Flügelschlag für Flügelschlag

Flügelschlag für Flügelschlag

Franka Unger


EUR 16,90
EUR 13,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 164
ISBN: 978-3-99107-541-7
Erscheinungsdatum: 09.08.2021

Leseprobe:

Prolog

Du denkst, uns gibt es nicht? Du findest keinen Grund, um an uns zu glauben? Du bist überzeugt, es gibt nur die Materie und glaubst, du seist ein Körper mit Verstand und Herz, welchem die Chance zuteilwurde, ein Leben zu bestreiten. Aber es gibt uns. Es gibt mich. Und zwar schon sehr viel länger, als du dir vorstellen kannst. Zeit ist für uns Seelen kein Maß. Ein Menschenleben nur ein Flügelschlag. Und doch sind wir – bin ich – deine Quelle. Ich schenke dir die Wahrnehmungen, Erinnerungen und Sehnsüchte, mit denen du durchs Leben gehst. Ich bin dein Lebensatem. Ich wohne tief in dir, ab der ersten Zelle begleite ich dich, bis du deinen letzten Atemzug hier auf Erden tust.
Ich bin dein Innerstes und bestimme damit, wer DU allein wirklich bist und welche Wege du einschlagen kannst. Stell dir vor, tief in deinem Inneren würdest du tatsächlich nicht an eine Seele glauben. Wie verloren würdest du und all die anderen Menschen sich denn dann nur vorkommen, wenn ihr die Gewissheit habt, dass ihr nicht unendlich seid und dieses Leben eine „Deadline“ hat. Doch eigentlich wisst ihr es alle. Die Armen, die Reichen, die Rationalen sowie die Emotionalen. In euch wohnt euer eigenes Selbst – eure Seele. Aus mir heraus entsteht euer individuelles Bewusstsein!
Ich wandere von Körper zu Körper. Von Leben zu Leben. Ich bin unendlich und besitze meine eigene Quelle, welche niemals versiegt. Wir Seelen sind allerdings nicht, wie ihr glaubt, nur ein „Ding“, das in euch wohnt und sich niemals verändert. Vielmehr bin ich ein fortwährend entstehender Vorgang. Denn auch ich habe ein großes Ziel. Ich muss komplett werden. Ich möchte den höchsten Stand der Seelenreife erreichen, den unvergleichbaren Lebensgenuss erreichen, unermesslich wachsen und durch das Erfüllen von Aufgaben mehr und mehr dazu lernen. Um am Ende eins zu sein, ein Ganzes.
Wir Seelen haben nicht alle Anteile in uns – Anteile, welche fehlen, gilt es zu erwerben. Machen wir während eines Menschenlebens große und schwerwiegende Fehler oder gar schlechte Erfahrungen, passiert es uns häufig, dass wir nach einer Reinkarnation genau solche Fehler als Lernaufgabe im nächsten Leben erneut gestellt bekommen. Dies kann uns so oft passieren, bis wir das Gelernte wirklich verinnerlicht haben. Dazu besitzen wir Lernpartner. Ihr nennt sie Seelenverwandte. Eine Vereinbarung, die wir trafen lange vor dem körperlichen Eintritt. Die Lernpartner helfen uns bei den Aufgaben, die uns bevorstehen.
Du glaubst immer noch nicht an mich? Betrachte dein Leben! Wieso geschehen dir Dinge? Weswegen empfindest du sie als schlecht oder als besonders gut? Und warum sehen andere nicht alles aus demselben Blickwinkel wie du?
Öffne dich deiner inneren Wahrheit, deiner Quelle und mir. Denn nur solange ich für dich so existiere, wie Verstand und Herz, kann ich auch etwas für dich tun und selbst daran wachsen.
Ich nehme dich mit auf meine Reise, damit sich dein Horizont endgültig erweitern kann. Ich nehme dich auf diese Reise mit, damit du verstehst, dass du nicht nur ein Teil des großen Ganzen bist, sondern auch für dich ein Ganzes sein kannst und den Genuss des Lebens tief in dir spürst. Flügelschlag für Flügelschlag, bis wir gemeinsam den Flug genießen können.
Das erste Leben, in welches ich schlüpfen durfte, war das eines Vogels. Meine Zeit im Käfig war nicht schlimm, sie tat mir nicht weh. Sie füllte mich aus. Und meine erste Lernaufgabe stand bevor. Immer wollte ich den Sehnsüchten nach Freiheit nachgeben, doch ich lernte, dass das Herz den Kopf nicht beherrschen durfte. Ich erfuhr auf schmerzliche Weise, dass Kopf und Herz nur gemeinsam funktionieren können und dass die Vernunft, die aus Kopf und Herz besteht, zu gleichen Teilen über unser Handeln bestimmen sollte.



