Liebe, wo bist du?

Liebe, wo bist du?

Wilhelm Barbara



Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 64
ISBN: 978-3-95840-948-4
Erscheinungsdatum: 26.11.2019
Theo, geboren in der Nachkriegszeit als zweiter Sohn, wird von seinem Vater bereits bei der Geburt verhasst. Sein Leben - gezeichnet von Angst, fehlender Zuneigung und Anerkennung und doch so viel Hingabe und Hilfsbereitschaft - erzählt in Form von Gedichten.
Geburt

Die Hebamme hielt eine vier Kilogramm schwere Masse
in der Hand, ganz blutig und blau in farblichem Ton.
Legte die Masse an die Brust der Mutter und raunte:
„Da hast du deinen zweiten Sohn.“
Enttäuscht schaute der Vater, der eine Tochter wollte,
sodass er seinem zweiten Sohn keine Beachtung zollte.
„Nicht lebensfähig“, sagte die Hebamme mit fester Stimme, und dass er vor seinem Ableben noch getauft werden muss, sonst käme er nicht in den Himmel.
Es war die Karwoche 1937, ein Tag, bevor die Liturgie am Grün-Donnerstag beginnt, die Amme erbot sich, den Pfarrer um Hilfe zu bitten und holte ihn ganz, ganz geschwind.
Die unförmige Masse, „Not getauft, komme nun in den Himmel hinauf“, sagte der Pfarrer und versagte sich ein weiteres Gejammer.
Denn die Gebärende und die Hebamme hatten verweinte Augen, er verabschiedete sich, „dass man es so hinnehmen muss, wie es Gott gewollt, ihm trotzdem alle Ehrfurcht zollt.“
Theo wurde das Kind genannt, nicht Adolf oder Hermann, oder wie sonst eine Nazigröße, „Nein, Theo“, betonte die Mutter, „wir wollen kein Parteiengetöse.“
Das Osterfest konnte gefeiert werden, Theo war nicht gestorben, das Erste, was der Junge in seinem Leben schaffte, er hatte seinem Vater die Laune verdorben.
An seiner Mutterbrust sich Theo schmatzend vergnügte, grunzte zufrieden und laut,
wurde ein ansehnlicher Knabe mit starkem Knochenbau.
Etwas zu dick ist er dennoch geblieben, hatte O-Beine, verursacht von seinem Gewicht, der Kopf war kantig und groß, auf dem Rumpf war kein Genick.
Ganz nebenbei sei bemerkt, sein Vater hat ihn nie bestärkt.

***

Kindergarten

Plötzlich war Theo zwei Jahre alt,
sein Bruder schleppte ihn täglich in die Kinderbewahranstalt. Da wollte er ganz und gar nicht hin,
denn ruhig sitzen zu bleiben, kam ihm nicht in den Sinn.
Ein Kämpfer wurde Theo,
lernte sich zu behaupten, war unverdrossen,
sein Vater hatte ihn schon mehrmals verdroschen.
Die ständige Abneigung setzte sich in Theo fest,
sein Trotz ließ ihn frühzeitig erkennen: „Und nun erst Recht.“
Böse Träume suchten in nachts heim, er wurde wach,
hatte Angst zu ertrinken und dabei ins Bett gemacht.
Das hielt bis zum sechsten Lebensjahr an, war gar nicht gut, denn er spürte nicht nur des Vaters, auch der Mutters Wut.

