Cia lernt fliegen

Cia lernt fliegen

Evelin Köferstein


EUR 14,90
EUR 11,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 184
ISBN: 978-3-99146-193-7
Erscheinungsdatum: 03.08.2023
Cia leidet zeitlebens unter den Missbrauchsfolgen ihrer Kindheit, verdrängt jedoch die Erinnerungen daran. Erst durch ein einschneidendes Ereignis stellt sie sich der Vergangenheit und will ein neues Leben beginnen. Da trifft sie auf ihren einstigen Peiniger.
1


»Manchmal träume ich, dass alles gut ist.
Aber dann wache ich auf.«

Sie atmet ein.
Wo ist sie nur: die neunjährige Cia mit den blonden Zöpfen und den Flausen im Kopf? Wo ist das Leben, das noch ganz andere Pläne mit ihr hatte? Die Sehnsucht nach ihr tut schrecklich weh.
Sie atmet aus.
Frech ist sie und selbstbewusst und sehr beliebt. Die Lehrerin sagt manchmal, sie wäre wie ein wildgewordenes Känguru. Aber sie kann nicht anders. Sie ist so!
Sie atmet ein.
Cia verweilt in ihren unendlich weit entfernten Erinnerungen und stellt sich dabei vor, sie bekäme noch eine zweite Chance.
Sie atmet aus.

Im Schulgebäude war es menschenleer und so ruhig, dass es sich beinahe unheimlich anfühlte. Durch die oberen Bogenfenster fiel müdes Sonnenlicht auf die hellblauen Linoleumböden. Wenn sie frisch gescheuert waren, glänzten sie wie unberührte Eisflächen, und es roch überall nach Zitronenputzmittel. An den Garderobenhaken hingen schlaff ein paar vergessene Kinderjacken und auch mal ein Turnbeutel.
Cia schlenderte in aller Seelenruhe, ja, fast andächtig durch die langen hohen Gänge und lauschte in die Stille hinein. Es schien, als würde das alte Haus ein wenig durchatmen müssen, bevor es die Kinder am nächsten Morgen wieder stürmten. Cia genoss diese friedlich anmutende Stimmung am Nachmittag, wenn sich ihre Ohren von der Dauerbeschallung während der Unterrichtszeit erholen konnten.
Und doch mochte sie in mindestens gleichem Maße die Lebendigkeit, die einzog, wenn sich die Schule nach und nach mit Kinderseelen füllte und die alten müden Mauern durch das übermütige Rumgehopse, das Lärmen und das Lachen aus dem Schlaf geweckt wurden. Sie liebte es, wenn sich die Kinder ihrer Schulklasse am Hofaufstellplatz versammelten und ihr wie eine Gruppe frisch geschlüpfter Entlein folgten. Dann wünschte sie sich, auch wieder eines dieser unbeschwerten Entlein zu sein, das sich im Klassenzimmer brav an seinen Platz stellte, um mit einem gemeinsamen Morgengruß den Tag zu beginnen. Dieses chorisch und wie in Zeitlupe teils gerufene, teils gesungene »Guu-ten Moor-gen, Frau Fli-cken-stein« wirkte auf sie geradezu wie ein Mantra, das ihr Herz frühmorgens schon mit Freude füllte. Das allerschönste aber war für Cia der morgendliche unverfälschte Schulgeruch. Dieser herrlich unnachahmliche Duft von wohlbehüteter Kindheit, von Papier, Schulranzen und Federmäppchen, den Generationen von Schülern, Lehrern und Millionen von Geschichten in dem Gemäuer hinterlassen haben, erinnerte sie an ihre eigene glückliche Grundschulzeit. Eine lange schon vergangene Zeit, als ihr Leben noch ein sorgloser Raum war, an dem sie sich aufgehoben fühlte und Begriffe wie Schutz und Sicherheit eine Selbstverständlichkeit waren.
Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass sie eines Tages in die Grundschule, in der sie selbst Schülerin war, zurückkehren würde. Auch wenn sie heute auf der anderen Seite des Pultes längst auch die andere tiefdunkle Seite des Lebens kennengelernt hatte, war es für sie, als würde ihre eigene Kinderseele, die sie im Alter von zehn Jahren verloren hatte und die hier noch in allen Ecken und Nischen steckte, sie auffordern, endlich wieder mit ihr zu spielen, ganz so, als ob sie all die Jahre nur darauf gewartet hätte, dass Cia hierher zurückkommt: an den letzten Unschuldsort ihrer Kindheit. Und manchmal, wenn dann genau dieser ganz besondere Schulgeruch ihr heimlich in die Nase schlich, konnte sie es wieder fühlen – dieses federleichte Gefühl, wenn man wie auf einer Wolke schwebend so herrlich selbstvergessen in den Tag hineinträumte.
Mit dem Wechsel auf das Gymnasium bekam das Leben von Cia erste Risse. Ihre Eltern bemerkten sehr wohl, dass sie sich seitdem veränderte, kamen aber nicht dahinter, woran das lag. Wenn sie ihre Tochter fragten, antwortete sie nur, dass sie die neue Schule nicht mochte und sie nicht mehr hinwollte. Ihre Vermutung war, es läge daran, dass ihre Tochter nicht mehr die gleiche Aufmerksamkeit bei den Lehrern genoss wie in der Grundschule. Aber das war es nicht. Es war auch nicht, dass die neue Schule größer war und anders roch. Auch nicht, dass der Schulweg jetzt viel länger war und sie diesen ganz allein gehen musste. Bis dahin war Cia nämlich gewohnt, sich schon vor Schulbeginn mit ihren vielen Freundinnen zu treffen, um mit ihnen herumzualbern, zu erzählen, zu lachen, eben das, was Mädchen in diesem Alter so machten. Das alles fiel mit einem Mal weg und machte ihr möglicherweise zu schaffen. Glaubten zumindest ihre Eltern. Aber auch das war es nicht. Vielleicht war es die Summe von zufälligen Begebenheiten, ihre blonden Haare, oder dass sie ihre kleine Schwester um jeden Preis beschützen wollte. Vielleicht war es auch einfach nur diese besondere Vorliebe für Zauberperlen, die den Beginn einer Zeit mit tief einschneidenden Ereignissen einläutete, die letztendlich ihr gesamtes weiteres Lebens prägten. Ereignisse von brutalster Gewalt, die Cia im hintersten Winkel ihrer verwundeten Seele vergrub und am liebsten auslöschen oder wenigstens für immer vergessen würde. Hier in der Grundschule gelang ihr das Vergessen manchmal, wenn auch nur für kurze Momente. Dann war es, als wäre alles gut.
Cia lief gerade die breite Treppe hinunter, und auch hier begegnete sie niemandem mehr. Tatsächlich schien sie mal wieder die Letzte zu sein, die sich überhaupt noch im Schulhaus aufhielt.
Über die Vorbereitungen für die Einschulung am nächsten Samstag hatte sie fast die Zeit vergessen. Die Schulanfänger ihrer zukünftigen »Mäuseklasse« sollten eine kleine Überraschung auf ihrem Platz vorfinden, wenn sie das erste Mal ihr Klassenzimmer betreten werden. Sie sollten sich hier gleich wohlfühlen und etwas zum Staunen haben. Mit bunter Kreide hat Cia eine große bunte Schultüte an die Tafel gemalt und für jedes der einundzwanzig Kinder eine gelbe Origami-Maus gebastelt. Pro Maus waren hierfür fünfzig Faltschritte notwendig gewesen, und anfangs ging das noch recht langsam, weil Cia sich die einzelnen Schritte nicht merken konnte. War eine Papiermaus nicht wirklich perfekt gefaltet, landete sie direkt im Mülleimer und sie begann von vorne. Allein für das Falten hat sie über zwei Stunden gebraucht. Am Ende hat sie noch zwei große runde Kulleraugen mit Wimpern und an der Nasenspitze Barthaare aufgemalt. Schließlich schrieb sie jeder Maus den Namen eines Schulanfängers darauf. Für die Mädchennamen benutzte sie rote und für die Jungennamen blaue Tinte.
