Hunger nach Erfolg. Was aber bekommt man zu sehen? Abgestumpfte, müde wirkende, überforderte Halb- oder Vollprofis, die einfach nicht mehr jedes Spiel ernst nehmen, nicht überall voll dabei sein können.

Warum denn ärgert man sich darüber und gibt den Spielern die Schuld und nicht den Verantwortlichen, den Veranstaltern, den Funktionären und Sponsoren, die alle nur das eine wollen: immer mehr!



Fühl dich ganz wie zu Hause

Diese Worte sage ich zu dir, in deiner Wohnung. Du lächelst, fast lachst du. Aber ich meine das ernst. Ich drücke damit aus, was ich fühle, wenn jemand zu mir nach Hause kommt. Dann empfinde ich Beengtheit. Ein anderes Gefühl ist das, als wenn ich allein zu Hause bin. Und damit ist es ein anderes Zuhause für mich. Und diese, meine Befangenheit, verunsichert meine Besucher.

Und weil ich dir ein ähnliches Empfinden unterstelle, möchte ich die so entstehende Spannung vorweg auflösen. Dir sagen, dass du dich wie sonst benehmen sollst, so wie wenn ich nicht da wäre.

Vielleicht kann ich sogar erkennen, dass du das schaffst und mir ein Vorbild darin bist. Vielleicht habe ich unbewusst dieses Problem humorvoll angesprochen, weil anders zu sagen ich es mich nicht getraut habe. Es soll ja locker sein, unser Zusammensein, nicht angespannt.
Ich möchte dich erleben, so wie du bist, in deinem Zuhause.



Tief „Frederik“

Wir frieren das Alphabet durch. Jetzt sind wir erst beim „F“.



Die Lichthupe

Gibt es eigentlich soetwas wie die Lichthupe für Fußgänger?
In einer Röhre fahre ich eine Rolltreppe hinab zur U-Bahn. Menschen kommen mir auf der emporführenden entgegen, nichts ahnend, dass sich oben, beim Ausgang zur Passage, Fahrscheinkontrolleure postiert haben. Eine begehbare Treppe oder eine sonstige Möglichkeit zur Flucht gibt es nicht. Sie fahren dahin ohne zu wissen, was oben auf sie wartet.

Mit einer Taschenlampe könnte ich sie kurz anblinken, oder ein anderes lichterzeugendes Accessoire, ein Smartphone verwenden, was aber höchstwahrscheinlich missverstanden würde. Und missverstanden würde erst recht ein Augenzwinkern.

Einfach reden, eine Warnung hinüberrufen, wäre neu. Ein unbekanntes Verhalten wäre das und würde deshalb nicht ernst genommen.
Ich überlege, aber nichts ändert sich. Immer mehr Menschen fahren uninformiert durch meine Unentschlossenheit vorüber, nichtsahnend ihrem Schicksal entgegen.

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