Flügelschläge

Ich bin ein Vogel, so ein kleiner, grauer, nichts Besonderes. Ich lebe in einem Käfig, meine Tage sind immer dieselben, ich bin am Leben, aber ich lebe nicht. Ich fliege zwischen zwei Ästen im Käfig hin und her, trinke ein Tröpfchen und esse, weil ich muss. Niemand kommt an meinem Käfig vorbei, niemand interessiert sich, wie es mir geht und niemand schaut mich an, keiner bewundert mich, keiner schenkt mir Aufmerksamkeit. So lebe ich seit Jahren in meinem Käfig. Ich will nicht wissen, wie lang ich dieses Leben noch friste. Doch bisher kam in diesen Jahren schon einige Male, jemand vorbei, der meine Käfigtür öffnete.
Beim ersten Mal flog ich, ich flog hinaus, höher, schneller, weiter, soweit meine zarten Flügel mich nur trugen. Ich spürte den Wind in den Federn und war so aufgeregt. Jeder meiner Atemzüge fühlte sich plötzlich so echt an, so gewaltig und so ganz anders als in meinem Käfig. Ich flog so hoch, meine Federn waren nicht mehr grau, sie leuchteten blau im Sonnenlicht, funkelten grün, wenn der Wind sie berührte, und hinterließen einen roten Schweif, je höher ich aufstieg. Das war das Glück in seiner reinsten Form. Doch ich wusste es nicht besser und flog zu hoch, ich stieß an den Himmel, verbrannte mir meine Federn an der Sonne und fiel schnell und tief zu Boden. Als ich aufwachte, saß ich wieder in meinem Käfig. Die Tür war geschlossen. Ich war abgemagert, ich hatte Schmerzen und es war, als wäre ein Teil von mir gestorben. Nun wusste ich einmal, wie es außerhalb meines Käfigs war und das konnte mir niemand mehr nehmen. Doch da war ich, gefangen!
Ich wusste nicht, wie lange es wieder dauern würde und ob es überhaupt noch einmal passierte bis sich meine Tür wieder öffnet. Ich wartete zwei Jahre, bis sich die Tür eines Tages aus dem nichts erneut öffnete. Wieder ergriff ich schnell meine Chance, doch der Schmerz vom letzten Mal saß tief, deswegen war ich ängstlicher. Wieder spürte ich den Wind, roch die frische Luft und atmete! Ich atmete, als wäre nur dies das einzig richtige Leben, atmete schnell und konnte nicht genug davon bekommen. Doch ich sah mich nicht genau vor und kollidierte mit etwas. Wieder sank ich schnell und wie ein Stein zu Boden, ich wachte auf und befand mich erneut in diesem Käfig!
Es war ein Stück von mir zerbrochen, wieder hatte ich Federn verloren und die Tür war geschlossen. Doch nun wusste ich nicht nur, wie es draußen ist, sondern auch, dass es wiederholt passierte und deswegen sicherlich wieder passieren wird. Mein Leben im Käfig wurde dadurch zumindest ein bisschen aufregender, denn nun wartete ich immer mit einem nervösen Kribbeln im Bauch darauf und war voller Spannung. Häufig hing ich meinen Gedanken an diese wunderschöne Freiheit nach. Aber mir kam auch der Gedanke: War ich vorher glücklicher, als ich diese Freiheit noch nicht kannte? Als ich weniger sehnsüchtig war und noch dachte, jeder Tag sei gleich? Jetzt bin ich jeden Tag, an dem sich diese Tür nicht öffnet, ungeduldig, wütend, deprimiert und traurig. Ich musste also das Beste aus meiner Situation machen. Ich nahm die Scheuklappen von den Augen. Ich sah andere Vögel, vielleicht geben sie mir das Gefühl, welches zumindest vergleichbar mit dem Gefühl der Freiheit sein würde, dachte ich. Mein Leben zog an mir vorbei, während ich auf die Freiheit wartete, deswegen beschloss ich, es zu wagen. Ich zwitscherte mit anderen um die Wette, ich plusterte mein Federkleid auf, ich tat alles das, was die anderen taten. Jedoch immer mit dem Unterschied, dass sie, im Gegensatz zu mir, dieses Gefühl des unendlichen Fliegens und Atmens nicht kannten. Also passte ich mich an, um dieses unbeschreibliche Gefühl wieder vergessen zu können. Ein paar der anderen Vögel wurden zum Mittelpunkt für mich, sie gaben mir Halt und Unterstützung, machten mein Leben lebendiger, bunter, fröhlicher und lauter. Vergessen konnte ich dieses Gefühl jedoch keinen einzigen Tag so richtig, es verblasste nur leicht, doch dieses Kribbeln hielt an.
Ich musste dieses Mal nur ein Jahr warten, bis sich die Tür erneut öffnete. Mein Herz schlug wie wild. Und wieder hinaus, schneller, weiter, höher, doch immer mit einer gewissen Vorsicht, mich nicht nochmals zu verletzen. Schnell wurden mir jedoch die Flügel schwer und starr. Ich glänzte in allen Farben und blühte auf, doch stellte gleichzeitig fest, wie schwer diese Freiheit, die mir geschenkt wurde, war. Ich konnte sie nicht regulieren, nicht mit ihr in Maßen umgehen, und dennoch liebte ich sie! Ich liebte sie tief und rein. Doch plötzlich wurde alles schwarz!
Als ich meine Augen quälend öffnete, war ich eingesperrt in meinem Käfig!
Meine Augen standen voller Tränen und ich sah nur verschwommen. Ich wollte gar nicht mehr richtig sehen und nicht aufs Neue damit konfrontiert werden, dass ich mich wieder in meinem Käfig befand, doch ich war mir dessen voll und ganz bewusst. Wiederholt von vorne anfangen, abermals mein Leben aufbauen, mit ein paar Federn weniger und wieder um die Freiheit trauernd. Ich musste diesen großen Verlust nun schon ein drittes Mal erleben. Jedes Mal ging ich mehr kaputt, verlor aufs Neue meine Farbe und meinen Glanz und wurde zu dem tristen, grauen, kleinen Vögelchen. „Also auf ein Neues!“, sagte ich mir immer selbst. Was hatte ich schon für eine andere Wahl? So umgaben mich erneut wichtige Wegbegleiter und Ereignisse, die ich mit anderen meiner Art verbrachte. Es verblassten die tiefen Wunden, die mir das Gefühl, das ich doch eigentlich so liebte, zugefügt hatte. Doch vergessen ging nicht, drei lange Jahre.
Da schien dieses helle Licht der Sonne in meinen Käfig und der Windhauch fuhr durch mein Federkleid. Nun ging ich nur langsam hinaus, blickte diesmal sogar noch einmal zurück in mein Zuhause, bevor ich erneut meine Flügel ausbreitete. Ich riss mich zusammen, ich wollte dieses Gefühl diesmal besser „portionieren“, traute mich nicht einmal, zu lächeln, obwohl es im Bauch wieder kribbelte. Ich wagte die tiefen Atemzüge diesmal nur sehr langsam und war ängstlich wie nie zuvor. Ich blickte in jede Himmelsrichtung und wog jedes Hindernis genau ab, bevor ich mir zutraute, es zu überfliegen, aber trotzdem hatte mich die Freiheit wieder voll im Griff. So lang wie dieses Mal konnte ich sie vorher nie genießen, offensichtlich war also Vorsicht genau das Richtige, aber auch diese Taktik brachte mich letztendlich nicht ans Ziel. Ich spürte einen heftigen Schlag. Es gab keine Möglichkeit, einzuschätzen, ob der Schlag von oben kam oder ob es zeitgleich auch schon mein Aufprall auf den Boden war. Ich glaube, nun ist einer meiner Flügel letztlich ganz gebrochen, dachte ich noch so für mich, als ich mich schon ganz plötzlich wieder in meinem Käfig vorfand. In mir breitete sich ein dumpfes, tiefes und dunkles Gefühl aus, es umhüllte mich voll und ganz, es übermannte mich und ich konnte und wollte nicht mehr kämpfen und gab mich dem Gefühl hin.
Es dauerte nun noch sehr viel länger, bis ich aus meinem Sumpf, aus meinem Loch, in das ich innerlich fiel,, wieder herauskam. Immer wieder aufs Neue beschäftigte mich die Frage, warum meine Käfigtür sich öffnete und die der anderen verschlossen blieb. Warum landete ich jedes Mal aufs Neue in meinem Käfig? Warum musste mir so etwas passieren? Ich hasste teilweise dieses Gefühl, verfluchte den Tag, an dem ich es kennenlernen durfte und vermisste es zur gleichen Zeit. Liebte mich die Freiheit nicht? Warum überlegte es sich die Freiheit bloß jedes Mal wieder anders? Diese Fragen bohrten Löcher durch mein Herz und zerschmetterten mein Hirn. Sehr lange Zeit war ich deshalb für nichts mehr offen und für nichts zu gebrauchen. Wie kann einem etwas nur so guttun und zu gleichen Teilen so zerstören? Es war mir unklar! Ich zog mich zurück. Ich hatte einfach keine Lust mehr! Ich dachte mir: „Da bleibe ich doch lieber in meinem Käfig.“ Auch wenn ich es hier ebenfalls nie ganz leicht hatte mit all den anderen bunten, schönen Vögeln, die mir haushoch überlegen waren und ich mich hier und da auch mal stieß, so hatte ich dies doch wenigstens besser im Griff, als in der Freiheit. Doch die Freiheit schien diesmal mich zu vermissen, denn obwohl meine Wunden vom letzten Mal noch nicht verheilt waren, ging die Tür doch tatsächlich ein weiteres Mal auf, und zwar sehr schnell und unsanft. Als ob mir die Tür sagen wollte „Nun mach schon! Mach, dass du rauskommst!“
Dieses energische, weckte meinen Kampfgeist. „Nein!“, dachte ich, „das muss doch mal zu schaffen sein“, immerhin muss es etwas bedeuten, wenn die Freiheit immer wieder nur bei mir anklopft. Also raus, hoch, weit, in Maßen genießen, umsehen, atmen, ausbreiten, Sonne und Wind spüren, gesunde Zweifel hegen, vorsichtig herantasten, pure Freude empfinden, lieben.
Um dann erneut getroffen zu werden, tief zu fallen, hart aufzukommen, Schmerzen zu haben, ganz unten zu versinken, Federn zu verlieren, im Käfig zu hocken, sich mit anderen abzulenken, sanft die Wunden zu lecken, schmerzlich an schöne Erinnerungen zu denken.
