Der anderen Tod
Jacob Lacur
EUR 23,90
EUR 19,99
Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 100
ISBN: 978-3-99131-176-8
Erscheinungsdatum: 10.05.2022
Roberts Ehe zerbricht und seine Töchter vereinsamen, da ihr Vater sich weniger um sie kümmert und stattdessen den rätselhaften Selbstmord seines Vaters erforscht. Während er sich mit dessen Tod beschäftigt, ereilt die Familie der nächste Schicksalsschlag …
Gewidmet der finnischen Tänzerin
und Choreographin
Hannele Järvinen
Vorwort
ZEIT: Mitte der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts
ORT: Stadt an einem Fluss in Norddeutschland
JAHRESZEIT: Herbst
Den Rahmen von DER ANDEREN TOD bilden Texte aus der Offenbarung des Evangelisten Johannes, das Gemälde „Die Visionen des Evangelisten Johannes auf Patmos“ von Hans Memling und die „Messe in h-Moll“ von Johann Sebastian Bach.
Als Naturphänomen gehören zu dem Rahmen der „Flug der Kraniche“.
Alle vier Elemente begleiten leitmotivisch das Geschehen der Handlung und verweisen im Bild und in der Musik auf einen transzendentalen Hintergrund, in dem Sinn, wie Adorno es in seinen „Meditationen zur Metaphysik“ formuliert: „Kein Licht ist auf den Menschen und Dingen, in dem nicht Transzendenz widerschiene“.
Wiederholt nimmt die Lebensgeschichte der Familie Brunner in dem Drama Bezug auf das Gemälde von Hans Memling und dessen allegorische Deutung der Apokalypse. Nach christlichem Glauben soll ja unser ganzes Leben unter dem Verdikt des letzten Gerichtes, der Verdammnis oder der Erlösung stehen. Auch wenn uns solche biblischen Deutungen heute nicht mehr existentiell berühren oder beunruhigen, bleiben sie doch in ihrer symbolhaften Bedeutung Teil unser geistigen wie kulturellen Tradition, denen wir in Kirchen oder Museen in stiller oder auch andächtiger Bewunderung begegnen. Es ist unsere Geschichte, die uns mit der Vergangenheit verbindet und uns in bestimmten Momenten, die wir weder voraussehen noch vorherbestimmen können, an jene andere transzendentale Wirklichkeit erinnert. In diesem Sinne berühren sich in dem Drama beide Wirklichkeiten: die irdische Existenz mit der sakralen Transzendenz.
Die „Messe in h-Moll“ von Johann Sebastian Bach, die in ihren fünf Teilen des Ordinariums (Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus/Benedictus, Agnus Dei) den Kern des christlichen Glaubensbekenntnisses reflektiert und im „Symbolum Nicaenum“ Christus als den bezeichnet, der zur Rechten Gottes sitzt, „von dannen er kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten“, nimmt ebenfalls Bezug auf das Gemälde von Memling, bildet musikalisch aber einen utopischen Gegenentwurf zu den Schreckensvisionen der Apokalypse.
Die Kraniche gelten in der Mythologie als Mittler zwischen Himmel und Erde und erscheinen den Menschen als Götterboten. Ihr Flug und ihre Rufe sind in dem Drama – wie die Musik von Johann Sebastian Bach – Zeichen der Hoffnung und der Zuversicht in Augenblicken großer Einsamkeit und Trauer.
Handelnde Personen
EVA BRUNNER - Lehrerin (40)
ROBERT BRUNNER - Schriftsteller/Journalist (42)
ANNA BRUNNER - Schülerin (18)
STEPHANIE BRUNNER - Schülerin (12)
SUSANNE GRÖNTHAL - Malerin (32)
FRAU STADLER - Witwe, Evas Mutter (65)
EIN PFARRER - Roberts Vater
HANS BERGWALD (MAX GOLDMAN) - Roberts Studienfreund (46)
MARTHA BERGWALD - Pflegemutter von Hans
EINE TÄNZERIN und ENSEMBLE
MARIE - Haushilfe (Bäuerin)
EIN TOTENGRÄBER
DR. JACOBI - Internist
EINE FRAU MITTLEREN ALTERS - Grundschullehrerin
POLIZISTEN
Der anderen Tod
Es erscheint das Bild „Die Visionen des Evangelisten Johannes auf Patmos“ von Hans Memling: Zuerst der nackte ausgestreckte Fuß des Evangelisten, sein rotes faltenreiches Gewand, der Felsen, auf dem er sitzt, seine Hände, die auf dem aufgeschlagenen Buch ruhen, schließlich in voller Größe sein Gesicht. Während langsam die Bilder seiner Visionen im Hintergrund ins Bild kommen, hört man den gesprochenen Text aus der Offenbarung, Kp. 4, 1 und 6, 1–5, 7.