Cia konnte sich schon immer unermüdlich an diversen Basteleien bis ins kleinste Detail verkünsteln, und ihr war kein Aufwand zu viel, wenn es darum ging, ihren Schülerinnen und Schülern eine Überraschung zu bereiten. Es machte ihr im Gegenteil großen Spaß, wenn sie nur daran dachte, wie sie sich darüber freuen würden.
Äußerst zufrieden betrachtete sie schließlich ihre einundzwanzig Papiermäuse und verteilte sie auf den Tischen. Als sie auf die Uhr schaute, die über der Tafel hing, stöhnte sie laut auf. »Puh, schon wieder so spät«, sagte sie zu sich selbst, schob die Bastelsachen mit einer Handbewegung in die geöffnete Schublade und griff rasch nach ihrer darin befindlichen Beanie-Mütze, um sie über ihre tiefrot gefärbten Locken zu ziehen. Dann hängte sie sich den Lederriemen ihrer Tasche über die Schulter und machte sich nach einem abschließenden Kontrollblick durchs Klassenzimmer auf den Weg nach Hause.
Als sie unten am Ausgang angekommen war, stemmte sie sich mit ihrer Schulter gegen die Holztür, um sie aufzudrücken, doch sie stieß auf Widerstand. Die Tür war bereits verschlossen.
»Och, nee!«, murrte sie unwillig und wollte mit einer schwungvollen Handbewegung den Reißverschluss ihrer großen ledernen Umhängetasche öffnen, aber der klemmte mal wieder und gab erst nach mehrmaligem ruppigen Ziehen nach. Umständlich fing sie nun an, darin herumzukramen, um sich auf die Suche nach ihrem Schlüsselbund zu machen mit der Befürchtung, dass das dauern könnte.
Die Tasche war ein Geschenk von Maikel.
»So was nennt man ›Shopper‹, hat die Verkäuferin gesagt«, erklärte Maikel stolz, als er ihr den Riesenbeutel zu ihrem sechsunddreißigsten Geburtstag morgens schon im Bett in die Hände drückte und Cia sich einen ratlosen Blick nicht verkneifen konnte.
»Da ist unheimlich viel Platz drin«, schob er erläuternd nach, gab ihr einen Geburtstagskuss und legte sich neben sie. Er wartete kurz auf eine positive Reaktion, doch Cias Miene blieb wie eingefroren, also legte er nochmal nach. »Du kannst da einfach alles reinschmeißen, was du so brauchst.«
»Wie, um alles in der Welt, kommst du auf die Idee, mir eine Tasche zu schenken?«, fragte sie endlich verständnislos.
Maikel war noch nie der Talentierteste gewesen, wenn es darum ging, ein passendes Geschenk für sie zu finden. Das ahnte Cia bereits, als er ihr an ihrem ersten gemeinsamen Weihnachten eine rosa Plüschdecke schenkte, auf der ein Faultier gedruckt war. Schon öfter hatte sie ihm durch die Blume zu verstehen gegeben, dass sie sich gegenseitig doch eigentlich gar nichts zu schenken brauchten. Cia konnte Überraschungen sowieso nicht leiden, ganz im Gegensatz zu Maikel, der eine biestige Freude daran zu haben schien. Er war partout nicht davon abzubringen, sich immer wieder etwas auszudenken, und Cia hatte es längst aufgegeben, ihn davon abzuhalten.
»Und überhaupt: Dein alter Rucksack hat doch längst ausgedient. Wie lange hast du den denn schon? Der fällt doch bald auseinander.« Ihm schienen die Argumente auszugehen, ihr den neuen ›Shopper‹ schmackhaft zu machen, deshalb schoss er jetzt gegen ihren Rucksack, den sie allein schon wegen der vielen praktischen Fächer so sehr liebte. Cia war Perfektionistin und so hatte jedes einzelne Teil darin seinen eigenen festen Platz. Sie konnte blind hineingreifen und hatte sofort das Gesuchte in der Hand. Seit Jahren war das schon so, und sie hatte auch die nächsten Jahre nicht vorgehabt, daran irgendetwas zu ändern. Wie konnte ihr Maikel nur eine Tasche mit einem völlig unpraktischen Riesenfach zumuten, die einem Zaubersack glich, der alles verschwinden ließ, was man hineinwarf?