So ging das wieder und wieder, ich weiß nicht wie oft. Ich ärgerte mich nur noch über mich selbst und darüber, dass ich überhaupt noch hinausflog, anstatt im sicheren Käfig zu bleiben. Vielleicht ist sie das ja auch, die Freiheit? Vielleicht tut sie jedem so weh? So kam es, dass ich zu einem Vogel wurde, dessen Blick von anderen immer als traurig oder auch als böse angesehen wurde. Dies machte es den anderen geradezu unmöglich, mich noch zu erreichen. Ich wurde diszipliniert, streng und wertend. Ich gab mich zeitweise mit Vögeln ab, die mir eigentlich nicht guttaten. Ich suchte bewusst andere auf, von denen mir mein Gefühl abriet. Ich strafte mich mit schlechtem Umgang und ging auch mit mir selbst lieblos um. Ich quälte mich mit meinen Gedanken, mit dem falschen Tröpfchen Wasser, mit viel weniger Essen und mit harten Flugeinheiten durch meinen Käfig – es sollte so sein! Ich wollte, dass es mir die ganze Zeit schlecht ging, denn ich redete mir ein, mich selbst dafür bestrafen zu müssen, dass ich so oft hinausflog und meine Grenzen missachtete.
Es vergingen Jahre, in denen es mir nicht gut ging. Mein Federkleid wurde grauer, meine Augen schlechter, mein Zustand schwächer. Ein paar Vögelchen schafften es zwar, meine Mauer zu durchbrechen. Und gegenüber jenen, die es schafften, konnte ich lustig, aufgeschlossen und liebenswert sein. Doch in mir wohnte sie jetzt nun einmal, die tiefe Trauer. Sie gehörte zu mir. Über die Jahre hinweg sammelte ich meine Kraft nach und nach wieder und beschloss, das zu tun, was um mich herum auch alle anderen taten, damit mein Leben nicht gar zu sinnlos bleiben würde: Ein Nest zu bauen und ein Ei zu hüten und zu wärmen. Ich hatte nicht mehr viel Wärme in mir übrig, war aber sehr entschlossen, es zu wagen. So kam es, dass ich eines Tages nicht mehr allein war, und bald nicht mehr zu zweit, sondern zu dritt. Aus meinem Ei schlüpfte das schönste Küken der Welt, zu dem meine Liebe bedingungslos und endlos war. Ein Nest war schnell gebaut und mein Innerstes war nicht mehr ganz so düster. Ich erlebte glückliche, kritische und schmerzliche Momente und war am Leben. Ich atmete nicht so tief wie in der Freiheit, aber Hauptsache ich atmete. Mein Küken war der Lichtblick, den ich brauchte. Mein Partner gab mir den nötigen Halt, um nicht wieder gänzlich zu versinken. Die Zeit verstrich. In mir haben die Gedanken über diese Freiheit nie ganz aufgehört, doch sie sind verblasst und ich lernte mit ihnen zu leben. Manchmal holten sie mich ein, wenn ich spätabends oder in der Nacht aus meinem Käfig heraus in die Sterne schaute. Dann fragte ich mich, ob es das jetzt tatsächlich gewesen sei.
So viel Zeit ohne die Freiheit war, seit ich diese kannte, noch nie vergangen. Offensichtlich hatte sich die Freiheit vor längerer Zeit ein Vögelchen gesucht, mit dem sie besser zurechtkam, das besser flog als ich und nicht alles auf einmal wollte. Ein Vögelchen mit Geduld und viel Liebe. Ein Vögelchen, welches die Freiheit mit ihrer Sonne, dem Wind und dem Schimmern noch schöner machte. Doch tief in mir wusste ich, dass es niemals einen Vogel geben wird, der mit der Freiheit eine so tiefe Verbundenheit empfinden wird wie ich. Beim Gedanken daran ärgerte ich mich darüber, dass ich all dies nicht konnte und der Freiheit nicht genügte. All diese Fragen in meinem Kopf kamen nie zu einer Antwort. Ich gab mich zufrieden mit allem, was ich mir in meinem Käfig geschaffen hatte. Es genügte mir zum Glücklichsein. Ich war stolz und kämpfte tagein tagaus für meine kleine Vogelfamilie. Jahr um Jahr war ich mir zunehmend sicher, dass die Freiheit zur Vergangenheit gehörte.
Plötzlich, an meinem Geburtstag, wieder ein helles Licht! Ein Licht, wie ich es nur von der Freiheit kannte. Mein Bauch kribbelte. Ein erfrischender Windstoß, so wie ihn nur die Freiheit jedes Mal durch mein Federkleid fahren ließ, ich zitterte. Ein Glänzen, so schön wie ich es vorher nie kannte – bis auf meine Zeit mit der Freiheit. Mein Kopf wurde ganz heiß. Das alles konnte nur eines bedeuten. Ich wagte den Blick zu meiner Käfigtür und sie stand offen. Ich war fassungslos und konnte das alles gar nicht glauben. Die Freiheit, sie war wiedergekommen, zu mir. Ja, zu mir! Sie schien mich doch nicht vergessen zu haben. Vor lauter Aufregung dachte ich nicht an Richtig oder Falsch und wagte mich langsam und eher schleichend nach draußen. Diesmal war kein Blick zurück in meinen Käfig nötig, denn mittlerweile war ich mir sicher, dass ich hier sowieso wieder landen würde. Dieses Mal wollte ich es aber anders machen. Ich wollte den Zeitpunkt, an dem ich zurückkehre, selbst bestimmen, und ich wollte, dass es sanfter ablief als die vorhergehenden Male. Da war er wieder, der Wind, der mir unter die Flügel fuhr. Ich stieß mich ab und flog. Wie hatte ich das vermisst, dieses Atmen, es war einmalig! Alles kribbelte und kitzelte an mir, ich fühlte mich so lebendig wie jahrelang nicht mehr. Ich genoss das warme Lächeln der Sonne auf meinem geschundenen Gefieder, ich kostete jeden Windzug aus, war er auch noch so klein. Ich tat dies alles zärtlich und gefühlvoll. Ich flog nur dorthin, wohin die Windstöße mich haben wollten, ließ mich tragen, versuchte nichts zu überstürzen oder zu erzwingen. Ich legte den Kopf in den Nacken und blinzelte durch die Augen in dieses sanfte, wärmende Licht. Das Schimmern und Funkeln brachten mich zum Jauchzen. Ich bin am Leben! Ja, ich bin am Leben und ich bin lebendiger als je zuvor. Was hatte ich nur alles verpasst? Auf was für großartige Gefühle musste ich nur all die Jahre verzichten! Ich war schockiert, wie lange ich es ohne die Freiheit nur aushalten konnte! Es war wunderschön, ich begegnete der Freiheit mit viel Achtung und Stolz. Es war ein großes Privileg für mich, sie tatsächlich erneut genießen zu können und es breitete sich Dankbarkeit in mir aus. Dieses pure, reine Glück kann ich niemandem beschreiben.
Nach einer Weile nahm der Wind zu. War ich jetzt schon ein paar Tage geflogen? Die Zeit verging so schnell, weil es so schön war. Ich fragte die Freiheit, warum wir nicht zusammen sein können und warum ich sie nicht mit in meinen Käfig nehmen oder hier bei ihr bleiben könne. Sie antwortete mir sanft, aber fest entschlossen, dass sie nicht mitkommen könne, weil sie hier sonst alles, was aus ihr geschaffen wurde, allein lassen müsse. Und ich könne nicht bei ihr bleiben, weil ihr diese starke Anziehungskraft, die zwischen uns herrscht, Angst mache. Die Freiheit erklärte mir, dass sie mich nicht dauerhaft um sich haben kann, da sie zu solch etwas Großem nicht fähig sei. Doch sie musste mich immer wieder in meinen Käfig sperren, damit sie wusste, dass sie mich nicht ganz verliert. Denn ganz ohne mich konnte sie nicht sein, sonst hätte sie mich nicht immer wieder für ein paar Traumflüge zu sich geholt.
Der Wind ließ mich nicht mehr gleiten und ich fing an zu wackeln. Nein, nicht schon wieder ein Absturz! Das wollte ich nicht. Gefühlvoll und vorsichtig gleitete ich zu Boden. Ich sah mir die Freiheit noch einmal ganz genau an. Ich nahm noch einmal einen tiefen Atemzug. „Danke“, konnte ich ihr nur sagen und sie schimmerte und funkelte mich an wie nie zuvor. Ich war so glücklich und wollte noch gar nicht zurück, aber ich musste, sonst würde es wieder ungemütlich für mich enden. Das hatte ich inzwischen von der Freiheit gelernt.
Ich hüpfte diesmal ganz von allein auf meine offene Käfigtür zu und sah noch einmal zurück. Obwohl der Wind der Freiheit inzwischen tobte, streichelte sie mir ein letztes Mal noch mit einem Sonnenstrahl über meine Federn. Dieses Mal habe ich keine Feder verloren. Dieses Mal gehe ich von allein zurück in meinen Käfig und bin voller Dankbarkeit, dieses Glück noch einmal erlebt haben zu dürfen.
Der Abschied fällt mir jedoch schwer. Schnell hinterlasse ich eine kleine zarte Feder von mir. Und diesmal freiwillig, damit ich weiß, dass ein Teil von mir immer im Wind der Freiheit wehen wird. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Wie kann man nur zufrieden und gleichzeitig so unglücklich sein? Das werde ich wohl nie verstehen. Ich hüpfe in meinen Käfig, die Tür schließt sich sanft hinter mir und ein letztes Glitzern ist zu sehen. Nun weiß ich, dass die Freiheit auch mich vermisst hat, sie hat genauso auf mich gewartet wie ich auf sie. Sie hat meinen Rundflug genauso genossen wie ich. Sie war bei jedem meiner Ausflüge über die Jahre hinweg genauso ängstlich wie ich. Nun haben wir eine sanfte Landung geschafft. Von diesem Erfolg fühle ich mich noch ganz betrunken und am Himmel fliegt auch noch eine Sternschnuppe vorüber. Ich bin erschöpft, müde und merke, dass ich schon lange nicht mehr gegessen und getrunken habe, weil ich von der Freiheit zehren konnte. An die Sternschnuppe richte ich gedanklich noch eine tiefe Dankbarkeit und ein „Lebewohl“, bevor ich zufrieden in den Schlaf sinke. Die Freiheit weiß jetzt so gut wie ich, dass ich sie nicht mehr besuchen werde, weil ich es nicht ertragen kann, sie nicht dauerhaft haben zu können.

