Zacho

Zacho

Karl Koch


EUR 22,90
EUR 13,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 256
ISBN: 978-3-903271-56-2
Erscheinungsdatum: 23.09.2020
Das Massaker an der gesamten Bevölkerung eines kleinen kolumbianischen Dorfes scheint perfekt verlaufen zu sein ‒ doch da ahnen die Hintermänner noch nicht, dass ihnen Zacho als einziger Überlebender noch brandgefährlich wird …
Konrad Zeller war es gewohnt für Aufträge seiner deutschen Firma von seinem Büro in Kolumbien aus in entlegene Landesteile auf dem südamerikanischen Kontinent zu reisen. Aber die jetzige Fahrt nervte ihn mit zunehmender Fahrdauer. Schuld war die eintönige Landschaft gepaart mit dem regnerischen Wetter. Je weiter er ins Unbekannte vorstieß, umso mehr Schlaglöcher wies der brüchige Straßenbelag auf.
Hier zu fahren war ermüdend und erforderte die ständige Beobachtung der Fahrbahn. Mehr als fünfzig Stundenkilometer im Durchschnitt waren bei diesen Verhältnissen nicht drin. „Meine Wirbelsäule wird heute Abend wieder streiken und das für einen so unbedeutenden Auftrag.“
Leise fluchte er vor sich hin: „So ein Mistwetter, warum kann heute nicht die Sonne scheinen, wenn schon die Landschaft nicht viel hergibt?“ Auch seine Lieblingsmusik, die er nun schon zum zweiten Mal von seiner CD wegen der unterschätzten endlos langen Fahrt abspielte, konnte seine Stimmung nicht aufhellen.
Immer wieder sah er Kaffeeplantagen links und rechts der Straße, aber nirgendwo einen Weinberg. „Und hier soll ich eine Anlage zur Weinherstellung betriebsbereit errichten“, ging ihm durch den Kopf. „Hoffentlich gibt es keine zwei Orte mit dem gleichen Namen und ich bin zum falschen unterwegs.“
Er ließ Orte mit nie gehörten Namen hinter sich, bis er nach langer Überlandfahrt schließlich müde und verschwitzt mit knurrendem Magen bei nur noch bleigrauem Tageslicht am Zielort Santiago del Monte eintraf. Der Regen hatte schon länger aufgehört, und so hatte sich seine Laune inzwischen etwas gebessert.
Der zentrale Platz des Ortes, auf den er fuhr, war zur Abendstunde gut besucht. Viele Campesinos saßen vor der dortigen Bar, und reges Stimmengewirr erfüllte den Platz.
Mit steifen Beinen kletterte Konrad Zeller aus seinem Gefährt, froh sich die Beine vertreten zu können. Am liebsten hätte er jetzt einige Lockerungsübungen gemacht. Aber dazu kam er nicht, denn schnell war er von einer Männertraube umringt, noch bevor er nach dem Weg zum Weinbauern Cortes fragen konnte.
Ein Fremder, dazu noch mit einem neuen Auto, welches man nur vom Prospekt her kannte, das musste man gesehen haben.
Nur selten verirrte sich ein Fremder in dieses weite Tal. Mit seinem Volkswagen erregte Zeller bei seiner Ankunft große Aufmerksamkeit. Alle kamen, um das Auto zu bestaunen. Zeller wunderte sich über das ungewöhnliche Interesse an seinem Wagen, bis jemand erklärte, dass es im ganzen Ort nur drei in die Jahre gekommene Autos unterschiedlicher Hersteller gab, deren gemeinsame Merkmale zahlreiche Beulen und Blessuren jedweder Art waren.
Geduldig beantwortete Konrad Zeller alle Fragen zu Leistung, Spritverbrauch und Höchstgeschwindigkeit und konnte schließlich selbst nach dem Weg zum Weinbauern Carlo Cortes fragen. Weil er geduldig alle Fragen aus der Menge beantwortet hatte, wollten ihm nun alle gleichzeitig den Weg erklären. Abwehrend hob er die Hände: „Danke, danke, es reicht, wenn mir einer den Weg beschreibt“, unterbrach er den
Redeschwall.