»Der sieht doch eigentlich aus wie ein Schulranzen.«
»Maikel!«, warf sie ein, doch er überhörte sie einfach.
»Mit dem Ding auf dem Rücken siehst du doch selbst aus wie eine deiner Schülerinnen.«
»Maikel!«, versuchte sie es erneut. Diesmal mit Erfolg. Maikel blieb still.
»Es ist ja gut«, meinte sie mit einem täuschend echten Lächeln. »Vielleicht hast du ja recht. Es wird höchste Zeit für etwas Neues. Ich danke dir dafür! Wirklich!« Cia merkte sehr wohl, dass er ihr das nicht abnahm. Schließlich wusste er genau, wie viel Probleme sie damit hatte, sich an ›etwas Neues‹ zu gewöhnen. Und obwohl sie sich damit nicht wohlfühlte, tauschte sie ihm zuliebe sogar noch am selben Morgen ihren geliebten Rucksack gegen den überdimensionalen Lederbeutel, auch wenn es sie wahnsinnig machte, dass sie wie ein Maulwurf darin herumwühlen musste, bis sie endlich das Gesuchte fand.
Auch jetzt grub sie mit einer Hand durch ihr gefühlt gesamtes Hab und Gut, das sich in der Tasche befand, schüttelte sie mit beiden Händen kräftig durch, bis sie das Klimpern ihres Schlüssels wahrnehmen konnte und blickte schließlich suchend in das dunkle Universum hinein. Als sie wieder auftauchte, erschrak sie, weil ganz plötzlich ein Fremder neben ihr stand. Es war ein junger Mann mit Dreitagebart und einem kurzen dunkelbraunen Zopf, den er sich am Hinterkopf zusammengebunden hatte.
»Du lieber Himmel, schleichen Sie sich immer so an?«, fragte sie ihn etwas zu forsch.
»Ich habe mich gar nicht angeschlichen«, verteidigte sich der Fremde. »Sie haben mich nur nicht gehört, weil Ihre Tasche so laut war.«
»Was machen Sie eigentlich hier?«
»Das wollte ich Sie auch gerade fragen«, erwiderte er, statt zu antworten.
Cia musterte den Mann von oben bis unten. Er hatte einen grau–blauen Arbeitskittel an, aus dessen Brusttasche ein Zollstock herausblickte. Seine Hände waren ölverschmiert – Teile seiner Hose auch. Ihr fiel auf, dass seine Haare offensichtlich gefärbt waren, aber recht unprofessionell. Durch den fleckigen Braunton schimmerte an einigen Stellen noch etwas Blond hindurch. Es war ziemlich offensichtlich, dass er beim Färben selbst Hand angelegt hatte.
»Sind Sie ein Handwerker?«, fragte sie beiläufig und ließ ihre linke Hand wieder in die Tasche wandern.
»Nein«, antwortete er. »Ich bin der neue Hausmeister.«
»Ach nee«, meinte Cia überrascht. »So junge Hausmeister gibt es schon? Sie sind doch wohl keine dreißig, oder?«
»Da haben Sie recht«, antwortet der Mann mit einem schiefen Lächeln. »Ich bin wirklich keine dreißig. Ich bin fünfunddreißig.«
»Auch recht«, entgegnete Cia knapp, um das Gespräch auf ein nötiges Minimum zu beschränken. »Dann haben Sie doch sicherlich den Schulschlüssel parat, Herr …?«, fragte sie und zog ihre Hand wieder aus der Tasche heraus.