Prolog

Du denkst, uns gibt es nicht? Du findest keinen Grund, um an uns zu glauben? Du bist überzeugt, es gibt nur die Materie und glaubst, du seist ein Körper mit Verstand und Herz, welchem die Chance zuteilwurde, ein Leben zu bestreiten. Aber es gibt uns. Es gibt mich. Und zwar schon sehr viel länger, als du dir vorstellen kannst. Zeit ist für uns Seelen kein Maß. Ein Menschenleben nur ein Flügelschlag. Und doch sind wir – bin ich – deine Quelle. Ich schenke dir die Wahrnehmungen, Erinnerungen und Sehnsüchte, mit denen du durchs Leben gehst. Ich bin dein Lebensatem. Ich wohne tief in dir, ab der ersten Zelle begleite ich dich, bis du deinen letzten Atemzug hier auf Erden tust.
Ich bin dein Innerstes und bestimme damit, wer DU allein wirklich bist und welche Wege du einschlagen kannst. Stell dir vor, tief in deinem Inneren würdest du tatsächlich nicht an eine Seele glauben. Wie verloren würdest du und all die anderen Menschen sich denn dann nur vorkommen, wenn ihr die Gewissheit habt, dass ihr nicht unendlich seid und dieses Leben eine „Deadline“ hat. Doch eigentlich wisst ihr es alle. Die Armen, die Reichen, die Rationalen sowie die Emotionalen. In euch wohnt euer eigenes Selbst – eure Seele. Aus mir heraus entsteht euer individuelles Bewusstsein!
Ich wandere von Körper zu Körper. Von Leben zu Leben. Ich bin unendlich und besitze meine eigene Quelle, welche niemals versiegt. Wir Seelen sind allerdings nicht, wie ihr glaubt, nur ein „Ding“, das in euch wohnt und sich niemals verändert. Vielmehr bin ich ein fortwährend entstehender Vorgang. Denn auch ich habe ein großes Ziel. Ich muss komplett werden. Ich möchte den höchsten Stand der Seelenreife erreichen, den unvergleichbaren Lebensgenuss erreichen, unermesslich wachsen und durch das Erfüllen von Aufgaben mehr und mehr dazu lernen. Um am Ende eins zu sein, ein Ganzes.
Wir Seelen haben nicht alle Anteile in uns – Anteile, welche fehlen, gilt es zu erwerben. Machen wir während eines Menschenlebens große und schwerwiegende Fehler oder gar schlechte Erfahrungen, passiert es uns häufig, dass wir nach einer Reinkarnation genau solche Fehler als Lernaufgabe im nächsten Leben erneut gestellt bekommen. Dies kann uns so oft passieren, bis wir das Gelernte wirklich verinnerlicht haben. Dazu besitzen wir Lernpartner. Ihr nennt sie Seelenverwandte. Eine Vereinbarung, die wir trafen lange vor dem körperlichen Eintritt. Die Lernpartner helfen uns bei den Aufgaben, die uns bevorstehen.
Du glaubst immer noch nicht an mich? Betrachte dein Leben! Wieso geschehen dir Dinge? Weswegen empfindest du sie als schlecht oder als besonders gut? Und warum sehen andere nicht alles aus demselben Blickwinkel wie du?
Öffne dich deiner inneren Wahrheit, deiner Quelle und mir. Denn nur solange ich für dich so existiere, wie Verstand und Herz, kann ich auch etwas für dich tun und selbst daran wachsen.
Ich nehme dich mit auf meine Reise, damit sich dein Horizont endgültig erweitern kann. Ich nehme dich auf diese Reise mit, damit du verstehst, dass du nicht nur ein Teil des großen Ganzen bist, sondern auch für dich ein Ganzes sein kannst und den Genuss des Lebens tief in dir spürst. Flügelschlag für Flügelschlag, bis wir gemeinsam den Flug genießen können.
Das erste Leben, in welches ich schlüpfen durfte, war das eines Vogels. Meine Zeit im Käfig war nicht schlimm, sie tat mir nicht weh. Sie füllte mich aus. Und meine erste Lernaufgabe stand bevor. Immer wollte ich den Sehnsüchten nach Freiheit nachgeben, doch ich lernte, dass das Herz den Kopf nicht beherrschen durfte. Ich erfuhr auf schmerzliche Weise, dass Kopf und Herz nur gemeinsam funktionieren können und dass die Vernunft, die aus Kopf und Herz besteht, zu gleichen Teilen über unser Handeln bestimmen sollte.



