Absturz aus dem Reich der Worte

Absturz aus dem Reich der Worte

Erhard Struwe


EUR 20,90
EUR 12,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 178
ISBN: 978-3-95840-020-7
Erscheinungsdatum: 26.02.2015
Das Reich der Worte reicht aus, um jede Begebenheit zu erklären oder zu begründen. Mark wird nach 20 Jahren im Betrieb gekündigt. Wie soll er als Schwerhöriger auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen? Dann beginnt er ein neues Projekt und das Blatt scheint sich zu wenden.
Vorwort

Einige Lebenswege kann man ergründen, weil sie vorhersehbar sind. Manche kann man planen, weil der Ablauf logisch ist.
Andere geschehen unvorhersehbar, planlos, sie entsprechen einer Willkür oder der Tageslaune, die der Entscheidungsfähigkeit der entsprechenden Entscheidungsträger entspricht.
Mark hatte gearbeitet, gelebt, für etwas, das nur eine Scheinwelt aus Worten war.
Das waren Worte… schöne Worte… beruhigende Worte.
Es waren nur Worte.
Sie begleiten ihn das ganze Leben.
Sie beschreiben Marks Höhenfüge, genauso gut wie die Abstürze.
Das waren Worte… schöne Worte… verletzende Worte.
Sie erzählen Marks Geschichte.
Marks Gedichte, die diese Geschichte begleiten, sind ein Spiegelbild seiner Gedanken, ein Abgleich seiner Emotionen.



Absturz aus dem Reich der Worte

„Du bist auch noch nie geflogen“, erwiderte Mark gereizt, „weil du einen Vorgesetzten hast, der die Arbeit zu schätzen weiß. Du bist nie geflogen, weil dein Vorgesetzter die Aufgabe pflichtbewusst erledigt und die Arbeit der Arbeiter anerkennt und honoriert. Du bist noch nie geflogen, weil dein Vorgesetzter weiß, wie man eine Firma leitet und organisiert. Du bist nie…“ Mark hielt inne. Er atmete noch einmal tief durch.
Vielleicht weil er die großen Augen seines Gesprächspartners sah.
Oder weil er es einfach für besser hielt, solange er seine Wortwahl noch kontrollieren konnte, etwas abzuwarten. Oder vielleicht, weil Mark sich über den Gesichtsausdruck seines Gesprächspartners amüsieren musste, weil er plötzlich im Blick seines Kumpels tausend Fragezeichen sah.
Er wusste ja nicht, wie mit ihm gespielt worden war.
Er konnte es nicht wissen. Eigenartig war, wie aus einem normalen Gesprächsthema ein „Streitgespräch“ geworden war.