»Schiller«, stellte er sich vor und streckte ihr freundlich die Hand entgegen. »Benjamin Schiller.«
»Oha, Schiller«, erwiderte sie anerkennend, blickte stirnrunzelnd auf seine ölige Hand und ignorierte sie schließlich. »Ist Ihnen bei Ihrem berühmten Namen denn nichts Kreativeres eingefallen, als Hausmeister zu werden?« Cia lachte kurz, bemerkte aber gleich, dass er das nicht so witzig fand, wie es eigentlich gedacht war. »Sorry«, fügte sie deshalb hinzu. »War nicht so gemeint.« Jetzt reichte sie ihm die Hand. »Mein Name ist Cia Flickenstein. Ich unterrichte die neuen Erstklässler.«
»Oha, eine Lehrerin.« Diesmal ignorierte er ihre Hand. »Ich dachte schon, Sie wären ein Kind, das man in der Schule vergessen hat.«
»Guter Konter!«, entgegnete sie leicht angefressen.
»Das war kein Konter, ich dachte das vorhin wirklich zuerst«, sagte der neue Hausmeister. »Die Größte sind Sie ja nun wirklich nicht, und mit dieser Beanie-Mütze sehen Sie nicht gerade aus wie eine Lehrerin.«
»Wie muss denn Ihrer Meinung nach eine Lehrerin aussehen?«, fragte sie schmallippig und durchforstete nun doch noch einmal den Inhalt ihrer Tasche. Währenddessen nahm sie sich vor, den ganzen Krempel, der sich darin befand, schnellstmöglich auszumisten.
»Diese Shopper sind doch total unpraktisch, finden Sie nicht?«, fragte er und beobachtete schmunzelnd ihre erfolglose Sucherei.
»Sie müssen es ja wissen.« Cia verzog missbilligend den Mund. »Haben Sie nun einen Schlüssel oder nicht, Herr Schiller?«
»Benni«, meinte er versöhnlich. »Sie dürfen gerne Benni zu mir sagen.«
Endlich! Cia hatte ihren Schlüssel ertastet, zog ihn erleichtert heraus und steckte ihn hastig in das Türschloss.
»Danke, sehr nett, Benni«, erwiderte sie und sah ihn frostig an. »Und Sie dürfen gerne Frau Flickenstein zu mir sagen, bis bald mal wieder.« Damit drückte sie die schwere Holztür auf, schlüpfte durch den offenen Spalt hindurch und lief über den Schulhof zu den Fahrradständern.
Maikel schlurfte in seiner Pyjamahose verschlafen in die Küche, und als er Cia bemerkte, die gerade mit der Kaffeemaschine beschäftigt war, drückte er sich von hinten an sie heran und umarmte sie. »Moin, meine kleine Samtmilbe«, brummte er und legte müde seinen Kopf auf ihre Schulter. »Auch schon da?«
Cia drehte sich zu ihm herum und legte ihre Arme um seinen Hals. »Hey, auch schon wach?«, fragte sie ironisch. Es war siebzehn Uhr! »War wohl wieder spät heute Nacht?«
Maikel stöhnte mitleiderregend und sah sie mit seinem unschuldigen Kleine-Buben-Blick an, den er wirklich gut draufhatte. »Es war bestimmt fünf Uhr, bis ich endlich ins Bett gekommen bin. Wir mussten eine Zugabe nach der anderen geben. Die wollten uns gar nicht mehr gehen lassen. Wenn ich nur wüsste, was die Leute an Rock’n’Roll immer so toll finden.«
»Und ein paar Bierchen sind danach bestimmt auch noch geflossen, wie ich euch kenne«, meinte sie und zog eine Augenbraue hoch.
»Du weißt doch selbst: Die besten Leute trifft man beim Bierchen danach.« Er lächelte sie an und küsste sie auf die Nase. »Ich hätte meine kleine Samtmilbe sonst niemals kennengelernt. Damals nach unserem Konzert.«
Das war tatsächlich so. Ihre um fünf Jahre jüngere Schwester Julika hatte die Rockband, in der Maikel Leadsänger war, auf einem Weinfest entdeckt, und von da an wollte sie keinen Auftritt mehr von ihnen verpassen, weil sie deren Drummer total süß fand. Allein kam sie sich jedoch blöd vor, deshalb bekniete sie ihre große Schwester, sie unbedingt zu begleiten. Cia wusste von Julika, dass sie gerne mal über die Stränge schlug, und Cia glaubte dann, sie bremsen zu müssen, deshalb ließ sie sich auch nicht lange beknien und ging bei jedem Konzert mit. Bald sogar schon überaus gerne, denn Maikel gefiel Cia vom ersten Augenblick an – mehr als sie jemals zugegeben hatte.