Flügelschläge

Ich bin ein Vogel, so ein kleiner, grauer, nichts Besonderes. Ich lebe in einem Käfig, meine Tage sind immer dieselben, ich bin am Leben, aber ich lebe nicht. Ich fliege zwischen zwei Ästen im Käfig hin und her, trinke ein Tröpfchen und esse, weil ich muss. Niemand kommt an meinem Käfig vorbei, niemand interessiert sich, wie es mir geht und niemand schaut mich an, keiner bewundert mich, keiner schenkt mir Aufmerksamkeit. So lebe ich seit Jahren in meinem Käfig. Ich will nicht wissen, wie lang ich dieses Leben noch friste. Doch bisher kam in diesen Jahren schon einige Male, jemand vorbei, der meine Käfigtür öffnete.
Beim ersten Mal flog ich, ich flog hinaus, höher, schneller, weiter, soweit meine zarten Flügel mich nur trugen. Ich spürte den Wind in den Federn und war so aufgeregt. Jeder meiner Atemzüge fühlte sich plötzlich so echt an, so gewaltig und so ganz anders als in meinem Käfig. Ich flog so hoch, meine Federn waren nicht mehr grau, sie leuchteten blau im Sonnenlicht, funkelten grün, wenn der Wind sie berührte, und hinterließen einen roten Schweif, je höher ich aufstieg. Das war das Glück in seiner reinsten Form. Doch ich wusste es nicht besser und flog zu hoch, ich stieß an den Himmel, verbrannte mir meine Federn an der Sonne und fiel schnell und tief zu Boden. Als ich aufwachte, saß ich wieder in meinem Käfig. Die Tür war geschlossen. Ich war abgemagert, ich hatte Schmerzen und es war, als wäre ein Teil von mir gestorben. Nun wusste ich einmal, wie es außerhalb meines Käfigs war und das konnte mir niemand mehr nehmen. Doch da war ich, gefangen!
Ich wusste nicht, wie lange es wieder dauern würde und ob es überhaupt noch einmal passierte bis sich meine Tür wieder öffnet. Ich wartete zwei Jahre, bis sich die Tür eines Tages aus dem nichts erneut öffnete. Wieder ergriff ich schnell meine Chance, doch der Schmerz vom letzten Mal saß tief, deswegen war ich ängstlicher. Wieder spürte ich den Wind, roch die frische Luft und atmete! Ich atmete, als wäre nur dies das einzig richtige Leben, atmete schnell und konnte nicht genug davon bekommen. Doch ich sah mich nicht genau vor und kollidierte mit etwas. Wieder sank ich schnell und wie ein Stein zu Boden, ich wachte auf und befand mich erneut in diesem Käfig!
Es war ein Stück von mir zerbrochen, wieder hatte ich Federn verloren und die Tür war geschlossen. Doch nun wusste ich nicht nur, wie es draußen ist, sondern auch, dass es wiederholt passierte und deswegen sicherlich wieder passieren wird. Mein Leben im Käfig wurde dadurch zumindest ein bisschen aufregender, denn nun wartete ich immer mit einem nervösen Kribbeln im Bauch darauf und war voller Spannung. Häufig hing ich meinen Gedanken an diese wunderschöne Freiheit nach. Aber mir kam auch der Gedanke: War ich vorher glücklicher, als ich diese Freiheit noch nicht kannte? Als ich weniger sehnsüchtig war und noch dachte, jeder Tag sei gleich? Jetzt bin ich jeden Tag, an dem sich diese Tür nicht öffnet, ungeduldig, wütend, deprimiert und traurig. Ich musste also das Beste aus meiner Situation machen. Ich nahm die Scheuklappen von den Augen. Ich sah andere Vögel, vielleicht geben sie mir das Gefühl, welches zumindest vergleichbar mit dem Gefühl der Freiheit sein würde, dachte ich. Mein Leben zog an mir vorbei, während ich auf die Freiheit wartete, deswegen beschloss ich, es zu wagen. Ich zwitscherte mit anderen um die Wette, ich plusterte mein Federkleid auf, ich tat alles das, was die anderen taten. Jedoch immer mit dem Unterschied, dass sie, im Gegensatz zu mir, dieses Gefühl des unendlichen Fliegens und Atmens nicht kannten. Also passte ich mich an, um dieses unbeschreibliche Gefühl wieder vergessen zu können. Ein paar der anderen Vögel wurden zum Mittelpunkt für mich, sie gaben mir Halt und Unterstützung, machten mein Leben lebendiger, bunter, fröhlicher und lauter. Vergessen konnte ich dieses Gefühl jedoch keinen einzigen Tag so richtig, es verblasste nur leicht, doch dieses Kribbeln hielt an.
Ich musste dieses Mal nur ein Jahr warten, bis sich die Tür erneut öffnete. Mein Herz schlug wie wild. Und wieder hinaus, schneller, weiter, höher, doch immer mit einer gewissen Vorsicht, mich nicht nochmals zu verletzen. Schnell wurden mir jedoch die Flügel schwer und starr. Ich glänzte in allen Farben und blühte auf, doch stellte gleichzeitig fest, wie schwer diese Freiheit, die mir geschenkt wurde, war. Ich konnte sie nicht regulieren, nicht mit ihr in Maßen umgehen, und dennoch liebte ich sie! Ich liebte sie tief und rein. Doch plötzlich wurde alles schwarz!
Als ich meine Augen quälend öffnete, war ich eingesperrt in meinem Käfig!
Meine Augen standen voller Tränen und ich sah nur verschwommen. Ich wollte gar nicht mehr richtig sehen und nicht aufs Neue damit konfrontiert werden, dass ich mich wieder in meinem Käfig befand, doch ich war mir dessen voll und ganz bewusst. Wiederholt von vorne anfangen, abermals mein Leben aufbauen, mit ein paar Federn weniger und wieder um die Freiheit trauernd. Ich musste diesen großen Verlust nun schon ein drittes Mal erleben. Jedes Mal ging ich mehr kaputt, verlor aufs Neue meine Farbe und meinen Glanz und wurde zu dem tristen, grauen, kleinen Vögelchen. „Also auf ein Neues!“, sagte ich mir immer selbst. Was hatte ich schon für eine andere Wahl? So umgaben mich erneut wichtige Wegbegleiter und Ereignisse, die ich mit anderen meiner Art verbrachte. Es verblassten die tiefen Wunden, die mir das Gefühl, das ich doch eigentlich so liebte, zugefügt hatte. Doch vergessen ging nicht, drei lange Jahre.
