Die dem Schicksal trotzen

Die dem Schicksal trotzen

Sternstunden

Elisabeth Winter


EUR 26,90
EUR 16,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 580
ISBN: 978-3-99038-908-9
Erscheinungsdatum: 24.11.2015
Nach Elisabeths Kindheit, geprägt von Habsucht, Lieblosigkeit, Hass und Gier ihrer Eltern, aber auch von der liebevollen Zuwendung ihres Erziehers, lernt sie mit 16 Jahren die Liebe kennen. Die schönste Zeit ihres Lebens beginnt. Doch das Schicksal missgönnt ihr das Glück und schlägt erbarmungslos zu.
Vorwort

Diese Erzählung basiert auf einer wahren Begebenheit

Das vierte Gebot Gottes: Du sollst Vater und Mutter ehren, damit du lange lebest und es dir wohlergehe auf Erden, hätte das Mädchen nur allzu gerne befolgt, aber als unerwünschtes Zufallsprodukt einer narzisstischen Frau und eines skrupellosen Mannes wurde ihm die Liebe zu seinen Eltern vergällt. Das Paar sah in ihrem Kind unnötigen Ballast, schob es beiseite, und als es alt genug war, versuchte jeder der beiden auf seine Art, das Mädchen zu benutzen. Das Leben des Kindes war überschattet von der Gleichgültigkeit, Geldgier und Bosheit seiner Eltern. Allmählich lehnte es das Gebot Gottes ab und begann die Eltern zu verachten.

Ihr Vater, ein ehemaliger SS-Soldat in Hitlers Armee, heiratete seine schwangere Freundin, da sie ihm half sein Blutgruppentattoo aus seinem linken Oberarm zu entfernen, sozusagen als Lohn für ihre Hilfe, um von der Verfolgung der Militärpolizei der amerikanischen Besatzungsmacht verschont zu bleiben. Liebe empfand er weder für die Frau noch für die Tochter. Schon kurz nach der Geburt des Kindes suchte er außereheliche Vergnügungen. Ihre Mutter, von jungen Jahren an narzisstisch, entwickelte sich im Laufe dieser unglückseligen Ehe zu einer hasserfüllten Person und machte Elisabeth, ihre Tochter, für ihr missratenes Leben verantwortlich.

Als Elisabeth und ich einander trafen, bemerkte ich Trauer in ihren Augen. Ich überlegte, wieso eine Frau ihres Formates in die Lage kommen konnte, so oft traurig zu sein. Es dauerte Jahrzehnte, bis sie genug Vertrauen zu mir hatte und mir ihr Leben, ohne das kleinste Detail auszulassen, erzählte.

Elisabeth wuchs in der Obhut Carolos, ihrem Erzieher und in der Obhut ihrer Großeltern auf. Ihr Erzieher gab ihr Geborgenheit und Liebe bis zu ihrem elften Lebensjahr. Durch seinen Tod nach einem Schlaganfall verlor sie an ihm zwei Personen in einem: ihre „Mutter“ und ihren „Vater“. Ihre Großeltern betreuten sie mit Liebe bis zu dem Tag, als ihr Vater in zweiter Ehe eine wesentlich jüngere Frau heiratete. Die junge Frau des Vaters verstand es, sich in das Herz der Großmutter mit süßem Gerede einzuschleichen. Elisabeth verabscheute diese Frau, bemerkte, dass sich ihre Großmutter von dieser total vereinnahmen ließ, und zog zu ihrer Mutter. Die herrische Frau erwartete von der Tochter das Einfühlungsvermögen einer Erwachsenen. Elisabeth stand nun vor dem Problem des Rollentausches, sie als Tochter sollte die vernünftige Erwachsene sein und die unreife Frau, ihre Mutter, erlaubte sich alle Allüren einer Heranwachsenden. Handelte die Tochter dem Willen der Mutter zuwider, waren Wutausbrüche die Folge. Sie behandelte ihre Tochter wie ihren Besitz. Nach einem heftigen Streit flüchtete Elisabeth aus der Wohnung, da ihre Mutter handgreiflich wurde. In ihrer Not floh sie zu ihrer Mathematiklehrerin und deren Gatten, ihrem Englischlehrer. Das Ehepaar beabsichtigte, an diesem Samstagnachmittag ins amerikanische Kulturinstitut zu fahren. Sie luden Elisabeth ein, sie zu begleiten. Als 16jährige lernte sie an diesem Tag den Amerikaner Dennis O’Brian, ihre große Liebe, kennen. Er, 17 Jahre älter als sie, bat ihren Vater ein Jahr nach dem Kennenlernen um Elisabeths Hand. Ihr Vater verbot ihr die Ehe mit diesem Mann, wohl aus eigennützigen Gründen, denn seine dubiose SS-Vergangenheit in Hitlers Armee und die Unterschlagung von Elisabeths Erbe in seiner Eigenschaft als ihr Vormund, ließen ihn befürchten, dass Dennis seine dunklen Geheimnisse unter Umständen eines Tages lüften könnte.