Die beiden Schwestern standen stets weit vorne in der Mitte, und Julika stellte alles an, um größtmögliche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie sang bei jedem Lied lautstark mit und tanzte wie wild dazu, aber auch dazwischen, eigentlich stand sie überhaupt nie still, klatschte bei jedem Song begeistert in die Hände oder ließ durch ihre Finger ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert ertönen.
Bei einem dieser Konzerte passierte dann das Unvorhergesehene. Maikel nahm das Mikrofon in die Hand, ging bis an den Bühnenrand vor und bückte sich hinunter. »Hallo, ihr zwei Mädels!«
Cia und Julika sahen sich bestürzt an.
»Ja, genau ihr beiden!«, rief er amüsiert. »Heute Abend möchte ich euch einmal ganz persönlich begrüßen!« Er rief seinem Beleuchter etwas zu, der daraufhin einen der Bühnenscheinwerfer auf sie richtete.
»Das hier ist unser kleiner, aber wirklich sehr feiner Fanclub!«
Alle Konzertbesucher drehten sofort die Köpfe in ihre Richtung, und die zwei standen bedröppelt wie zwei kleine Lausemädchen, die auf der Stelle sämtliche Streiche ihres Lebens bereuten, im grellen Scheinwerferlicht.
Julika fiel schlagartig das Dauergrinsen aus ihrem Gesicht. Auch mit ihrem Gezappel hörte sie augenblicklich auf. Stattdessen wurde sie recht kleinlaut. »Gott, ist das peinlich!«, flüsterte sie durch einen schmalen Spalt ihrer Lippen.
»Was willst du denn eigentlich?«, zischte Cia zurück. »Das hast du mit deinem unmöglichen Rumgehampel doch geradezu provoziert.« Auch sie stand wie angewurzelt da und starrte stumm in den Lichtstrahl hinein. Dabei spürte sie, wie die Schamröte in ihr Gesicht zog, und sie mochte sich ganz und gar nicht vorstellen, wie das wohl mit ihren roten Haaren korrespondieren würde. Trotzdem konnte sie den Blick von dem attraktiven Sänger mit den schulterlangen, braunen Haaren nicht nehmen. Auch er fixierte Cia so intensiv, dass sich etwas Magisches zwischen ihnen entwickelte. Der Blick seiner grundehrlichen Augen löste einen wohligen Schauer in ihr aus, so wie sie ihn noch nie zuvor erlebt hatte.
»Ganz lieben Dank an die kleine rote Laterne da unten und natürlich auch an ihre Freundin, dass ihr uns so treu auf unserer Tour begleitet. Das nächste Bier geht auf uns!«
Und dann spielten sie »Lady in Red« …
Noch nie in ihrem Leben hatte Cia ein solches Chaos in sich verspürt wie in diesem Augenblick. Sie war gleichermaßen geschockt, verärgert, peinlich berührt, andererseits war sie voll unbekannter verwirrender Gefühle, die dieser verdammt gutaussehende Typ dort oben auf der Bühne in ihr auslöste. Ihr erster Impuls schrie zwar: »Bloß schnell weg von hier!«, und auch Julika meinte, sie hätten sich bis auf die Knochen blamiert und konnten sich hier nie wieder blicken lassen, aber eine innere Stimme flüsterte Cia zu, dass genau das der Mann war, der in der Lage war, eine Tür in ihr zu öffnen, die bisher fest verschlossen war.
Sie blieb. Sie blieb sogar bis lange nach dem Konzert und sie die Gelegenheit hatten, mit den Musikern noch ein Bier zu trinken und sie persönlich kennenzulernen.
Ein paar Tage später verabredeten sich Cia und Maikel das erste Mal.
Das war genau sieben Jahre her.

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