Sein Kumpel schaute Mark mit großen Augen an.
Ungläubigkeit mischte sich in seine Augen, verbunden mit einem leichten Entsetzen.
Vielleicht hatte er diese Aussage in diesem Tonfall nicht erwartet. Oder der Inhalt war für ihn zu unverständlich.
Das konnte Mark verstehen.
Auf jeden Fall war es die Spontanität und der Ausdruck, die ihn sichtlich überraschten.
Anscheinend war Mark dermaßen in Rage geraten, dass er, ohne es zu wollen, etwas lauter geworden war.
Es war doch kaum zu glauben, wie er sich bei einem simplen Gespräch mit einem alltäglichen Thema so sehr zu diesem Emotionsausbruch hinreißen ließ.
Es war bestimmt kein Ruhmesblatt, von einer Firma gefeuert worden zu sein. Nicht zuletzt deswegen, weil man schnell ein Eigenverschulden dabei erahnen konnte.
So wurde es vielleicht im allgemeinen Sprachgebrauch gehandhabt, aber dem war nicht so.
Doch das wusste keiner.
Das konnte keiner von der Gruppe ahnen.
Aber Mark musste diese schmerzliche Erfahrung machen.
Genauso wie die Tatsache, dass es nicht immer am Auto liegen konnte, wenn plötzlich ein Baum mitten auf der Straße stand…
Er sagte das demselben Kumpel, mit dem er vor einigen Jahren ein ähnliches Streitgespräch hatte.
Damals ging es um eine Übung der Fördergruppe, der sie beide angehörten.
Beide waren sie sehr engagiert gewesen.
Wahrscheinlich war er der aktivere Punkt, weil die Arbeitszeiten Marks Einsätze etwas ausbremsten und schwer planbar machten…
Aber Mark ließ es sich nie nachsagen, dass er irgendwo aus niedrigen Beweggründen fehlte.
Darum wollte er nach seinem Ermessen auch immer, so gut es ihm möglich war, am Vereinsleben teilhaben.
Es war eine Übung geplant.
Diese wurde in zwei Abläufen ausgerichtet und das Team suchte noch dringend freiwillige Helfer und Organisatoren.
Als die Frage an Mark gerichtet war, sagte er achselzuckend: „Ich weiß nicht, ob ich helfen kann, weil ich heute nicht weiß, wie ich in zwei Wochen arbeiten muss.“
„Du bist doch im Schichtdienst, und da weißt nicht, wie du in zwei Wochen arbeiten musst?“, wunderte sich damals sein Kumpel und schaute ihn total verständnislos an.
Mark wusste, wie unglaubwürdig das klingen musste.
Aber es stimmte. Es war zwar etwas schwer nachvollziehbar, dass er seine Arbeitszeiten für die nächsten zwei Wochen nicht wusste, aber es war so.
Aber weil die Aussage so unglaubwürdig klang, musste es sich wohl für einige so anhören, als ob er sich vor der Arbeit drücken wollte.
Doch dem war nicht so.
Mark schüttelte etwas hilflos den Kopf.
„Wenn deine Arbeitszeiten regelmäßig…“
Wieder konnte Mark nur seinen Kopf schütteln.
„Das einzig regelmäßige an meinen Arbeitszeiten ist, das sie ziemlich unregelmäßig sind“, unterbrach Mark ihn.
Sein Kumpel sah ihn an, als würde er ihm von einem achten Weltwunder erzählen.
„Du kannst mir doch nicht sagen“, zweifelte er“, dass du nicht weißt, wie du in zwei Wochen arbeiten musst.“
Er konnte sich da nicht reindenken, für ihn war eine normale, planbare Arbeitszeit normal, wahrscheinlich das Natürlichste auf der Welt.
Aber für die einen ist etwas das Natürlichste auf der Welt, für andere ist dieses Natürlichste ein Weltwunder.
Nein, in so etwas kann man sich nicht hineindenken.
„Ich würde es dir gerne sagen“, erwiderte Mark, „aber ich kann es nicht.“
„Das gibt es nicht“, winkte sein Gesprächspartner ab.
Diesen Zweifel konnte Mark durchaus verstehen, aber wie sollte er das Gegenteil erklären? Ein Gegenteil, das Mark sich manchmal selbst nicht erklären konnte.
„Ich kann es wirklich nicht“, versicherte Mark.
Was solle er sonst darauf sagen?
Sein Kumpel arbeitete in einer Firma, in der die Arbeitszeiten und Abläufe planbar, vorherschaubar und logisch waren.
Das konnte für ihn vielleicht eine Selbstverständlichkeit sein, aber Mark kannte sie nicht. Seine Arbeitszeiten und die seiner Frau, sie arbeiteten in derselben Firma, wurden nach Gutdünken und nach der Tageslaune umgestellt, sodass sie sich wöchentlich, manchmal sogar täglich, unvorhersehbar änderten.
Vielleicht glaubte er, dass Mark ihm einen Bären aufbinden wollte oder dass er sich vor der Arbeit drücken wollte.
Aber dem war nicht so.
So unglaubwürdig es auch klingen mochte, Mark konnte seine Zeit ebenso wenig planen, wie die Arbeitszeit.
Die Arbeitszeit wechselte unbeständig, meistens erfuhren sie diesen Wechsel erst am Ende der vorhergehenden Woche.
Das machte die Planung der darauf folgenden Woche ziemlich kurzfristig.
So geht Planung heute.
„Ich weiß im Januar schon, wie oder wann ich im Dezember arbeiten muss“, fing sein Kumpel zu prahlen an.
„Dann bist du ein Glückspilz“, seufzte Mark.
„Wieso Glück?“, erwiderte sein Kumpel, „das hat nichts mit Glück zu tun, das ist ganz schlicht und ergreifend eine Frage der Planung.“
Eine Frage der Planung, damit hatte er es gesagt. Die Planung war wirklich infrage gestellt.
Mark schüttelte nur seinen Kopf.
„Das ist in jeder Firma so.“
„Vielleicht arbeite ich in einer anderen Firma.“
„Habt ihr keinen Chef?“, wollte er wissen.
„Sprich mit einer Wand und du sprichst mit demselben“, schüttelte Mark den Kopf.
„Und Betriebsrat?“, wollte sein Kumpel weiter wissen.
Er schaute Mark forschend an und glaubte wohl das Ei des Kolumbus gefunden zu haben.
„Den haben wir“, antwortete Mark, „aber nicht für jeden.“
„Aber der muss doch dafür sorgen“, erwiderte sein Gesprächspartner verständnislos, „dass die Belange der Belegschaft…“
„Die Belange hängen an einer anderen Stange“, fiel Mark ihm ins Wort. Und wusste genau, was er damit meinte.
Sein Kumpel schaute ihn mit großen Augen an.
Vielleicht sprachen sie von zwei verschiedenen Welten.
Er schüttelte nur seinen Kopf, Mark wusste es anders, er hatte den bitteren Geschmack einer besonderen Firmenpolitik gespürt.
Eine Firmenpolitik von Volksschülern und Federakrobaten.
Er wusste, was es heißt, allein gelassen zu werden.
„Oder nicht?“ Neugierig schaute er Mark an.
Sein Gesprächspartner suchte wohl die Bestätigung seiner Aussage,normalerweise hatte er auch recht. Aber wusste er auch, wie der Schuss gezielt nach hinten losging und in die eigenen Reihen traf?
Wahrscheinlich nicht.
„Die Belange sind meistens belanglos“, antwortete Mark, „wenn es nicht die eigenen sind.“
„Was seid ihr denn für ein Haufen?“, wollte sein Kumpel mit steigernder Verständnislosigkeit wissen.
Ein Haufen?
Hatte er „ein Haufen“ gesagt?
Er wusste gar nicht, wie recht er damit er hatte.
„Einer, wo einige machen können, was sie wollen“, gab Mark etwas deprimiert zur Antwort.
„Dann wird irgendwann auch jemand mit euch machen, was er will“, prophezeite sein Kumpel.
Was sollte Mark darauf sagen?
Wie konnte er es ändern?