Schnell fand er den gesuchten Betrieb, wo man ihn schon erwartete. „Ich hoffe, Sie haben unseren Ort ohne allzu große Schwierigkeiten gefunden“, begrüßte ihn Carlo Cortes auf dem Hof seines Anwesens. „Die von Ihrer Firma vorab gelieferten Gerätschaften haben wir in dem Schuppen dort links eingelagert.
Aber das hat Zeit bis morgen. Kommen Sie zuerst einmal ins Haus, ich möchte Ihnen meine Familie vorstellen. Meine Frau wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen und dann werden wir gemeinsam zu Abend essen. Ich gehe davon aus, dass Sie nach so langer Fahrt hungrig sind.“
Konrad Zeller nickte zustimmend und bedankte sich für die herzliche Begrüßung. Insgeheim war er froh den richtigen Ort und den gesuchten Betrieb gefunden zu haben.
Zeller verkörperte das klischeehafte Bild eines Germanen mit seinen 1,83 Metern und seinen blonden Haaren. Trotz der ermüdenden Fahrt fielen seine Körperhaltung und sein bestimmtes Auftreten auf. Alles an ihm strahlte eine gewisse Ruhe und Gelassenheit aus. Wissende Augen verströmten Sicherheit und Kompetenz. Eine nicht zu übersehende Aura an Selbstbewusstsein umgab ihn. Sein Erscheinungsbild beeindruckte Cortes sehr, und mit sich zufrieden dachte er, dass er wohl die richtige Firma mit einem guten Fachmann beauftragt hatte.
„Nach dem Frühstück werde ich Sie morgen zuerst mit den Örtlichkeiten vertraut machen“, meinte Cortes beim Abendbrot wohlwollend. „Danach können Sie mit Ihrer Arbeit beginnen.“
Konrad Zeller war an diesem Abend recht einsilbig. Ein richtiges Gespräch wollte nicht aufkommen. Dazu war er zu abgespannt. Er bedankte sich für den herzlichen Empfang und das schmackhafte Essen und bat – müde von der langen Fahrt – um Verständnis dafür, dass er sein Zimmer aufsuchen wollte.

Es herrschte klarer Sonnenschein als Konrad zum Frühstück erschien. Der Regen war wie weggeblasen. „Das richtige Wetter um Ihnen die Weinberge und unseren Ort zu zeigen“, begrüßte ihn ein gutgelaunter Carlo Cortes.
Auf dem Weg durch die Weinberge erzählte Cortes, dass er seit einigen Jahren Versuche machte, sich durch die Erzeugung von Wein neben dem Kaffee ein zweites Standbein zu schaffen. „In jahrelanger mühevoller Arbeit haben wir die bislang ungenutzten Flächen an den Hängen in Südlage in Weinberge umgewandelt.“
Konrad Zeller fragte ihn etwas überrascht: „Wie kommt man als Kaffeebauer auf die Idee Wein herzustellen? Zumal Wein in Kolumbien selten getrunken wird.“
„Meine Frau ist vom Stamm der Mapuche aus dem Süden Chiles“; erzählte er. „Von ihr stammt die Idee mit dem Weinbau, den kennt sie aus ihrer Heimat Chile.“
Beim Gang durch die Weinberge informierte ihn Cortes: „Wir haben im Vorfeld Versuche mit unterschiedlichen Rebsorten hinsichtlich Boden und Ertrag durchgeführt, bevor wir uns für einen größeren Anbau entschlossen haben. Nun steht die erste größere Ernte bevor. Wir sind sehr aufgeregt“, gestand Cortes. „Die Ernte scheint gut auszufallen, aber Masse ist nicht Klasse. Das ganze Dorf verfolgt unseren Versuch in gespannter Erwartung.“
Konrad Zeller drängte sich die Frage auf, wer denn in der Familie über Kenntnisse der Weinherstellung verfügte. Cortes ahnte dessen Gedanken und erklärte lachend: „Über die erforderlichen Fachkenntnisse zur Weinherstellung verfügt meine Tochter Maria. Sie hat in Bogotá Biologie studiert und dabei die Weinherstellung als besonderen Schwerpunkt ausgewählt. Ich werde sie Ihnen heute Nachmittag, wenn sie kommt, vorstellen. Dann können Sie, wenn Sie wollen, mit ihr fachsimpeln.“
Schweigend stiegen beide hintereinander die Stufen zu den höher gelegenen Rebstöcken empor. Cortes blieb immer wieder stehen, begutachtete die Trauben und schnitt mit seiner Schere, die er immer bei sich trug, einzelne junge Triebe zurück. „Mit der Weinlese können wir bald beginnen“, lautete sein Urteil, sich zu Zeller umdrehend.