Rudi, ein Jahr älter als Elisabeth, wuchs gemeinsam mit seiner Schwester in einer scheinbar intakten Familie auf. Die harten Erziehungsmethoden des Vaters, die ausschließlich Rudi zu spüren bekam, trugen dazu bei, die Abneigung gegen seine Familie zu fundamentieren. Selbst dem jungen Erwachsenen versuchte der Vater seinen Willen aufzuzwingen und in sein Leben einzugreifen.
Um noch lebende Personen zu schützen, wurden den Akteuren andere Namen verliehen. Auch die Orte der Handlungen wurden geändert.
Die Hauptakteurin trägt, auf ihren Wunsch, den Vornamen der Autorin. Etwaige Namensgleichheiten mit existierenden Personen wären rein zufällig.



Kapitel 1, Dennis

Die wirtschaftliche Lage in den USA zwischen den Jahren 1919 und 1929 zeichnete sich durch enorme Produktionssteigerungen sowohl in der Konsumgütererzeugung als auch in der Landwirtschaft aus. Die Ursachen dafür lagen einerseits in der Automatisierung der Herstellungsprozesse und damit der Übergang zur Massenproduktion, andererseits an der vermehrten Verwendung von Maschinen wie Traktoren und Mähdrescher in der Landwirtschaft. Das führte im Lauf dieser Jahre dazu, dass die Preise für landwirtschaftliche Waren ständig zurückgingen, bis der Markt nahezu kollabierte. Gleichzeitig breitete sich das Spekulationsfieber aus und ergriff auch Gesellschaftsschichten, die traditionell unerfahren dem Börsengeschäft gegenüberstanden. Um Aktien kaufen zu können, setzte man hier vermehrt und unüberlegt auf Kredite, teilweise zu geradezu ruinösen Zinssätzen. Das rasch ansteigende Produktionsvolumen gaukelte vielen Menschen hohe Kursgewinne vor, mit deren Hilfe die Kredite rasch zurückgezahlt werden könnten. 1929 brach die Nachfrage sowohl für Konsumgüter als auch für landwirtschaftliche Produkte dramatisch ein. Massenarbeitslosigkeit war die Folge.
1930, als Dennis geboren wurde, hatten seine Eltern noch für seine beiden älteren Brüder zu sorgen.
Das Familienoberhaupt, ein Abkömmling irischer Einwanderer, arbeitete als Hilfsarbeiter in einer der Schiffswerften in der Bucht von Erie im Staate Pennsylvania. In diesen Betrieben beschäftigte man hauptsächlich irische, russische und italienische Emigranten. Basil, bereits in den USA geboren, erlangte keine höhere berufliche Qualifikation. Er begnügte sich damit, als schlecht bezahlter Hilfsarbeiter sein Auslangen zu finden. Das Mädchen Mary, ebenfalls von Einwanderern abstammend, lernte er bei einer Tanzveranstaltung kennen. Sie verfiel seinem Charme, seinem guten Aussehen und überglücklich gab sie ihm nach kurzer Zeit ihr Jawort.
Marys Eltern, Alfred und Esther, stammten beide aus der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Armut und Politik in der Zeit zwischen 1876 und 1910 hatten einige Millionen Menschen aus der Donaumonarchie vertrieben. Mehr als zwei Millionen der abwandernden Personen stammten aus dem Westen des Kaiserreiches und viele der Auswanderer emigrierten in die USA.

Mary liebte ihren Mann zu sehr und fand immer wieder Entschuldigungen für ihn, wenn er erst spätnachts betrunken nach Hause kam. Er witzelte dabei auf drollige Art über die Plagen des Lebens und in ausschweifenden Monologen schilderte er, wie sehr er Whisky benötige, um all die Alltagslast zu vergessen. Mit lautem Gesang als Draufgabe besiegelte er seine Ansprachen. Er hatte eine kräftige Stimme und bevorzugte irische Volkslieder. Trotz Prohibition gelang es ihm, seinen täglichen Bedarf an Alkohol zu decken.