Zum Schluss wird der Pantokrator in der Regenbogen-Mandorla im Kreis der Ältesten sichtbar. Aus der h-Moll-Messe von Bach hört man leise die ersten Akkorde von „Sanctus“.
STIMME „Ich sah, und siehe, eine Tür war aufgetan im Himmel, und die erste Stimme, die ich gehört hatte mit mir reden wie eine Posaune, die sprach: Steig herauf, ich will dir zeigen, was nach diesem geschehen soll.
Und ich sah vier Gestalten. Und die erste hörte ich sagen: Komm! Und ich sah, und siehe, ein weißes Pferd. Und der darauf saß, hatte einen Bogen, und ihm ward gegeben eine Krone, und er zog aus sieghaft, dass er siegte.
Und es ging heraus ein anderes Pferd, das war feuerrot. Und dem, der darauf saß, ward gegeben, den Frieden zu nehmen von der Erde.
Und ich hörte die Stimme der dritten Gestalt sagen: Komm! Und ich sah, und siehe, ein schwarzes Pferd. Und der darauf saß, hatte eine Waage in der Hand.
Und ich hörte die Stimme der vierten Gestalt sagen: Komm! Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der darauf saß, des Name hieß Tod, und die Hölle folgte ihm nach.“
Die Visionen des Bildes verschwimmen langsam, während das Gesicht des Evangelisten in Großaufnahme erscheint. Die letzten Töne aus der h-Moll-Messe verklingen.
Der Pfarrer in schwarzem Anzug steht vor seinem Schreibtisch und hält einen Revolver in der rechten Hand. Er blickt zu dem Kruzifix an der gegenüberliegenden Wand, und während sein Auge sich immer heftiger, verzweifelter an das Leidensgesicht des Gekreuzigten heftet, das nun in Großaufnahme erscheint, dringen beider Blicke so ineinander, dass sie nicht mehr zu unterscheiden sind.
In diesem Augenblick hört man aus der h-Moll-Messe von J. S. Bach „Qui tollis peccata mundi“ – und einen Schuss. Während die Musik weiter zu hören ist, sieht man eine Frau von ihrer Rückseite durch einen spärlich beleuchteten langen Flur rennen, der immer länger und länger wird, während die Frauengestalt ihre Größe behält. Die Szene geht langsam in das nächste Bild über.
Robert sitzt an seinem Schreibtisch und arbeitet an einem Buchmanuskript. Es ist ein sonniger Herbstnachmittag. Seine Tochter Anna tritt ins Zimmer.
ANNA Worüber schreibst Du denn? Den ganzen Tag schon vergräbst Du Dich in Deinem Zimmer.
ROBERT (zögernd, fühlt sich bei der Arbeit gestört) Ich schreibe über meinen Vater.
ANNA (verwundert) Deinen Vater? – Der schon so lange tot ist?
ROBERT Auch die Toten hören nicht auf in uns weiterzuleben, wenn Du verstehst, was ich meine.
ANNA (herausfordernd) Mich interessieren die Lebenden, nicht die Toten! – (nach kurzer Pause) Was interessiert Dich denn an Deinem toten Vater?
ROBERT (der sich Anna zugewandt hat) Ich möchte herausfinden, warum er sich damals während des Krieges – ich war fünf Jahre alt – das Leben genommen hat.
ANNA Wie kannst Du darüber etwas erfahren, wenn Du noch so klein warst?
