Vorbestimmt

Vorbestimmt

Lukas Jahn


EUR 16,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 222
ISBN: 978-3-99048-736-5
Erscheinungsdatum: 25.04.2017
Thomas findet seinen Schatz, doch nichts ist so, wie es scheint. Der Planet wurde ausgebeutet und zerstört, und auch in seiner wahren Heimat ist nichts mehr so, wie es einmal war. Was nun? Als er in die Fänge des Feindes gerät, geschieht etwas Unglaubliches …
4.1 Aufwachen!

An einem so unwirklichen Ort, wie man ihn sich in seinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen kann, liegt ein junger Mann entkräftet auf dem staubigen Boden. Es weht ein heißer Wind, beinahe so, als wenn man zu nahe an einem Feuer steht und die Hitze im Gesicht fühlen kann. Nur hier ist es keine kurze warme Brise, sondern vielmehr die Normalität! Es ist über vierzig Grad warm, die Luft ist staubtrocken und die Umgebung ohne einen kleinsten Tropfen Wasser, beinahe ausgestorben. Es sind keine Geräusche von irgendwelchen Tieren oder sonst etwas zu hören, nur der leise dumpfe Klang der Staub- und Sandkörner, die der Wind umherweht. Inmitten dieser menschenfeindlichen Gegend befindet sich ein junger Mann, er heißt Thomas und hat schon eine sehr lange Reise hinter sich, voller Gefahren und gefährlicher Momente. Man könnte sagen, er habe nur durch einen unglaublichen Zufall überlebt und es bis hierher geschafft, doch dieses Wort kennt Thomas nicht, er weiß, es war Schicksal! Doch nun liegt er bewusstlos da, völlig ausgetrocknet durch den Wassermangel in seinem Körper und der unglaublichen Hitze.

Er fiel vor wenigen Minuten entkräftet auf den Boden, er konnte keinen Schritt mehr machen, zu lange lief er schon durch diese trostlose Gegend. Wie er hierherkam weiß er nicht, hingegen was er hier zu finden glaubte, war ihm von Anfang an klar. Er ist schon sein ganzes Leben auf der Suche nach seiner Heimat, nach seiner Familie, seinen Eltern und seinen Wurzeln. Doch was er hier vorfand, war alles andere als das, was er sich vorgestellt hatte. Er fand kein Leben hier, nicht einmal das kleinste Insekt oder ein Vogel scheinen hier überleben zu können, genauso wie er … Wo er genau ist, weiß er nicht, aber auf jeden Fall nicht mehr auf dem Berg der Insel vor der westafrikanischen Küste! Langsam öffnet er seine Augen. Im ersten Moment sieht er alles nur verschwommen, doch nach ein paar Minuten sieht er allmählich klarer. Er fühlt sich irgendwie besser als vorher, obwohl es so heiß ist, ist ihm im Moment nicht warm, im Gegenteil, es ist ihm schon beinahe kühl! Nach ein paar Sekunden beginnt er zu realisieren, was mit ihm passiert ist, wo er überhaupt ist und wie er hierhin kam. Das Letzte, woran er sich noch erinnern kann, bevor er hier an diesem unwirklichen Ort aufwachte, ist ein sehr grelles Licht. So hell, dass es ihn blendete, ausgelöst durch einen Himmelskörper, der ihm vom weiten Nachthimmel her entgegenzufallen schien! Als es immer heller wurde, der Komet oder das unbekannte Flugobjekt beinahe bei ihm angekommen war, wachte er plötzlich hier in dieser Gegend auf!
An einem komplett anderen Ort als dem, an dem er vorher war! Er weiß nicht, wie das geschehen konnte, doch die Tatsache, dass es geschehen ist, lässt ihn glauben, dass er nun in seiner Heimat angekommen ist! Doch was er hier bisher gefunden hat, ist alles andere als der Ort, den er sich vorstellte. Dies war sein Wunsch, der alles in den Schatten stellte, hier zu sein … Er tat alles dafür, riskierte so vieles, verlor einige gute Freunde und fast sein Leben. Alles nur, um endlich anzukommen, anzukommen in seiner Heimat … Es gab keinen Tag, keine Stunde in den letzten Jahren, wo er sich nicht danach sehnte, seine Familie zu finden, um zu erfahren, wer er überhaupt ist. Seine Mutter, seinen Vater und alle Verwandten zu sehen, sie liebevoll zu umarmen und zu hören bekommen: „Nun bist du endlich angekommen, mein Sohn.“ Dies ist sein sehnlichster Wunsch, schon seit dem Tag, an dem er erfahren hatte, dass seine richtigen Eltern nicht jene sind, die er dachte. Eine lange Zeit schien alles so weit entfernt, dass er dachte, es bliebe alles nur ein schöner Traum, doch dann hörte er vom Schicksal, erlebte es selber aufs Schärfste, bis er das Wort „Zufall“ nicht mehr kannte. Alles schien für ihn vorbestimmt zu sein, geplant von einer höheren Macht. Immer wenn er Zweifel hegte, kam erneut irgendeine merkwürdige Person daher oder er hatte ein prägendes Erlebnis, bedingt durch Träume, die schlussendlich der Wahrheit entsprachen! Doch jetzt ist alles anders, das gelobte Land ist nicht das, was er sich vorstellte und irgendwelches Leben ist in diesem unwirklichen Ödland auch nicht möglich, denkt er sich und läuft langsam los. Wohin weiß er nicht, warum er hier ist hat er auch beinahe schon vergessen, es ist nun der Zweifel, der die Überhand gewonnen hat. Er ist entkräftet, müde, er kann nicht richtig atmen in dieser toxischen, schwefelartigen, nach Abgas stinkenden Luft. Wie lange er noch durchhalten kann, weiß er nicht, doch er ist nicht derjenige, der aufgibt, erst recht nicht kurz vor dem Ziel, so denkt er sich zumindest. Jedoch muss er unbedingt etwas trinken, schon seit beinahe zwei Tagen hat er nichts Flüssiges zu sich genommen! Doch das sollte er unbedingt in den nächsten Stunden, denn länger als drei Tage kann ein Mensch ohne Wasser nicht überleben. Er befindet sich jedoch in einer staubtrockenen Gegend, in der es so heiß ist, dass er viel Wasser beim Gehen verliert. Doch er erlaubt sich nicht anzuhalten, denn er weiß, dass dies seinen sicheren Tod bedeuten würde! Deshalb läuft er weiter, einfach geradeaus, so wie er es schon sein ganzes Leben lang getan hat. Einen Schritt nach dem anderen, nicht nach hinten blicken, nur nach vorne, immer geradeaus …