Da schien dieses helle Licht der Sonne in meinen Käfig und der Windhauch fuhr durch mein Federkleid. Nun ging ich nur langsam hinaus, blickte diesmal sogar noch einmal zurück in mein Zuhause, bevor ich erneut meine Flügel ausbreitete. Ich riss mich zusammen, ich wollte dieses Gefühl diesmal besser „portionieren“, traute mich nicht einmal, zu lächeln, obwohl es im Bauch wieder kribbelte. Ich wagte die tiefen Atemzüge diesmal nur sehr langsam und war ängstlich wie nie zuvor. Ich blickte in jede Himmelsrichtung und wog jedes Hindernis genau ab, bevor ich mir zutraute, es zu überfliegen, aber trotzdem hatte mich die Freiheit wieder voll im Griff. So lang wie dieses Mal konnte ich sie vorher nie genießen, offensichtlich war also Vorsicht genau das Richtige, aber auch diese Taktik brachte mich letztendlich nicht ans Ziel. Ich spürte einen heftigen Schlag. Es gab keine Möglichkeit, einzuschätzen, ob der Schlag von oben kam oder ob es zeitgleich auch schon mein Aufprall auf den Boden war. Ich glaube, nun ist einer meiner Flügel letztlich ganz gebrochen, dachte ich noch so für mich, als ich mich schon ganz plötzlich wieder in meinem Käfig vorfand. In mir breitete sich ein dumpfes, tiefes und dunkles Gefühl aus, es umhüllte mich voll und ganz, es übermannte mich und ich konnte und wollte nicht mehr kämpfen und gab mich dem Gefühl hin.
Es dauerte nun noch sehr viel länger, bis ich aus meinem Sumpf, aus meinem Loch, in das ich innerlich fiel,, wieder herauskam. Immer wieder aufs Neue beschäftigte mich die Frage, warum meine Käfigtür sich öffnete und die der anderen verschlossen blieb. Warum landete ich jedes Mal aufs Neue in meinem Käfig? Warum musste mir so etwas passieren? Ich hasste teilweise dieses Gefühl, verfluchte den Tag, an dem ich es kennenlernen durfte und vermisste es zur gleichen Zeit. Liebte mich die Freiheit nicht? Warum überlegte es sich die Freiheit bloß jedes Mal wieder anders? Diese Fragen bohrten Löcher durch mein Herz und zerschmetterten mein Hirn. Sehr lange Zeit war ich deshalb für nichts mehr offen und für nichts zu gebrauchen. Wie kann einem etwas nur so guttun und zu gleichen Teilen so zerstören? Es war mir unklar! Ich zog mich zurück. Ich hatte einfach keine Lust mehr! Ich dachte mir: „Da bleibe ich doch lieber in meinem Käfig.“ Auch wenn ich es hier ebenfalls nie ganz leicht hatte mit all den anderen bunten, schönen Vögeln, die mir haushoch überlegen waren und ich mich hier und da auch mal stieß, so hatte ich dies doch wenigstens besser im Griff, als in der Freiheit. Doch die Freiheit schien diesmal mich zu vermissen, denn obwohl meine Wunden vom letzten Mal noch nicht verheilt waren, ging die Tür doch tatsächlich ein weiteres Mal auf, und zwar sehr schnell und unsanft. Als ob mir die Tür sagen wollte „Nun mach schon! Mach, dass du rauskommst!“
Dieses energische, weckte meinen Kampfgeist. „Nein!“, dachte ich, „das muss doch mal zu schaffen sein“, immerhin muss es etwas bedeuten, wenn die Freiheit immer wieder nur bei mir anklopft. Also raus, hoch, weit, in Maßen genießen, umsehen, atmen, ausbreiten, Sonne und Wind spüren, gesunde Zweifel hegen, vorsichtig herantasten, pure Freude empfinden, lieben.
Um dann erneut getroffen zu werden, tief zu fallen, hart aufzukommen, Schmerzen zu haben, ganz unten zu versinken, Federn zu verlieren, im Käfig zu hocken, sich mit anderen abzulenken, sanft die Wunden zu lecken, schmerzlich an schöne Erinnerungen zu denken.
So ging das wieder und wieder, ich weiß nicht wie oft. Ich ärgerte mich nur noch über mich selbst und darüber, dass ich überhaupt noch hinausflog, anstatt im sicheren Käfig zu bleiben. Vielleicht ist sie das ja auch, die Freiheit? Vielleicht tut sie jedem so weh? So kam es, dass ich zu einem Vogel wurde, dessen Blick von anderen immer als traurig oder auch als böse angesehen wurde. Dies machte es den anderen geradezu unmöglich, mich noch zu erreichen. Ich wurde diszipliniert, streng und wertend. Ich gab mich zeitweise mit Vögeln ab, die mir eigentlich nicht guttaten. Ich suchte bewusst andere auf, von denen mir mein Gefühl abriet. Ich strafte mich mit schlechtem Umgang und ging auch mit mir selbst lieblos um. Ich quälte mich mit meinen Gedanken, mit dem falschen Tröpfchen Wasser, mit viel weniger Essen und mit harten Flugeinheiten durch meinen Käfig – es sollte so sein! Ich wollte, dass es mir die ganze Zeit schlecht ging, denn ich redete mir ein, mich selbst dafür bestrafen zu müssen, dass ich so oft hinausflog und meine Grenzen missachtete.
Es vergingen Jahre, in denen es mir nicht gut ging. Mein Federkleid wurde grauer, meine Augen schlechter, mein Zustand schwächer. Ein paar Vögelchen schafften es zwar, meine Mauer zu durchbrechen. Und gegenüber jenen, die es schafften, konnte ich lustig, aufgeschlossen und liebenswert sein. Doch in mir wohnte sie jetzt nun einmal, die tiefe Trauer. Sie gehörte zu mir. Über die Jahre hinweg sammelte ich meine Kraft nach und nach wieder und beschloss, das zu tun, was um mich herum auch alle anderen taten, damit mein Leben nicht gar zu sinnlos bleiben würde: Ein Nest zu bauen und ein Ei zu hüten und zu wärmen. Ich hatte nicht mehr viel Wärme in mir übrig, war aber sehr entschlossen, es zu wagen. So kam es, dass ich eines Tages nicht mehr allein war, und bald nicht mehr zu zweit, sondern zu dritt. Aus meinem Ei schlüpfte das schönste Küken der Welt, zu dem meine Liebe bedingungslos und endlos war. Ein Nest war schnell gebaut und mein Innerstes war nicht mehr ganz so düster. Ich erlebte glückliche, kritische und schmerzliche Momente und war am Leben. Ich atmete nicht so tief wie in der Freiheit, aber Hauptsache ich atmete. Mein Küken war der Lichtblick, den ich brauchte. Mein Partner gab mir den nötigen Halt, um nicht wieder gänzlich zu versinken. Die Zeit verstrich. In mir haben die Gedanken über diese Freiheit nie ganz aufgehört, doch sie sind verblasst und ich lernte mit ihnen zu leben. Manchmal holten sie mich ein, wenn ich spätabends oder in der Nacht aus meinem Käfig heraus in die Sterne schaute. Dann fragte ich mich, ob es das jetzt tatsächlich gewesen sei.