ROBERT Es gibt einen Brief von ihm, den er kurz vor seinem Tode an seinen Bruder Paul geschrieben hat. Und seine letzte Predigt. Aus beiden Schriftstücken versuche ich mir die Gestalt meines Vaters lebendig vorzustellen. Den Tag vor seinem Tod habe ich nur in dunkler Erinnerung. Ich war mit Marie, unserer Haushilfe, in der Kirche und mein Vater predigte. Dann sah ich ihn, wie er tot aufgebahrt in unserem Wohnzimmer lag, und alle Menschen weinten. Diese wenigen Bilder haben sich meinem Gedächtnis tief eingeprägt.
ANNA Und das beunruhigt Dich jetzt noch? (mit einer Mischung aus Neugierde und unverhohlenem Misstrauen) Fürchtest Du denn, Dein toter Vater könnte Dich nicht in Ruhe lassen, wenn Du Dich nicht mit ihm beschäftigst?
ROBERT Wenn ich über meinen Vater nachdenke, dann stelle ich mir auch die Frage, wer ich bin? Wir bleiben mit den Toten ja nicht nur durch unsere biologische Verwandtschaft verbunden, sondern durch alles das, was sie uns mitgegeben haben.
ANNA Es ist doch nicht immer alles gut, was sie uns hinterlassen haben.
ROBERT Das versuche ich herauszufinden. Denn nur, wenn wir uns mit dem Tod der Anderen beschäftigen, haben wir vielleicht die Chance, uns selbst besser zu verstehen.
ANNA Und Mami? Warum denkst Du nicht über sie nach? Du könntest dabei vielleicht auch etwas über Dich erfahren. (ihren Vater angreifend) Sie lebt nämlich noch!
ROBERT Anna, – – –!
Anna hat nach dem Gespräch mit ihrem Vater eilig sein Zimmer verlassen. Sie fühlt sich auf einmal auf unerklärliche Weise traurig, als sie die Treppe hinuntergeht. Die Tür des Arbeitszimmers ihres Vaters öffnet sich plötzlich.
ROBERT Anna, warte! (Er hält eine rote Schultertasche in der Hand.) Ich habe ein Geschenk für Dich. Du hattest Dir doch schon lange eine rote Tasche gewünscht. Ich habe es nicht vergessen, wie Du siehst. Gefällt sie Dir?
Anna läuft ein paar Schritte die Treppe hinauf, umarmt ihren Vater, nimmt die Tasche, eilt nach unten und verlässt das Haus. Robert geht nachdenklich in sein Zimmer zurück, an das Fenster, und blickt Anna nach, die schnell in einer Seitenstraße verschwindet. Robert bleibt noch eine Weile stumm am Fenster stehen und sieht den Passanten auf der Straße zu, die kommen und gehen.
Anna liegt auf dem Bett und hört eine Platte von Janis Joplin. Stephanie im Nachtanzug öffnet die Tür.
STEPHANIE Anna, ist Mami schon zurück? (Anna reagiert nicht.) Ich hab Dich was gefragt: Ist Mami schon zurück?
ANNA (unwirsch) Schau doch selber!
Stephanie bleibt einen Augenblick zögernd an der Tür stehen und geht dann in ihr Zimmer zurück. Anna blickt sinnend, nachdenklich auf eine Photographie an der Wand neben ihrem Bett. Die Photographie zeigt sie als Baby im Arm ihrer Mutter, daneben glücklich lächelnd ihr Vater.
Man hört das Geräusch eines Schlüssels, der die Wohnungstür öffnet und wie die Tür wieder ins Schloss fällt. Evas flüsternde Stimme und die ihrer Freundin Susanne. Leises Lachen. Beide gehen in die Küche. Eine Flasche wird entkorkt, Gläserklirren. Beide gehen in Evas Schlafzimmer.
Anna knipst das Licht aus. An ihrem Fenster gleißen die Scheinwerferlichter der vorbeifahrenden Autos entlang. Aus dem Schlafzimmer ihrer Mutter dringt leise Musik. Annas Gesicht zeigt eine seltsam erregte Spannung. Ihre Hände greifen in die Bettdecke, sie presst ihr Gesicht ins Kissen.