Er denkt sich: Auch, wenn er beinahe keine Kräfte mehr hat, gleich umfällt vor Erschöpfung, so reicht es doch bestimmt noch für einen einzigen Schritt! Nach diesem ersten Schritt wird ausgeruht, danach kommt der zweite Schritt und so weiter. In mehreren Etappen, und wenn es sein muss nach jedem Schritt eine Pause, er weiß, dass er es so schaffen kann. Je mehr Zeit vergeht, desto weniger ist er mental noch aktiv und im Hier und Jetzt. Langsam wird die Sicht immer trüber, er kann nicht mehr richtig denken durch die Dehydration. Alles, was er sich denkt, ist, einen Schritt nach dem anderen zu machen …
Dann sieht er nach über zwei Stunden in der Dunkelheit, wie etwas vor ihm ganz klein, aber dennoch sehr hell leuchtet. Es sieht aus wie ein Stern, so grell, wie es strahlt. Es ist mittlerweile beinahe dunkel, die Dämmerung hat eingesetzt und immer mehr sind auch die Sterne am Himmel zu sehen. Doch was hier so stark leuchtet, befindet sich nicht am Himmel, sondern vielmehr auf dem Boden, mehrere hundert Meter vor ihm auf einem kleinen Felsen, der auf einer Erhöhung steht! Doch mittlerweile ist seine Dehydration so weit fortgeschritten, dass er es nicht mehr richtig wahrnimmt, was da oben sein könnte, er folgt nun einfach diesem grellen Licht. Es ist sein Orientierungspunkt, sein Wegweiser in der mittlerweile komplett dunklen Einöde, in der er sich befindet. Durch die Dämmerung ist es ein wenig kühler geworden, die Sonne brennt nun nicht mehr heiß und erbarmungslos auf ihn herunter, doch die Luft ist nach wie vor alles andere als sauber, dazu kommt, dass es immer noch sehr drückend ist. Nach einer knappen halben Stunde ist er beinahe angekommen, es ist auch höchste Zeit, er bekommt fast keine Luft mehr und sein Mund ist staubtrocken! Das Licht wird, je näher er kommt, immer stärker. Dann, als er denkt nur noch wenige Meter von diesem leuchtenden Felsen entfernt zu sein, wird das Licht auf einmal innerhalb von Sekunden schwächer und erlischt schlussendlich ganz! Thomas kann seinen Augen nicht trauen, bis jetzt war er in einer Art Trancezustand, doch nun, als er sah, wie das Licht einfach verloschen ist, wurde er auf einmal hellwach! Mit letzter Kraft beginnt er zu rennen, in Richtung des Felsens, der nach wie vor hier ist. So schnell er kann eilt er dorthin, bis er keuchend dort ankommt und vor Erschöpfung daneben zusammenbricht. Ein paar Minuten liegt er ohnmächtig da, doch aus irgendeinem Grund wacht er gleich wieder auf und was er da sieht, würde ihm die Sprache verschlagen, wenn er seine Stimme nicht schon verloren hätte! Er sieht vor sich einen großen Lederbeutel, daneben eine kleine Holzschatulle, die einen Verschluss auf einer Seite besitzt! Der Lederbeutel ist über einen halben Meter lang, ein wenig mehr breit und hat eine hellbraune Farbe. Verblüfft kniet Thomas sich hin und fasst den Beutel an, er fühlt, dass es tatsächlich Leder ist. Eine Art Tasche ist es, er öffnet sie und sieht darin mehrere Einmachgläser voller Wasser! Ungläubig nimmt er eines in seine Hände und öffnet es, er setzt es an seine Lippen, und als der erste Wassertropfen seine staubtrockene Kehle berührt, kommt es ihm vor wie das schönste Gefühl, das er je erlebte! Genüsslich und hektisch setzt er sich hin und leert das kleine Glas mit einem Zug. Da wühlt er in der Tasche und entdeckt eine Art Brotlaib, dunkelbraun und etwa dreißig Zentimeter lang, mit ein wenig Mehl überzogen. Schnell beißt er hinein, ohne sich überhaupt zu überlegen, was es ist, oder von wem es sein könnte …