Spiele des Lebens

Immer hörte man sie sagen,
will man nicht in Bedrängnis geraten,
muss man nach Bildung fragen,
dann lässt die Not auf sich warten.
Das waren Sprüche einer alten Welt,
die in eine Vergangenheit führt.
Heute gilt nur das, was gefällt,
wenn man den eigenen Nutzen spürt.
Auf die alten Regeln wollte er vertrauen,
versuchte mit einer Mittelmäßigkeit,
sich eine Stellung aufzubauen,
aber Nutzen der Bildung war Vergangenheit.
Weil es an Orten andere Talente gibt,
die sie als bettgefedert verstehen,
oder wer den Schneckengang liebt,
für beides muss man ganz unten gehen.
Manch einer fing mit Bildung an.
Mark hatte die alte Regel weitergeführt,
dass man mit anderem mehr erreichen kann,
hatte er schmerzlich zu spät gespürt.
Auch diejenigen, die zu entscheiden haben,
so sehr ihre Kenntnis abweicht,
erfüllen sie nur die Aufgaben,
die für ihre Existenz ausreicht.
Aber damit hatten sie es geschafft,
sie mussten nichts dafür belegen.
Aber mit ihrer Entscheidungskraft,
gingen sie ihresgleichen entgegen.
Derjenige, der etwas erlernt,
für den Beruf des Lebens,
hat sich von dem Ziel entfernt,
und tat es vielleicht vergebens.