Dann steigt sie vorsichtig auf Zehenspitzen aus dem Bett in den Flur hinaus. Sie steht vor der Tür ihrer Mutter, lauscht, blickt durch das Schlüsselloch. Ausschnitthaft erkennt sie im matt erleuchteten Zimmer, wie Eva und Susanne sich umschlungen halten und sich langsam im Rhythmus der Musik bewegen.
Während sich das Licht im Zimmer in ein allmählich dunkler werdendes Blau verändert, hört man durch die Musik hindurch das immer stärker anwachsende Herzklopfen Annas. Sie steht im dunklen Flur, aus ihrem aufgerissenen Mund kommt nur ein stummer Schrei.
Es ist Frühmorgen. Anna und Stephanie machen sich zur Schule fertig. Eva im Morgenrock bereitet in der Küche das Frühstück.
EVA Kommt Ihr? Das Frühstück ist fertig. Bitte, beeilt Euch und macht keinen Lärm, Susanne schläft noch. (Anna setzt sich mit verweintem Gesicht an den Tisch) Was ist mit Dir, Anna? Was hast Du? Du siehst ja schrecklich aus. (Pause) Sag schon, was ist los?
ANNA (schweigt, schlürft ihren Kakao, schließlich mit gepresster Stimme) Was los ist, solltest Du am besten selber wissen! (unterdrückt ihre Tränen) Du bist schuld, dass Papa gegangen ist.
EVA (sie hat Anna den Rücken zugekehrt und hantiert nervös am Herd. Dann dreht sie sich Anna zu) Was sagst Du da – ich bin schuld, dass uns Dein Vater verlassen hat? (lacht kurz hysterisch auf) So ist das also! Wunderbar, wie Du die Tatsachen auf einmal siehst! (Eva sieht Anna mit einem erstaunten und zugleich ratlosen Blick an. Stephanie ist inzwischen gekommen und hat am Tisch Platz genommen).
STEPHANIE Was ist denn hier los? Der Morgen fängt ja mal wieder gut an.
EVA (insistierend) Ich möchte wissen, wieso Du mir auf einmal die Schuld gibst. Früher warst Du anderer Meinung. Erklär mir bitte – (Evas Stimme klingt jetzt hart) erklär mir bitte den Grund!
ANNA Ich will nicht! (sie mustert mit einem scharfen und zugleich traurigen Blick ihre Mutter) Ich hab keine Lust – ich muss jetzt zur Schule!
und Choreographin
Hannele Järvinen
Vorwort
ZEIT: Mitte der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts
ORT: Stadt an einem Fluss in Norddeutschland
JAHRESZEIT: Herbst
Den Rahmen von DER ANDEREN TOD bilden Texte aus der Offenbarung des Evangelisten Johannes, das Gemälde „Die Visionen des Evangelisten Johannes auf Patmos“ von Hans Memling und die „Messe in h-Moll“ von Johann Sebastian Bach.
Als Naturphänomen gehören zu dem Rahmen der „Flug der Kraniche“.
Alle vier Elemente begleiten leitmotivisch das Geschehen der Handlung und verweisen im Bild und in der Musik auf einen transzendentalen Hintergrund, in dem Sinn, wie Adorno es in seinen „Meditationen zur Metaphysik“ formuliert: „Kein Licht ist auf den Menschen und Dingen, in dem nicht Transzendenz widerschiene“.
Wiederholt nimmt die Lebensgeschichte der Familie Brunner in dem Drama Bezug auf das Gemälde von Hans Memling und dessen allegorische Deutung der Apokalypse. Nach christlichem Glauben soll ja unser ganzes Leben unter dem Verdikt des letzten Gerichtes, der Verdammnis oder der Erlösung stehen. Auch wenn uns solche biblischen Deutungen heute nicht mehr existentiell berühren oder beunruhigen, bleiben sie doch in ihrer symbolhaften Bedeutung Teil unser geistigen wie kulturellen Tradition, denen wir in Kirchen oder Museen in stiller oder auch andächtiger Bewunderung begegnen. Es ist unsere Geschichte, die uns mit der Vergangenheit verbindet und uns in bestimmten Momenten, die wir weder voraussehen noch vorherbestimmen können, an jene andere transzendentale Wirklichkeit erinnert. In diesem Sinne berühren sich in dem Drama beide Wirklichkeiten: die irdische Existenz mit der sakralen Transzendenz.