So viel Zeit ohne die Freiheit war, seit ich diese kannte, noch nie vergangen. Offensichtlich hatte sich die Freiheit vor längerer Zeit ein Vögelchen gesucht, mit dem sie besser zurechtkam, das besser flog als ich und nicht alles auf einmal wollte. Ein Vögelchen mit Geduld und viel Liebe. Ein Vögelchen, welches die Freiheit mit ihrer Sonne, dem Wind und dem Schimmern noch schöner machte. Doch tief in mir wusste ich, dass es niemals einen Vogel geben wird, der mit der Freiheit eine so tiefe Verbundenheit empfinden wird wie ich. Beim Gedanken daran ärgerte ich mich darüber, dass ich all dies nicht konnte und der Freiheit nicht genügte. All diese Fragen in meinem Kopf kamen nie zu einer Antwort. Ich gab mich zufrieden mit allem, was ich mir in meinem Käfig geschaffen hatte. Es genügte mir zum Glücklichsein. Ich war stolz und kämpfte tagein tagaus für meine kleine Vogelfamilie. Jahr um Jahr war ich mir zunehmend sicher, dass die Freiheit zur Vergangenheit gehörte.
Plötzlich, an meinem Geburtstag, wieder ein helles Licht! Ein Licht, wie ich es nur von der Freiheit kannte. Mein Bauch kribbelte. Ein erfrischender Windstoß, so wie ihn nur die Freiheit jedes Mal durch mein Federkleid fahren ließ, ich zitterte. Ein Glänzen, so schön wie ich es vorher nie kannte – bis auf meine Zeit mit der Freiheit. Mein Kopf wurde ganz heiß. Das alles konnte nur eines bedeuten. Ich wagte den Blick zu meiner Käfigtür und sie stand offen. Ich war fassungslos und konnte das alles gar nicht glauben. Die Freiheit, sie war wiedergekommen, zu mir. Ja, zu mir! Sie schien mich doch nicht vergessen zu haben. Vor lauter Aufregung dachte ich nicht an Richtig oder Falsch und wagte mich langsam und eher schleichend nach draußen. Diesmal war kein Blick zurück in meinen Käfig nötig, denn mittlerweile war ich mir sicher, dass ich hier sowieso wieder landen würde. Dieses Mal wollte ich es aber anders machen. Ich wollte den Zeitpunkt, an dem ich zurückkehre, selbst bestimmen, und ich wollte, dass es sanfter ablief als die vorhergehenden Male. Da war er wieder, der Wind, der mir unter die Flügel fuhr. Ich stieß mich ab und flog. Wie hatte ich das vermisst, dieses Atmen, es war einmalig! Alles kribbelte und kitzelte an mir, ich fühlte mich so lebendig wie jahrelang nicht mehr. Ich genoss das warme Lächeln der Sonne auf meinem geschundenen Gefieder, ich kostete jeden Windzug aus, war er auch noch so klein. Ich tat dies alles zärtlich und gefühlvoll. Ich flog nur dorthin, wohin die Windstöße mich haben wollten, ließ mich tragen, versuchte nichts zu überstürzen oder zu erzwingen. Ich legte den Kopf in den Nacken und blinzelte durch die Augen in dieses sanfte, wärmende Licht. Das Schimmern und Funkeln brachten mich zum Jauchzen. Ich bin am Leben! Ja, ich bin am Leben und ich bin lebendiger als je zuvor. Was hatte ich nur alles verpasst? Auf was für großartige Gefühle musste ich nur all die Jahre verzichten! Ich war schockiert, wie lange ich es ohne die Freiheit nur aushalten konnte! Es war wunderschön, ich begegnete der Freiheit mit viel Achtung und Stolz. Es war ein großes Privileg für mich, sie tatsächlich erneut genießen zu können und es breitete sich Dankbarkeit in mir aus. Dieses pure, reine Glück kann ich niemandem beschreiben.
Nach einer Weile nahm der Wind zu. War ich jetzt schon ein paar Tage geflogen? Die Zeit verging so schnell, weil es so schön war. Ich fragte die Freiheit, warum wir nicht zusammen sein können und warum ich sie nicht mit in meinen Käfig nehmen oder hier bei ihr bleiben könne. Sie antwortete mir sanft, aber fest entschlossen, dass sie nicht mitkommen könne, weil sie hier sonst alles, was aus ihr geschaffen wurde, allein lassen müsse. Und ich könne nicht bei ihr bleiben, weil ihr diese starke Anziehungskraft, die zwischen uns herrscht, Angst mache. Die Freiheit erklärte mir, dass sie mich nicht dauerhaft um sich haben kann, da sie zu solch etwas Großem nicht fähig sei. Doch sie musste mich immer wieder in meinen Käfig sperren, damit sie wusste, dass sie mich nicht ganz verliert. Denn ganz ohne mich konnte sie nicht sein, sonst hätte sie mich nicht immer wieder für ein paar Traumflüge zu sich geholt.
Der Wind ließ mich nicht mehr gleiten und ich fing an zu wackeln. Nein, nicht schon wieder ein Absturz! Das wollte ich nicht. Gefühlvoll und vorsichtig gleitete ich zu Boden. Ich sah mir die Freiheit noch einmal ganz genau an. Ich nahm noch einmal einen tiefen Atemzug. „Danke“, konnte ich ihr nur sagen und sie schimmerte und funkelte mich an wie nie zuvor. Ich war so glücklich und wollte noch gar nicht zurück, aber ich musste, sonst würde es wieder ungemütlich für mich enden. Das hatte ich inzwischen von der Freiheit gelernt.
Ich hüpfte diesmal ganz von allein auf meine offene Käfigtür zu und sah noch einmal zurück. Obwohl der Wind der Freiheit inzwischen tobte, streichelte sie mir ein letztes Mal noch mit einem Sonnenstrahl über meine Federn. Dieses Mal habe ich keine Feder verloren. Dieses Mal gehe ich von allein zurück in meinen Käfig und bin voller Dankbarkeit, dieses Glück noch einmal erlebt haben zu dürfen.
Der Abschied fällt mir jedoch schwer. Schnell hinterlasse ich eine kleine zarte Feder von mir. Und diesmal freiwillig, damit ich weiß, dass ein Teil von mir immer im Wind der Freiheit wehen wird. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Wie kann man nur zufrieden und gleichzeitig so unglücklich sein? Das werde ich wohl nie verstehen. Ich hüpfe in meinen Käfig, die Tür schließt sich sanft hinter mir und ein letztes Glitzern ist zu sehen. Nun weiß ich, dass die Freiheit auch mich vermisst hat, sie hat genauso auf mich gewartet wie ich auf sie. Sie hat meinen Rundflug genauso genossen wie ich. Sie war bei jedem meiner Ausflüge über die Jahre hinweg genauso ängstlich wie ich. Nun haben wir eine sanfte Landung geschafft. Von diesem Erfolg fühle ich mich noch ganz betrunken und am Himmel fliegt auch noch eine Sternschnuppe vorüber. Ich bin erschöpft, müde und merke, dass ich schon lange nicht mehr gegessen und getrunken habe, weil ich von der Freiheit zehren konnte. An die Sternschnuppe richte ich gedanklich noch eine tiefe Dankbarkeit und ein „Lebewohl“, bevor ich zufrieden in den Schlaf sinke. Die Freiheit weiß jetzt so gut wie ich, dass ich sie nicht mehr besuchen werde, weil ich es nicht ertragen kann, sie nicht dauerhaft haben zu können.
5 Sterne
Erstaunlich  - 12.10.2023
KI. KA.