Etwas außer Atem fragte er oben angekommen: „Darf ich Sie nach dem längeren Marsch durch die Weinberge zu einem Kaffee in die Bar am zentralen Platz einladen? Ich kann jetzt einen Kaffee vertragen. Wie ist das mit Ihnen?“
Ohne eine Antwort abzuwarten fuhr er fort: „So lernen Sie unsere Dorfbar kennen. Sie würden mir eine Freude bereiten, wenn Sie mitgehen.“ „Gern“, sagte Konrad, „den Platz habe ich bereits bei meiner Ankunft gestern im Halbdunkel gesehen, aber vom Platz selber nicht viel erkennen können, da mein Auto viel Aufsehen erregte.“
„Zentrum des Platzes bildet der Dorfbrunnen mit seinen ihn umgebenden Bänken“, erklärte Cortes als sie den Platz aus einem Seitenweg kommend betraten. Mit dem Arm auf den Brunnen zeigend sagte er: „Die Figur auf dem Sockel in der Mitte stellt den Freiheitskämpfer Emilio Domingo Sanchez von der Insel Margarita dar.“
An einem freien Tisch Platz nehmend bestellte Cortes zwei Kaffee und Zeller ergänzte „Para mi con leche, por favor“.
„Der duftet ja betörend“, entfuhr es Zeller anerkennend als der Kaffee gebracht wurde.
„Der ist ja aus unserer eigenen Produktion und wird vom Wirten persönlich geröstet, etwas Besseres können Sie nicht trinken.“
Während Cortes seinem Besucher die Örtlichkeit erklärte, trank Zeller genüsslich seinen Kaffee. „Der Zufahrtsstraße gegenüber, hier links, sehen Sie unsere kleine, in die Jahre gekommene Kapelle, die zu klein geworden nicht mehr alle Einwohner bei einem Gottesdienst aufnehmen kann. In einer Traube stehen dann die Gläubigen vor der geöffneten Tür.“
Das konnte sich Zeller gut vorstellen, wenn er an den gestrigen Abend und seine Ankunft dachte.
„Das größte Gebäude des Ortes, uns gegenüber, ist die Kooperative. Nach deren Gründung, an der ich großen Anteil habe, suchten wir damals einen geeigneten zentralen Platz für die Errichtung eines Lagergebäudes für die Kaffeeernte. Schließlich haben wir das zu klein gewordene und dem Verfall preisgegebene Gemeindehaus durch diesen Neubau ersetzt“, berichtete er nicht ohne Stolz in der Stimme.
„Das neue Gebäude haben wir so konzipiert, dass es beide Anforderungen erfüllt. Der Innenraum ist so gestaltet, dass er nach dem Verkauf der Jahresproduktion an Kaffee als Gemeindezentrum genutzt werden kann. Nur der Kaffee für den Eigenbedarf lagert ständig dort. Vergitterte Fenster schützen die eingelagerte Ernte. Wenn Sie wollen, können wir, wenn wir gehen, einen Blick hinein werfen.“ Das wollte Konrad Zeller nicht ablehnen.
„Der schmucklose Raum zeugt nicht gerade von Reichtum“, dachte Konrad als sie eintraten. Ein Bild des Staatspräsidenten, eingerahmt von fächerförmig angeordneten Flaggen, bildete den einzigen dauerhaften Schmuck im Raum.