Die Prohibition in den USA verbot landesweit die Herstellung, den Verkauf und den Transport von Alkohol. Der „Volstead Act“ passierte im Jahr 1919 den Kongress und definierte die unter dieses Gesetz fallenden alkoholischen Getränke. Obwohl der Kongress Alkohol nun offiziell aus dem öffentlichen Leben verbannte, kontrollierte man zu wenig, um dieses Gesetz auch zu exekutieren. Als Ergebnis dieser Nachlässigkeit seitens der Behörden breitete sich der illegale Handel sehr rasch aus. Die organisierte Kriminalität basierte auf diesem Kongressbeschluss. Allein in New York stieg die Anzahl der Alkohol ausschenkenden Kneipen von 5000 im Jahr 1922 fünf Jahre später auf über 30.000. Während der „Großen Depression“ gewannen die Gegner der Prohibition immer mehr die Oberhand und 1933 beendete Franklin D. Roosevelt mit der Unterzeichnung eines Gesetzes die Zeit des Alkoholverbots.

Gerade erst zehn Monate verheiratet, gebar Mary ihren ersten Sohn. Die Geburtswehen setzten am Nachmittag des 9. November 1926 etwas verfrüht, aber ziemlich heftig ein. Mary hielt sich alleine zu Hause auf. Die Wehen kamen knapp hintereinander. Dadurch unfähig, zur Hebamme zu laufen, ging sie zur Nachbarin und ersuchte sie, die Geburtshelferin zu verständigen. Die Hebamme wohnte in der Nähe. Sie traf nach kurzer Zeit bei Mary ein, um ihr beizustehen. Für eine Erstgebärende verlief die Geburt überraschend gut. Nach fünf Stunden lagen die Wöchnerin sowie das Neugeborene, von der Geburtshelferin bereits inspiziert und gesäubert, im frisch überzogenen Bett. Mary bat die Hebamme: „Bitte, Jenny, sei so nett und gib meinem Vater Bescheid. Er freute sich so sehr auf sein Enkelkind. Bestimmt will er es so schnell als möglich sehen. Du weißt ja, wo er wohnt.“ Jenny versprach, dies gerne zu tun. Marys Elternhaus lag nur unweit von dem der Hebamme entfernt. Sie gab Mary noch einige Verhaltensmaßregeln, verabschiedete sich und lief zu Alfred, um ihm die Geburt seines Enkelsohnes mitzuteilen.
Alfred ließ seine Arbeit liegen, warf seinen Mantel über die Schultern, versperrte die Haustüre und schlüpfte erst im Gehen in das Kleidungsstück. Er überquerte im Laufschritt einige Gassen, erreichte in wenigen Minuten das Wohnhaus, ging hinein und pochte an die Wohnungstüre der kleinen, schäbigen Mietwohnung der O’Brians. „Papa, komm herein, die Türe ist offen“, rief Mary.
Er betrachtete seine Tochter und sein Enkelkind. „Wo ist dein Mann?“, fragte er Mary. „Ach, Basil weiß noch nicht, dass der Kleine schon auf der Welt ist. Du weißt ja, wir rechneten erst in einer Woche mit der Geburt“, entgegnete Mary. „Aber jetzt sag doch, Papa, ist der Bub nicht bezaubernd? Sieh nur, wie er sein Mündchen verzieht! Wem, meinst du, sieht er ähnlich?“ Alfred sah den Kleinen liebevoll an, dabei strich er zärtlich über Marys Haar. „Ja, Mary, ein wunderschöner Junge“, stellte er fest. „Aber wann kommt dein Mann? Du brauchst doch jetzt ein bisschen Ruhe und Pflege. Es ist schon so spät. Er müsste schon längst Dienstschluss haben.“ Beunruhigt sah er auf die Küchenuhr. „Papa, Basil arbeitet lange. Manchmal schmeißt er auch nach Arbeitsschluss ein, zwei Runden Bier für seine Kollegen. Legst du noch einige Scheite Holz in den Ofen? Wärme mir bitte auch die Suppe auf, und schneide für mich ein Stück Brot ab. Ich bin hungrig.“
Er füllte einen tiefen Teller mit dampfender Suppe, schnitt eine dicke Scheibe Brot in Häppchen und servierte Mary die Mahlzeit. Sie stellte ihre Polster hoch, lehnte sich dagegen und aß mit Appetit. Die Geburt hatte sie doch mitgenommen. Sogleich nach dem Essen schlief sie erschöpft ein. Alfred entschloss sich so lange bei Mary zu bleiben, bis Basil nach Hause kommen würde. Er zweifelte daran, dass Mary eine gute Wahl mit ihrem Ehemann getroffen hatte. Natürlich wusste er, wie sehr seine Tochter diesen Mann liebte, deshalb behielt er seine Meinung für sich. Besorgt schaute er auf seine schlafende Tochter und den Kleinen. Das Neugeborene nuckelte.