***

Schule

Zwei Jahre vor Theo kam sein Bruder in die Schule.
Er lernte und lernte, wiederholte die Aufgaben ganz laut,
Theo hörte zu, und hatte mit vier,
fünf Jahren schon sein schulisches Fundament gebaut.
Theos erstes Zeugnis, vom Stoff her gesehen, war sehr gut, sein Betragen aber schlecht, der Vater hatte seine Wut, er brüllte: „Was nun geschieht, das geschieht dir zu Recht.“
Zwei Leben hielt er gefangen in seiner Brust,
der Spaß beim Lernen, was ihm sehr leicht gefallen.
Die mangelnde Anerkennung, die fehlende Liebe zu Hause, lasteten schwer auf seinem Gemüt und
störten das seelische Gleichgewicht ohne Pause.
Die Schulkinder fingen an zu frotzeln, weil er zu dick geworden sei. „Dicke, fette Tragsau“, riefen sie ihm zu,
und verschwanden um die Ecke im Nu.
Dann schallte es aus der Ferne: „Dicker, dicker roher Kloß, lasse deine kleinen Fürzchen los.“ Das brachte Theo in Wut,
er sann auf Rache, sich zu wehren war für ihn Ehrensache.
Wenn er gefrotzelt wurde, waren mehrere Jungen und Mädchen auf einem Haufen, er sinnierte und sagte bei sich: „Ich muss sie mir einzeln kaufen.“
So ist es geschehen, er lag auf der Lauer, es war sehr leicht,
die Schrecksekunde hat ihm geholfen,
und er prügelte sie einzeln windelweich.
Was folgte, war klar, Lehrer, Bürgermeister und Vater,
hatten sich beraten. Es gab nur eins, Prügel mussten her,
sonst würde er völlig missraten.
Diese drei wussten aber nicht, dass Theo die Prügel gar nicht mehr spürte, stoisch er das über sich ergehen ließ und
hatte dabei noch Glücksgefühle.

***

Heilige Kommunion

1945 kamen die Amerikaner und besetzten das Land,
Theo war gerade erst 8 Jahre alt.
Ein weißes Betttuch wurde vom Kirchturm weit sichtbar gehisst, damit die Amerikaner auch wissen sollten,
dass Frieden ist.
Die Kinder hatten Hunger, die Amerikaner die Schokolade, sie gaben den Kindern Boxhandschuhe und freuten sich,
wenn diese sich schlagen.
Auch Theo war bei den Kindern dabei und boxte öfter gegen zwei. Er boxte nicht technisch, sondern mit roher Kraft,
hatte auf einmal auch zwei geschafft.
Zwei Rippchen Schokolade gab es für jeden Sieg,
auch das war eine Folge vom unseligen Krieg.
Denn die Amerikaner haben unverschämt gelacht und die Kinder zu ihren Deppen gemacht.
1946 folgte die erste Heilige Kommunion, seine Kleidung,
die sein Bruder schon getragen, war zu eng,
Theo hat um sich geschlagen.
Die Mutter in der guten Stube streng den Anzug angepasst, und Theo sah mit seinem rechten Auge ein offenes Kirschenglas.
Als Nachspeise war das Glas mit Kirschen bereitgestellt,
aber nichts war sicher in Theos Welt.
Er vergaß, dass er nüchtern bleiben müsste,
ihn überfielen die Gelüste, er schaute hin und schaute her,
und das Glas war plötzlich leer.
Jahre danach verfolgten Theo noch Gewissensbisse, dabei fragte er sich, ob er seine Erstkommunion wiederholen müsse.
Lange hatte er gebraucht bis er sich einem Beichtvater anvertraut, der lachte in seinem Beichtstuhl,
das war allerhand, und Theo ist davon gerannt.

***

Ministrant

Wer das Confiteor aufsagen konnte, war sofort Ministrant,
in der Sakristei suchte Theo sein Messdienergewand.
Da war der Oberministrant: „So schnell geht das nicht“,
sprach er laut, er verlangte amerikanische Zigarettenkippen, die Theo im Mülleimer des Gasthauses geklaut.
Der Ministrantendienst verlangte aber noch mehr. Jährlich kam der gelobte Tag des Hl. Sebastianus einher.
Mit Festgottesdienst auf der Kapelle, große Prediger waren zur Stelle, wie wichtig die Erinnerung an Sebastianus, dem Pestheiligen, sei, die ein Fasttag ist, mit Grieß- oder Hirsebrei.
Als Ministrant musste Theo zum Mittag einen größeren Weidekorb mit Essen hinauf zur Kapelle in die Eremitage tragen.
Aber unterwegs roch es irgendwie nach Schweinebraten.
Natürlich schaute Theo nach und was sah er dabei? In dem Korb war alles andere als Grieß- oder Hirsebrei.
Rohe Kartoffelklöße, drei Rindfleischstücke pro Person,
und eine gute Soße, mit eingemachten Kirschen als Nachspeise, die kannte er schon.
Er machte es sich trotz Kälte gemütlich und sagte vor sich hin: „Drei Stücke Rindfleisch pro Pfarrer sind zu viel.
Ich werde drei Stücke essen, das fällt am wenigsten auf.“ Gesagt getan, die Geschichte nahm einen guten Verlauf.
Theo hat das nie gebeichtet, wo kämen wir da hin, schließlich sollten die Pfarrer das auch leben, was sie auf der Kanzel vorgegeben, war sein Sinn.