„Der große, langgezogene Tisch“, erläuterte Cortes, „dient bei der Anlieferung der Ernte der Bewertung der Bohnen, als Schreibtisch und bei Festen als Verkaufstheke. Tische und Bänke sind dort an der Wand aufgestapelt. Zu Festen und an Feiertagen wird der Raum mit Papiergirlanden festlich geschmückt, wobei alle Hand anlegen.“
Aus der Tür hinaustretend sagte Cortes: „Nun kennen Sie in kurzen Worten dargestellt unser Dorf, das uns allen Heimat ist.“
Bei Cortes angekommen begann Zeller mit seiner Arbeit. Nach einiger Zeit kam eine junge Frau zu ihm und sagte die Hand ausstreckend: „Ich bin Maria, die Tochter des Hauses.“ „Ich bin Konrad Zeller“, entgegnete er, die dargebotene Hand schüttelnd. Scherzhaft meinte Maria ihn ansehend: „Zu Ihnen kann man ja im wahrsten Sinne des Wortes aufblicken, wir Kolumbianer sind ja etwas kleinwüchsiger.“
Maria, der zierlichen, lebenslustigen jungen Frau mit pechschwarzen, seidenglänzenden Haaren, wurde Konrad ansehend ganz kribbelig und dachte: „Warum sieht der Fremde mich so eindringlich an?“
Ohne erkennbaren Grund verunsicherte diese junge Frau den sonst so sicheren Konrad Zeller. Alles war so aufregend unvertraut. Sie bezauberte ihn augenblicklich, nicht allein wegen ihrer Schönheit und ihrer sanften Formen, sondern vor allen Dingen wegen ihrer Selbstsicherheit und Fröhlichkeit.
Nach getaner Arbeit hatte Konrad Zeller bei einem Glas Wein die Gelegenheit, Maria, wie er glaubte unbemerkt, zu betrachten.
So, wie sie dort in ihrem jadegrünen Kleid mit ihren verwirrenden Kurven im Sessel saß, ertappte sich Konrad bei dem Gedanken sie altersmäßig einschätzen zu wollen.
„Warum interessiert mich bei dieser Frau das Alter? Was geht mich das an?“
Sein Interesse an Maria blieb von dieser nicht unbemerkt. Sie fühlte sich geschmeichelt.
Er empfand, dass ihre Augen in einem unergründbaren Feuer funkelten, jederzeit schien sie bereit, in ein reizendes, gewinnendes Lachen auszubrechen. Alles zusammen hatte seinen Verstand hinreichend verwirrt. Er hatte das Gefühl ihre Blicke legten sich einschnürend wie ein Seil um seinen Hals.
Als er bemerkte, dass sie ihn beobachtete und ihr wohl sein Interesse nicht verborgen geblieben war, versuchte er abzulenken indem er auf ihre goldene Halskette und ihre Ohrringe zu sprechen kam.
„Der Schmuck, den Sie tragen, gefällt mir sehr gut. Sind das indigene Motive?“ Sie zog ihre Halskette aus, reichte sie ihm und erklärte ihm die indigene Symbolik der Darstellungen.
Nach dem gemeinsamen Abendessen zog sich Konrad müde zurück, da er am kommenden Tag früh mit seiner Arbeit fortfahren wollte. Außerdem wollte er diese eintönige Gegend so schnell wie möglich wieder verlassen.
Bei der Arbeit am nächsten Tag verfolgte Maria jeden seiner Handgriffe und stellte immer wieder Verständnisfragen. Über die damit einhergehende Fachsimpelei bis zum abschließenden Probebetrieb nach einigen Tagen genoss Konrad die Anwesenheit Marias und ihr Interesse an seiner Arbeit.
Alle Komponenten der Anlage arbeiteten reibungslos und Konrad Zeller dachte mit einem nicht erklärbaren Gefühl im Magen, welches ihm fremd war, an seine bevorstehende
Abreise.
Seine Gedanken kreisten um dieses, wie er fand zerbrechliche Wesen, dessen Alter er nicht einzuschätzen vermochte. „Eine Frau mit Herz und sehr viel Güte in der Stimme“, dachte er.