Basil kam erst kurz vor Mitternacht nach Hause und wunderte sich,, den Schwiegervater in seiner Wohnung anzutreffen. Er war betrunken. Alfred nannte ihm den Grund seiner Anwesenheit, doch angewidert vom Zustand des Schwiegersohns nahm er seinen Mantel und sagte beim Verlassen der Wohnung zu Basil: „Morgen komme ich wieder. Bitte erkläre Mary, dass ich mich um sie kümmere.“ Basil murmelte unverständliche Worte, ging ins Zimmer, warf einen kurzen Blick auf seine schlafende Frau und das Baby. Er legte sich neben sie und schlief sogleich ein.
Basil erwachte am nächsten Morgen mit übler Laune, kroch verkatert aus dem Bett, ging in die Küche und verlangte seinen Morgenkaffee. Mary saß in der Küche und stillte das Kind. Sie zeigte ihm seinen Sohn und wollte von Basil liebevolle Worte hören. Dieser jedoch blickte nur stumpfsinnig auf seinen Sohn. „Noch einer, der fressen will und mir mehr Arbeit aufhalst.“
Mary verlangte gekränkt eine Erklärung für Basils ekelhaftes Verhalten: „Warum redest du solchen Unsinn? Du solltest stolz auf deinen Sohn sein. Übrigens, auch ich arbeite den ganzen Tag! Dein Einkommen alleine reicht nicht für Miete und Lebensunterhalt. Ich bin an harte Arbeit genauso gewöhnt wie du! Nur ich versaufe nicht mein Geld, ich bezahle die Miete dieser schäbigen Wohnung, verpflege dich, kaufe Zigaretten und Kaffee und hin und wieder leiste ich uns Kinokarten.“
Genug von Marys Geheule, wie Basil es nannte, fuhr er sie an: „Du undankbare Frau, du beklagst dich? Du musst froh sein, dass ich dich überhaupt genommen habe. Ich hätte schönere und bessere Frauen haben können. Aber ich Esel bin auf ein Waschweib hereingefallen.“
Mary goss den frisch aufgebrühten Kaffee in Basils Tasse, setzte sich perplex ob der Antwort wieder hin und starrte ihren Mann sprachlos an. Er nahm einen tiefen Schluck aus der Schale, verbrannte sich den Mund und warf die Tasse gegen die Küchenwand. Er verließ die Wohnung, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Wie ferngesteuert stand Mary vom Sessel auf, nahm ein Putztuch und versuchte den Kaffeefleck an der Wand wegzuwischen. Klar erkannte sie, welchen Illusionen sie sich hingegeben hatte! Tief gekränkt grub sich der Gedanke in ihr Bewusstsein: „Basil liebt mich nicht mehr, wahrscheinlich hat er mich nie geliebt.“ Mary hatte sich nie für attraktiv gehalten. „Aber er muss doch nicht so gemein zu mir sein“, dachte sie. „Ach, wie glücklich war ich vor einem Jahr! Er, der gut aussehende Mann, heiratete mich unscheinbares Ding. Er gaukelte mir vor, die Liebe seines Lebens zu sein.“ Traurig kümmerte sie sich wieder um ihr Baby. „Dominik sollst du heißen, mein Kleiner“, sagte sie zu ihrem Kind. Sie weinte.
Ihr Vater sah am nächsten Tag sehr früh nach ihr. Er besorgte im Geschäft an der Ecke einige Nahrungsmittel. Es erschien ihm momentan am wichtigsten, ihr eine kräftige Mahlzeit zubereiten zu können. Mary begrüßte ihn traurig. Weinend erzählte sie ihm von dem gemeinen Gerede ihres Mannes. Alfred versucht erst gar nicht, sie mit Worten zu trösten. Er drückte sie nur fest an sich und nahm sich vor, ihr vorläufig in allen Belangen des Haushaltes sowie der Kinderpflege beizustehen.
Reiche Frauen leisteten sich nach der Geburt eines Kindes mehrere Wochen Ruhe. Arme Frauen hingegen schufteten meistens schon wieder nach ein oder zwei Tagen, um den Haushalt und die Arbeit zu bewältigen. Da ihr Vater tatkräftig half, blieb Mary Zeit, um ausreichend zu ruhen. Sie erholte sich rasch von der Geburt. Der kleine Dominik, unberührt von den Problemen seiner Mutter, saugte hungrig ihre Brüste leer. Er schlief ausgiebig nach den Mahlzeiten und gedieh prächtig.
Zwei Wochen nach der Geburt beschloss Mary, wieder außer Haus zu arbeiten. Trotzdem achtete sie darauf, körperlich schwere Arbeiten vorübergehend zu vermeiden. Marys Kunden schätzten ihr Talent für Näh- und Handarbeiten. Sie verdiente zwar beim Ausbessern oder Umändern von Kleidern und Wäschestücken weniger als beim Putzen oder Gartenarbeiten, aber dafür durfte sie den Säugling zur Kundschaft mitnehmen.