***

Zurück zur Schule

Theo wuchs heran, frühreif wurde er und fast schon ein Mann. Wie konnte das gescheh’n? Mal seh’n, mal seh’n.
Krank lag er mit Ohrenschmerzen darnieder, er musste nicht mit aufs Feld, und gepackt hatte es ihn wieder.
Neugierig war er schon lange auf das elterliche Schlafzimmer neben seiner Kammer.
Und Schwupps, war er trotz Halsschmerzen an der Wäschekommode seiner Mutter, wusste aber nicht,
was er dort suchte.
Voller Erregung hob er den Unterrock und die Hosen,
schön weiß und groß, seiner Mutter hoch, und fragte sich: „Was geschieht mit mir bloß?“
Plötzlich sah er ein Buch mit einer nackten Frau auf Seite zwei, und er blätterte zu Seite drei und vier,
mit Bildern in schwarz-weiß, da war eine farbige Seite dabei.
Die öffnete sich wie eine Ziehharmonika und plötzlich stand sie da: eine Frau, gesund und rund, mit einer großen Brust und schematisch dargestelltem Unterleib, von einer Scheide wurde geschrieben und Haare waren auch dabei.
Auch ein Mann wurde abgebildet, mit einem steifen Glied.
Er schob sich an die Frau heran, Theo war fast von Sinnen,
auf einmal drehte sich das Zimmer,
und er konnte nicht entrinnen.
Gierig hing Theo an dem Text, er sog alles auf,
es war wie verhext, sein Körper schüttelte sich vor Erregung, wurde ganz steif, ein Urschrei und es war vorbei.
Theo war nunmehr aufgeklärt und fast ein Mann,
er war stark und das hatte ihm gut getan.
In der Schule gab es manche Streiche, sie wurden alle dem Lehrer zuteile. Zucker in den Tank seines Sachsmotors,
das kam schon auch mal vor.
Für die Stockhiebe musste Theo die Haselnussstecken holen, damit wurde verhauen der Hosenboden.
Mit seinem Taschenmesser ringelte er den Züchtigungsstab, nun hatte er vor den Schlägen keine Angst gehabt.
Als der Lehrer damit ausholen wollte, war der einem Schlaganfall nah, weil er die herbeigeführte Bescherung sah.
Der Stock bröckelte, die Teilchen flogen durchs Zimmer, Theo hatte seine Ruh, und das für immer.
Was war die Rache dafür? In Betragen eine Vier.
Neben der Schule war die Arbeit auf dem Felde,
das letzte Schuljahr kam heran,
und eine Lehrstelle hatte sich nicht aufgetan.
Bei der Deutschen Reichsbahn schaffte es Theo bis zur ärztlichen Untersuchung in Bamberg beim Vertrauensarzt.
Dieser hat dann zu ihm gesagt: „Sie haben einen Senk-, Spreiz- und Knickfuß, für die Bahn sind Sie nicht geeignet, fahren Sie nach Hause und suchen Sie weiter.“
5 Sterne
Ganz, wie im richtigen Leben - 16.05.2020
Rudi Dietz

Der Autor Wilhelm Barbara zeit anhand der Figur Theo sein Leben in Reimen und Gedichten. Sie sind treffend geschrieben, reizen zu schmunzel, nachdenklich zu werden und haben auch Humor. Theo ist sehr genau beschrieben. Man kann sich leicht in die beschriebenen Szenen hineinfühlen. Richtig lesenswert.

5 Sterne
Liebe wo bist du? - 03.01.2020
Rudi Dietz

Der Inhalt ist dramatisch, jedoch mit leichten Unterton und Witz verpackt. Der Inhalt ist leichtverständlich aber deutlich geschrieben. Man kann schmunzeln.

5 Sterne
Liebe wo bist du? von Wilhelm Barbara - 30.12.2019
Rudi Dietz

Der Inhalt ist spritzig, witzig erzählt, dramatisch, voller Liebesgefühle und klareralgemeinverständlicher Sprache.

5 Sterne
dramatisch aber lieb - 27.11.2019
Irene Dietz

Drmatisch, witzig und lieb geschrieben. Beeindruckende Formulierungen.Das Lesen macht Freude.

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