Die Bedeutung seiner Empfindungen wollte er sich nicht eingestehen, zu neu war alles für ihn. Aber die Gedanken beschäftigten ihn fortwährend so sehr, dass er sich über sich selbst ärgerte. Ihn interessierte diese junge Frau mit den großen dunklen Augen, die nur aus Herz zu bestehen schien. Mit ihr gemeinsam alt zu werden konnte er sich gut vorstellen. „Ob sie wohl auch so dachte?“
Da ihn kein anderer dringender Auftrag erwartete, blieb er bis zum Ende der Weinlese, dem Pressen der Trauben und der Abfüllung des erzeugten Mostes in den großen Edelstahltank. Die Anlage arbeitete unter Betriebsbedingungen einwandfrei.
Der Winzer, dem das Interesse des Deutschen an seiner Tochter nicht verborgen geblieben war, sagte bei der Verabschiedung: „Sie sind herzlich eingeladen, an der ersten Verkostung des jungen Weines teilzunehmen. Den Weg zu uns kennen Sie ja. Wir würden uns freuen, wenn Sie kommen.“

Im Nordwesten Kolumbiens, auf der riesigen Finka von Don Alfonso de Nieble, begannen erste Vorbereitungen für das alljährlich im Mai stattfindende Fest der „Virgen del Valle“ mit seiner Romeria.
Don Alfonso konnte man seine spanische Abstammung ansehen. Ein kleinwüchsiger Mann, der schon früh Witwer wurde. Er galt als gefühlskalt. Die Kunst des Alterns, alles mit einer gewissen Gelassenheit anzugehen, war ihm fremd. Er verlangte von sich und allen anderen gute Arbeit und überwachte diese mit strenger Hand. „Macht, die keine Strafe zu fürchten braucht, ist schon erträglich“, sagte er sich oftmals.
Sich selbst betrachtete er als den Schlussstein im Gewölbe seines weitverzweigten Unternehmens, in dessen Zentrum die Finka stand. Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er seine geringe Körpergröße durch ein herrisches Auftreten zu kompensieren versuchte. Er war überzeugt so sein zu müssen, um ein Unternehmen dieser Größe zu führen.
Der alte Landadel, der über Jahrhunderte das Heft im Land in der Hand hatte, fühlte sich heute in seinen Privilegien bedroht. Neue Player sind beispielsweise die Drogenbosse, illegale Goldgruben und die Guerillaorganisation FARC. Zum Erhalt des eigenen Einflusses bedurfte es größerer Finanzmittel, die aus der rein landwirtschaftlichen Tätigkeit heute kaum noch zu erwirtschaften waren. Die allgegenwärtige Korruption machte Zuwendungen an diverse leere Taschen erforderlich.
Ein abfälliger Blick auf Neureiche, die mit Drogen oder illegalem Goldbergbau in kurzer Zeit große Vermögen erwirtschafteten, reichte da nicht aus. Deren Einfluss nahm aber nach de Niebles Wahrnehmung beängstigend zu.
Einmal in dieses System eingebunden musste man sich an die dort geltenden Regeln halten. Um seinen Einfluss zu wahren hat Alfonso de Nieble – neben der Finka – ein Netz weiterer Unternehmen in unterschiedlichen Branchen gesponnen, um die benötigten Gelder zu erwirtschaften. In der Wahl seiner Geschäfte und Methoden war er keineswegs zögerlich, wenn sie eine gute Rendite abwarfen.
Neben ihm gab es noch Roberto de Nieble, der als sein Sohn verstanden wurde. Ein Narzisst, der manchmal mit blenderischem Halbwissen zu beeindrucken versuchte. Die genaue familiäre Zuordnung lag aber für Außenstehende im Dunkeln.
Die Finka, eine Farm riesigen Ausmaßes, war ein Konvolut verschiedenster Gebäude unterschiedlichen Alters. Sie gruppierten sich alle um das Herz der Finka, einen schönen, großen Patio mit umlaufenden Bogengängen und einem Brunnen im Zentrum. Viele bunt bemalte Blumentöpfe mit landestypischen Pflanzen standen dort. In jedem der Bögen hing eine Blumenampel. Ein Ort zum Verweilen, der jeden Besucher gefangen nahm. Ein Heer fleißiger Hände sorgte für den Erhalt des gesamten Anwesens.