Wenn Basil Geld hatte, soff er und ließ seine Familie links liegen. Hatte er kein Geld, ging er, wenn er nicht zum Saufen eingeladen wurde, nach Hause und versuchte seine Frau wieder auf seine Seite zu bringen. Mit Schmeicheleien gepaart mit seinen Verführungskünsten gelang es ihm, Mary bald wieder ins Ehebett zu locken und zusätzlich noch ein wenig Geld für Bier von ihr zu ergattern.
Mary erkannte seine Falschheit immer noch nicht. Sie bot ihm an: „Ich gebe dir Geld für ein Glas Bier. Trink dein Bier bei Eddi und sag ihm, dass ich bald wieder in der Lage bin, bei ihm zu arbeiten, und frag ihn, ob ich mein Baby mitnehmen darf.“ Er versprach es zu tun und hielt sein Versprechen. Bestimmt versuchte er anschreiben zu lassen, um einige Gläser Bier mehr konsumieren zu können, aber Eddi blieb hart. Er bestand auf Barzahlung.
Basil umschmeichelte Mary, auch nützte er ihre Schwäche für ihn schamlos aus. Sie folgte ihm willig ins Ehebett, wo er raffiniert seine sexuellen Gelüste befriedigte. Das Resultat ihrer schwachen Stunden war eine erneute Schwangerschaft. Ihr zweiter Sohn kam am 10. Oktober 1927 zur Welt und sie taufte ihn David.
Wieder half ihr Vater bei der Versorgung der Kinder, kochte die Mahlzeiten und hielt die dürftige Wohnung sauber. Auch von der zweiten Geburt erholte sich Mary rasch. Als Mutter von zwei Babys war es ihr vorläufig unmöglich, außer Haus zu arbeiten. Sie nahm eine Heimarbeit als Näherin an, verdiente gerade so viel, um Essen und Miete bezahlen zu können. Dafür schuftete sie meist bis spät in die Nacht hinein. Sie arbeitete oft noch, wenn Basil spätabends sturzbetrunken zur Türe herein torkelte. Dabei hielt er in gewohnter Manier Vorträge über die Ungerechtigkeit seines Lebens, sang laut, ohne Rücksicht auf die kleinen, schlafenden Kinder zu nehmen, mit heiserer Stimme bis zur Erschöpfung. Danach verkrümelte er sich grunzend ins Bett.