Die „Messe in h-Moll“ von Johann Sebastian Bach, die in ihren fünf Teilen des Ordinariums (Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus/Benedictus, Agnus Dei) den Kern des christlichen Glaubensbekenntnisses reflektiert und im „Symbolum Nicaenum“ Christus als den bezeichnet, der zur Rechten Gottes sitzt, „von dannen er kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten“, nimmt ebenfalls Bezug auf das Gemälde von Memling, bildet musikalisch aber einen utopischen Gegenentwurf zu den Schreckensvisionen der Apokalypse.
Die Kraniche gelten in der Mythologie als Mittler zwischen Himmel und Erde und erscheinen den Menschen als Götterboten. Ihr Flug und ihre Rufe sind in dem Drama – wie die Musik von Johann Sebastian Bach – Zeichen der Hoffnung und der Zuversicht in Augenblicken großer Einsamkeit und Trauer.
Handelnde Personen
EVA BRUNNER - Lehrerin (40)
ROBERT BRUNNER - Schriftsteller/Journalist (42)
ANNA BRUNNER - Schülerin (18)
STEPHANIE BRUNNER - Schülerin (12)
SUSANNE GRÖNTHAL - Malerin (32)
FRAU STADLER - Witwe, Evas Mutter (65)
EIN PFARRER - Roberts Vater
HANS BERGWALD (MAX GOLDMAN) - Roberts Studienfreund (46)
MARTHA BERGWALD - Pflegemutter von Hans
EINE TÄNZERIN und ENSEMBLE
MARIE - Haushilfe (Bäuerin)
EIN TOTENGRÄBER
DR. JACOBI - Internist
EINE FRAU MITTLEREN ALTERS - Grundschullehrerin
POLIZISTEN
Der anderen Tod
Es erscheint das Bild „Die Visionen des Evangelisten Johannes auf Patmos“ von Hans Memling: Zuerst der nackte ausgestreckte Fuß des Evangelisten, sein rotes faltenreiches Gewand, der Felsen, auf dem er sitzt, seine Hände, die auf dem aufgeschlagenen Buch ruhen, schließlich in voller Größe sein Gesicht. Während langsam die Bilder seiner Visionen im Hintergrund ins Bild kommen, hört man den gesprochenen Text aus der Offenbarung, Kp. 4, 1 und 6, 1–5, 7.
Zum Schluss wird der Pantokrator in der Regenbogen-Mandorla im Kreis der Ältesten sichtbar. Aus der h-Moll-Messe von Bach hört man leise die ersten Akkorde von „Sanctus“.
STIMME „Ich sah, und siehe, eine Tür war aufgetan im Himmel, und die erste Stimme, die ich gehört hatte mit mir reden wie eine Posaune, die sprach: Steig herauf, ich will dir zeigen, was nach diesem geschehen soll.
Und ich sah vier Gestalten. Und die erste hörte ich sagen: Komm! Und ich sah, und siehe, ein weißes Pferd. Und der darauf saß, hatte einen Bogen, und ihm ward gegeben eine Krone, und er zog aus sieghaft, dass er siegte.
Und es ging heraus ein anderes Pferd, das war feuerrot. Und dem, der darauf saß, ward gegeben, den Frieden zu nehmen von der Erde.
Und ich hörte die Stimme der dritten Gestalt sagen: Komm! Und ich sah, und siehe, ein schwarzes Pferd. Und der darauf saß, hatte eine Waage in der Hand.
Und ich hörte die Stimme der vierten Gestalt sagen: Komm! Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der darauf saß, des Name hieß Tod, und die Hölle folgte ihm nach.“
Die Visionen des Bildes verschwimmen langsam, während das Gesicht des Evangelisten in Großaufnahme erscheint. Die letzten Töne aus der h-Moll-Messe verklingen.
Der Pfarrer in schwarzem Anzug steht vor seinem Schreibtisch und hält einen Revolver in der rechten Hand. Er blickt zu dem Kruzifix an der gegenüberliegenden Wand, und während sein Auge sich immer heftiger, verzweifelter an das Leidensgesicht des Gekreuzigten heftet, das nun in Großaufnahme erscheint, dringen beider Blicke so ineinander, dass sie nicht mehr zu unterscheiden sind.