Zur Romeria wurde jedes Jahr die Bevölkerung des weiten Umlandes auf die Finka geladen. Dieses große Fest mit seiner Prozession hatte eine fast 200-jährige Tradition und war inzwischen zu einer Art Wallfahrt geworden.
Das zumindest pflegte Don Alfonso stets den geladenen Gästen aus Politik, Militär, Polizei, Wirtschaft und der Presse in seiner Begrüßungsansprache voller Stolz zu erklären.
Sie alle nutzten die Gelegenheit der Romeria auf hoher Ebene persönlich miteinander in Kontakt zu treten und sich bewirten zu lassen. Eine interessante Tauschbörse von Meinungen und Informationen. Niemand ahnte, dass Don Alfonso dieses Fest auch dazu nutzte, um über jeden Amtsträger ein Dossier mit Erkenntnissen aus Gesprächen anzulegen, welches er – wenn nötig – zu nutzen gedachte.
Unter lauten „Viva Maria“-Rufen wurde die ehrwürdige Madonna alljährlich aus der kleinen Kapelle der Finka herausgetragen. In früheren Jahren trugen 8 Männer die auf zwei langen Holmen befestigte Madonna um die Finka.
Die zunehmende Teilnahme aus dem Umland machte es erforderlich, die Madonna auf einem mit Blumen festlich geschmückten Wagen durch die Felder und Weiden zu fahren. Hunderte andere, mit bunten Tüchern und Blumen geschmückte Kutschen und Wagen aller Art aus dem weiten Umland folgten ihr in einer wahrhaft bunten Prozession.
Don Alfonso liebte es getreu seiner spanischen Vorfahren bei derartigen Anlässen mit breiter Talega und seinem schon etwas abgeschlissenen Sombrero Cordobes aufzutreten und hoch zu Pferd die Romeria anzuführen. Nur Insider wussten, dass Don Alfonso in dieses Gut eingeheiratet hatte und heute, nach dem Tod seiner Frau, die Tradition des Hauses als die seiner Vorfahren ansah.
Nach der Rückkehr der Prozession und einem kurzen Dank an die Teilnehmer durch Don Alfonso wurden Speisen und Getränke gereicht. Höhepunkt war das Anschneiden des am Spieß gebratenen Ochsens. Mit Musik und Tanz im Patio klang das Fest lange nach Mitternacht aus.
Für viele der teilnehmenden Campesinos war dies ein besonderer Tag, denn die hier gereichten Speisen und Getränke mussten sie in ihrem Alltag meistens entbehren.
Dieses Fest war mit ein Grund dafür, dass die Protestbewegung gegen Großgrundbesitzer in dieser Region wenig Zulauf hatte. Dies wusste de Nieble und tat alles dafür, dass dies so blieb.

Der erste in Santiago del Monte hergestellte Wein wurde bei einem großen Fest verkostet. Auch Konrad Zeller war angereist. Spätestens jetzt blieb niemandem im Ort die Zuneigung zwischen Konrad und Maria verborgen. „El Aleman“, der Deutsche, wie Konrad alle nannten, hatte sich in der kurzen Zeit der Installationsarbeiten hohes Ansehen erworben, da er auch manchem Campesino bei technischen Problemen half und Geräte, die lange vor sich hin gerostet hatten, wieder nutzbar machte.
Ein Stolperstein auf dem Weg zu einem gemeinsamen Glück war, dass Konrad seine Zukunft nicht als Kaffee- und Weinbauer sah und darüber offen mit Maria sprach.
„Die Unsicherheiten bei der Erntemenge, die Schwankungen beim Preis für Rohkaffee auf dem Weltmarkt, aber auch die Vorlieben der Kolumbianer für Longdrinks statt für Wein bieten nach meiner Ansicht keine erstrebenswerte Langfristperspektive für eine Familie.“
„Eventuell gelingt es ja mit geeigneten Rebsorten Wein für den Export, z. B. nach Deutschland, herzustellen“, warf Maria dabei gewinnend lächelnd ein.

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