Die anderen haben sich ihr Paradies gemacht,
auf ihren bildungs- und planlosen Wegen,
hatten sie nur an ihre Vorteile gedacht,
und gingen ihrem Abgrund entgegen.


Es war kaum zu glauben, wie groß der Unterschied zwischen Arbeitszeit und Zeit bei der Arbeit sein kann.
Genauso unglaublich war es, einsehen zu müssen, wie klein der Unterschied zwischen Lohn für die Arbeit und Belohnung für die Anwesenheit ist.
Das hatte Mark über Jahre erfahren.
Es war schmerzlich einzusehen, dass diese Personen einen größeren Stellenwert bei der Betriebsleitung hatten, als diejenigen, die tagtäglich pflichtbewusst ihre Arbeit erledigten.
Schmerzlich war es, einsehen zu müssen, wie Fleiß und Bildung in den Wind geschossen und übergangslos mit Gleichgültigkeit und egoistischem Eigennutz ersetzt wurden.
Dass dieses System keinen dauerhaften Bestand haben konnte, war das Ergebnis der firmenpolitischen Irrfahrt.
Mark musste über seine Arbeit beinahe ständig die Betriebsleitung informieren. Das Firmenhandy ersparte manche unnützen Wege.
Nicht selten wurde er von der Betriebsleitung an- oder zurückgerufen. Aber Mark hörte es nicht. Nicht, weil er es nicht hören wollte. Er litt schon seit Längerem unter Schwerhörigkeit.
Darauf wurde er auch oft, meistens aufmunternd, von der Betriebsführung angesprochen.
Deshalb nutzte er seit geraumer Zeit Hörgeräte, die ihm die Verständigung oftmals erleichterten.
Schon so lange, dass es jeder wusste. Trotzdem änderte sich an seiner Position nichts. Seine angelernte Arbeitsmotivation, seine Aufgabe zu erfüllen, machte sich vermutlich bezahlt.
Die Arbeitsmoral war aber für den Großteil nur ein lästiges Anhängsel, das zwischen Arbeitsbeginn und Feierabend mehr oder weniger erfolgreich verdrängt wurde.
Schließlich wurde es genauso gut bezahlt.
Schon ab dem Zeitpunkt, an dem die Firma den Namen änderte, änderte sich ihr Gesicht.
Es änderten sich genauso die Gesichter der Vorgesetzten, die Gesichter der Firmenpolitik und das zog sich wie eine Grimasse durch die gesamte Firma.
Doch das musste nicht unbedingt etwas Schlechtes bedeuten, wenn man von der Weisheit „neue Besen kehren besser“ ausgehen würde.
Aber was kann der Besen dafür, wenn der Benutzer ihn nicht zu bedienen weiß?
Mark hatte am Anfang gehofft, wenn die neuen Besitzer ein aufmerksames Auge auf das gesamte Bild der Institution werfen würden, würden sie bestimmt die Schwachpunkte erkennen.
Dann würden sie den Sinn des Satzes, der bei der Übergabe formuliert wurde, „ein einwandfreies Team“, erkennen und folgerichtig auswerten.
Dann konnten sie unvoreingenommen Entscheidungen treffen.
Das musste durchaus nichts Schlechtes bedeuten.
Dann würde sich höchstens die Spreu vom Weizen trennen.
Dann musste zwangsläufig etwas geändert werden, dann mussten zwangsläufig Köpfe rollen oder sie mussten sich ändern.
Und das wäre ein Schritt nach vorne gewesen.
Aber dieser Schritt vollzog sich nicht.
Das bedeutete für einige das Ende. Gewollt oder ungewollt. Für die Verantwortlichen des Endes ein neuer Anfang.

Das könnte ihnen auch gefallen :

Absturz aus dem Reich der Worte

Ria Klemmer

Gedichte aus meiner Welt

Buchbewertung:
*Pflichtfelder