In diesem Augenblick hört man aus der h-Moll-Messe von J. S. Bach „Qui tollis peccata mundi“ – und einen Schuss. Während die Musik weiter zu hören ist, sieht man eine Frau von ihrer Rückseite durch einen spärlich beleuchteten langen Flur rennen, der immer länger und länger wird, während die Frauengestalt ihre Größe behält. Die Szene geht langsam in das nächste Bild über.
Robert sitzt an seinem Schreibtisch und arbeitet an einem Buchmanuskript. Es ist ein sonniger Herbstnachmittag. Seine Tochter Anna tritt ins Zimmer.
ANNA Worüber schreibst Du denn? Den ganzen Tag schon vergräbst Du Dich in Deinem Zimmer.
ROBERT (zögernd, fühlt sich bei der Arbeit gestört) Ich schreibe über meinen Vater.
ANNA (verwundert) Deinen Vater? – Der schon so lange tot ist?
ROBERT Auch die Toten hören nicht auf in uns weiterzuleben, wenn Du verstehst, was ich meine.
ANNA (herausfordernd) Mich interessieren die Lebenden, nicht die Toten! – (nach kurzer Pause) Was interessiert Dich denn an Deinem toten Vater?
ROBERT (der sich Anna zugewandt hat) Ich möchte herausfinden, warum er sich damals während des Krieges – ich war fünf Jahre alt – das Leben genommen hat.
ANNA Wie kannst Du darüber etwas erfahren, wenn Du noch so klein warst?
ROBERT Es gibt einen Brief von ihm, den er kurz vor seinem Tode an seinen Bruder Paul geschrieben hat. Und seine letzte Predigt. Aus beiden Schriftstücken versuche ich mir die Gestalt meines Vaters lebendig vorzustellen. Den Tag vor seinem Tod habe ich nur in dunkler Erinnerung. Ich war mit Marie, unserer Haushilfe, in der Kirche und mein Vater predigte. Dann sah ich ihn, wie er tot aufgebahrt in unserem Wohnzimmer lag, und alle Menschen weinten. Diese wenigen Bilder haben sich meinem Gedächtnis tief eingeprägt.
ANNA Und das beunruhigt Dich jetzt noch? (mit einer Mischung aus Neugierde und unverhohlenem Misstrauen) Fürchtest Du denn, Dein toter Vater könnte Dich nicht in Ruhe lassen, wenn Du Dich nicht mit ihm beschäftigst?
ROBERT Wenn ich über meinen Vater nachdenke, dann stelle ich mir auch die Frage, wer ich bin? Wir bleiben mit den Toten ja nicht nur durch unsere biologische Verwandtschaft verbunden, sondern durch alles das, was sie uns mitgegeben haben.
ANNA Es ist doch nicht immer alles gut, was sie uns hinterlassen haben.
ROBERT Das versuche ich herauszufinden. Denn nur, wenn wir uns mit dem Tod der Anderen beschäftigen, haben wir vielleicht die Chance, uns selbst besser zu verstehen.
ANNA Und Mami? Warum denkst Du nicht über sie nach? Du könntest dabei vielleicht auch etwas über Dich erfahren. (ihren Vater angreifend) Sie lebt nämlich noch!
ROBERT Anna, – – –!
Anna hat nach dem Gespräch mit ihrem Vater eilig sein Zimmer verlassen. Sie fühlt sich auf einmal auf unerklärliche Weise traurig, als sie die Treppe hinuntergeht. Die Tür des Arbeitszimmers ihres Vaters öffnet sich plötzlich.
ROBERT Anna, warte! (Er hält eine rote Schultertasche in der Hand.) Ich habe ein Geschenk für Dich. Du hattest Dir doch schon lange eine rote Tasche gewünscht. Ich habe es nicht vergessen, wie Du siehst. Gefällt sie Dir?