Das Eheleben der O’Brians verlief weiterhin trostlos. Basil trank erhebliche Mengen Whisky, während Mary bei Eddi in der Küche half, die Häuser von reichen Menschen putzte und bis spät in die Nacht nähte. Die zwei kleinen Söhne wurden abwechselnd vom Großvater oder Jenny, Marys Freundin, betreut. Mary wunderte sich, woher Basil das Geld für seine Saufgelage nahm. Hin und wieder legte er ihr sogar ein paar Dollar auf den Tisch. Dabei unterließ er es nie, seine geliebten Sprüche von seiner Großzügigkeit von sich zu geben. Sein Alkoholkonsum nahm ständig zu und sein Aussehen veränderte sich. Da er nur wenige Tage im Monat nüchtern war, erholte sich sein Körper kaum mehr von den Strapazen des übermäßigen Alkoholgenusses. Seine rot unterlaufenen Augen im aufgedunsenen Gesicht reflektierten die von der Sucht geprägte Seele. Nach einer besonders langen Sauftour schleppte er sich in die Wohnung, wo er bewusstlos zusammenbrach. Mary plagte sich, ihn ins Bett zu hieven. „Soll ich einen Arzt rufen?“, überlegte sie besorgt. Sie holte die gesäuberte Konservendose hervor, in der sie Geld für Notfälle aufbewahrte, und zählte die wenigen Scheine. Sie sagte sich, dass er schließlich ihr Ehemann sei und sie ihn nicht so einfach sterben lassen könne. Sie lief zum Haus des neu angesiedelten Arztes. Der Weg dorthin nahm nur wenige Minuten in Anspruch und der Arzt war zu Hause. Sie beschrieb ihm den Zustand ihres Mannes. Der Arzt erkannte, dass sein Eingreifen dringend erforderlich war. Beide beeilten sich, dem Patienten beizustehen. In der Wohnung angekommen untersuchte er Basil und diagnostizierte eine Alkoholvergiftung. Er gab Basil eine Spritze, wies Mary an darauf zu achten, dass sich der Patient, falls dieser die Nacht überleben sollte, an ein striktes Alkoholverbot zu halten habe, und verabschiedete sich.
Basil überlebte. Die Nachwirkungen seines Rausches und der Entzug bereiteten ihm erhebliche Beschwerden. Nach vier Wochen erholte er sich so weit, um wieder arbeitsfähig zu sein. Seine Arbeit in der Schiffswerft jedoch verlor er.
Hilfsarbeiter fanden in dieser Zeit leichter Arbeit als Facharbeiter. Basils Aussehen verbesserte sich zusehends. Er bekam wieder Arbeit und versprach Mary für den Rest seines Lebens trocken zu bleiben. Wieder glaubte sie ihm.
Wie oft muss ein gut aussehender Mann eigentlich lügen, bis eine verliebte Frau – Mary liebte ihren Mann sehr – die Durchtriebenheit des Säufers endlich akzeptiert?
Mary lebte jenseits von Reichtum und Glück. Sie hielt sich selbst für unwichtig. Trotz zierlicher Figur – von hinten sah sie aus wie eine Gehpuppe – und dem glänzenden, dichten Haar, kastanienbraun, in weichen Wellen über ihre Schultern fallend, hielt sie sich für hässlich. Bevor sie Basil geheiratet hatte, hatten sie viele Menschen attraktiv gefunden. Der ehrliche Ausdruck und ihre Freundlichkeit hatten ihr kleines Gesicht geziert. Ihre Augen hatten vor Lebensfreude gestrahlt. Das wunderbare Haar hatte die Unregelmäßigkeit der Gesichtszüge kaschiert. Ihr Haar und die wohlgeformte Figur hatten den Blickfang gebildet, dem so mancher Mann einen zweiten Blick geschenkt und ihr zugelächelt hatte.
Nun nach nur fünfjähriger Ehe mit Basil veränderte sich ihr Aussehen. Harte Arbeit, Entbehrung und Basils lieblose Behandlung verbitterten sie. Sie wurde introvertiert und traurig. Mary verlor an Gewicht nebst Lebensfreude, denn sie schuftete rund um die Uhr, um sich und die Söhne zu ernähren.
Im Gegensatz zu ihr erholte sich Basil. Er trank vorläufig keinen Tropfen Alkohol, daher gesundete er rasch. Auch bei der Arbeitssuche hatte er Glück und ergatterte eine besser bezahlte Hilfsarbeiterstelle in der Stahlindustrie. Gut gelaunt, sich dazu noch stark fühlend begann er wieder seine Frau zu umschwärmen und erinnerte sie an gewisse Ehepflichten. Er bezirzte sie ausdauernd und am fünften Hochzeitstag schenkte er ihr sogar fünf rote Rosen. Dankbar für die Blumen, folgte sie ihm wieder ins Bett. Er verstand es schon ihr Vergnügen zu bereiten. Im April 1930 wurde Dennis geboren.
Die Geburt des dritten Sohnes verlief genauso unkompliziert wie die beiden anderen. Auch diesmal erholte sich Mary rasch von der Geburt. Ihr Vater stand wieder helfend an ihrer Seite.
Basil nahm die Geburt des dritten Sohnes als Anlass zu feiern: „Ich gehe auf ein kleines Bier zu Eddi.“
Mary antwortete: „Nun gut, du kommst ja bald wieder.“
„Aber sicher, mein Liebling“, versprach er. Er kehrte nie wieder heim. Polizeiliche Suchaktionen blieben erfolglos und nach adäquater Zeit erklärte man ihn für tot.

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