Dieses Buch zeigt eindeutig neue Blickwinkel auf, aus frustrierend en Situationen zu lernen. Und gibt einem dabei gleich eine Schritt für Schritt Anleitung mit auf den Weg. Alles in allem ein rundes Ding.

5 Sterne
ein außergewöhnliches Buch - 03.08.2022
Heike K

Die Autorin blickt dabei genial aus verschiedenen Blickrichtungen auf belastende Situationen und findet neue ,ungewöhnliche Wege zur Verarbeitung.Man kann nur lernen.Stark!K

5 Sterne
Über das Buch ,,Flügelschlag für Flügelschlag" - 21.05.2022
~Jo

Ich kenne Personen, bevor sie das Buch gelesen haben und nachdem sie es gelesen haben. Diese Personen waren nach dem Lesen wieder sie selbst. Sie sind vorher sozusagen in ein großes schwarzes Loch gefallen und fanden keinen Ausweg. Dieses Buch hat ihnen geholfen einen Ausweg aus ihrem unendlich großen und Schwarzen Loch zu finden. Ich möchte damit sagen das es auch euch helfen kann. Ihr müsst es nur wollen. Das Buch ist sehr zu empfehlen. Findet ihr Mal Keinen Ausweg, wird euch dieses Buch helfen den Ausweg zu finden.

5 Sterne
Ungewöhnlich sehr persönlich - 24.04.2022
M. H.

Die verschiedenen Ansichten auf das Leben regen zum Nachdenken über das eigene Leben an und können eine Hilfe sein, um mit verschiedenen Lebenskrisen oder Situationen umzugehen. Auf alle Fälle lesenswert, da es aus dem Durchschnittlichen heraussticht.

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