Anna läuft ein paar Schritte die Treppe hinauf, umarmt ihren Vater, nimmt die Tasche, eilt nach unten und verlässt das Haus. Robert geht nachdenklich in sein Zimmer zurück, an das Fenster, und blickt Anna nach, die schnell in einer Seitenstraße verschwindet. Robert bleibt noch eine Weile stumm am Fenster stehen und sieht den Passanten auf der Straße zu, die kommen und gehen.
Anna liegt auf dem Bett und hört eine Platte von Janis Joplin. Stephanie im Nachtanzug öffnet die Tür.
STEPHANIE Anna, ist Mami schon zurück? (Anna reagiert nicht.) Ich hab Dich was gefragt: Ist Mami schon zurück?
ANNA (unwirsch) Schau doch selber!
Stephanie bleibt einen Augenblick zögernd an der Tür stehen und geht dann in ihr Zimmer zurück. Anna blickt sinnend, nachdenklich auf eine Photographie an der Wand neben ihrem Bett. Die Photographie zeigt sie als Baby im Arm ihrer Mutter, daneben glücklich lächelnd ihr Vater.
Man hört das Geräusch eines Schlüssels, der die Wohnungstür öffnet und wie die Tür wieder ins Schloss fällt. Evas flüsternde Stimme und die ihrer Freundin Susanne. Leises Lachen. Beide gehen in die Küche. Eine Flasche wird entkorkt, Gläserklirren. Beide gehen in Evas Schlafzimmer.
Anna knipst das Licht aus. An ihrem Fenster gleißen die Scheinwerferlichter der vorbeifahrenden Autos entlang. Aus dem Schlafzimmer ihrer Mutter dringt leise Musik. Annas Gesicht zeigt eine seltsam erregte Spannung. Ihre Hände greifen in die Bettdecke, sie presst ihr Gesicht ins Kissen.
Dann steigt sie vorsichtig auf Zehenspitzen aus dem Bett in den Flur hinaus. Sie steht vor der Tür ihrer Mutter, lauscht, blickt durch das Schlüsselloch. Ausschnitthaft erkennt sie im matt erleuchteten Zimmer, wie Eva und Susanne sich umschlungen halten und sich langsam im Rhythmus der Musik bewegen.
Während sich das Licht im Zimmer in ein allmählich dunkler werdendes Blau verändert, hört man durch die Musik hindurch das immer stärker anwachsende Herzklopfen Annas. Sie steht im dunklen Flur, aus ihrem aufgerissenen Mund kommt nur ein stummer Schrei.
Es ist Frühmorgen. Anna und Stephanie machen sich zur Schule fertig. Eva im Morgenrock bereitet in der Küche das Frühstück.
EVA Kommt Ihr? Das Frühstück ist fertig. Bitte, beeilt Euch und macht keinen Lärm, Susanne schläft noch. (Anna setzt sich mit verweintem Gesicht an den Tisch) Was ist mit Dir, Anna? Was hast Du? Du siehst ja schrecklich aus. (Pause) Sag schon, was ist los?
ANNA (schweigt, schlürft ihren Kakao, schließlich mit gepresster Stimme) Was los ist, solltest Du am besten selber wissen! (unterdrückt ihre Tränen) Du bist schuld, dass Papa gegangen ist.
EVA (sie hat Anna den Rücken zugekehrt und hantiert nervös am Herd. Dann dreht sie sich Anna zu) Was sagst Du da – ich bin schuld, dass uns Dein Vater verlassen hat? (lacht kurz hysterisch auf) So ist das also! Wunderbar, wie Du die Tatsachen auf einmal siehst! (Eva sieht Anna mit einem erstaunten und zugleich ratlosen Blick an. Stephanie ist inzwischen gekommen und hat am Tisch Platz genommen).
STEPHANIE Was ist denn hier los? Der Morgen fängt ja mal wieder gut an.
EVA (insistierend) Ich möchte wissen, wieso Du mir auf einmal die Schuld gibst. Früher warst Du anderer Meinung. Erklär mir bitte – (Evas Stimme klingt jetzt hart) erklär mir bitte den Grund!
ANNA Ich will nicht! (sie mustert mit einem scharfen und zugleich traurigen Blick ihre Mutter) Ich hab keine Lust – ich muss jetzt zur Schule!