Zu groß war der Durst, zu übermächtig der Hunger, es ist ihm egal, von wem es ist, es geht ihm nur darum, dass er nun etwas essen und trinken kann! Von einem auf den anderen Moment geht es ihm besser, das Wasser hat ihn wieder mit Flüssigkeit versorgt und das Brot hat ihm Kraft gegeben. Dann nimmt er die seltsame kleine hellbraune Holzschatulle in die Hände und versucht sie zu öffnen. Doch sie geht nicht auf, der Verschluss scheint zu klemmen, sodass er sie nicht öffnen kann. Er versucht es mehrere Male, die Neugierde ist zu groß, um es nicht doch weiter zu versuchen. Dann, nach mehreren Anläufen, ertönt endlich ein erlösendes Klickgeräusch und die kleine Box öffnet sich. Was zum Vorschein kommt, erstaunt ihn sehr: Es ist ein kleines schwarzes rundes Gefäß mit zwei Zeigern darauf, die sich hinter einer Glasscheibe befinden. Es sieht auf den ersten Blick wie ein Kompass aus, doch die Himmelsrichtungen wie Norden oder Süden fehlen komplett, auch Osten oder Westen sieht man nicht, nur ein kleines Symbol auf der oberen Seite, wo bei einem Kompass Norden stehen würde. Er geht näher mit dem Kopf, um das kleine Zeichen besser sehen zu können, doch es ist so dunkel, dass er nur wenig wahrnehmen kann. Als es langsam Morgen wird, ist er in einer Art Halbschlaf. Die Neugierde, von wem oder was dieser Kompass und der Lederbeutel stammen, ist zu groß. Als ihn die ersten Sonnenstrahlen kitzeln, ist er sofort wieder wach. Das Erste, was er macht ist trinken und das letzte Stück Brot essen. Es war wie eine Erlösung für ihn, als er jetzt endlich etwas trinken konnte, noch nie zuvor in seinem Leben war er so durstig. Noch nie hat er sich so sehr über bloßes Wasser gefreut wie jetzt. Dann kommt ihm in den Sinn, dass er diesen seltsamen Kompass in der Dunkelheit gar nicht richtig gesehen hatte. Er öffnet die Schatulle, nimmt ihn raus und hält ihn ins Sonnenlicht. Aber er guckt nicht auf den Kompass, sondern vielmehr über ihn hinweg in Richtung der Wüste, denn nur wenige Meter vor ihm steht eine stählerne Statue! Ihre Umrisse weisen genau die gleichen Sicheln und geschwungenen Linien auf wie die Statue auf der Insel! Es ist jenes Zeichen, welches er auch auf dem Oberarm hat, dieses merkwürdige Symbol, von dem er immer noch nicht weiß, was es genau bedeutet! Wie perplex steht er da und staunt, während er sich überlegt an welchem mysteriösen Ort er sich eigentlich befindet. Da blickt er wieder auf den Kompass und sieht die Umrisse haargenau, er glänzt in einem matten Schwarzton, leicht oval und beinahe goldig im Inneren unter der Glasscheibe. Dann sieht er das merkwürdige Zeichen. Es sind zwei Sicheln, die eine sieht aus wie der Buchstabe b, kleingeschrieben. Der andere ähnelt einer Spirale. Es trifft ihn beinahe der Schlag, als er erkennt, dass es genau das Zeichen ist, was ihm einst auf den Oberarm gebrannt wurde! Es sieht zwar ein klein wenig anders aus, ein wenig gröber und mit weniger präzisen und halbrunden Linien, doch das Gesamtbild sollte wohl das gleiche darstellen! Dieses Zeichen, das auch auf der Statue auf der Insel war, schien ihn zu verfolgen, auf Schritt und Tritt … Oder ist es etwa umgekehrt und er folgt ihm? Ist dieses Zeichen ein Ausdruck seiner Heimat, soll es das Ziel symbolisieren? Von wem ist es? Warum ging die Person wieder weg und legte ihm nur das Wasser und den Kompass hin? Oder war es nicht für ihn bestimmt und er fand es nur durch Zufall? Doch das Wasser schien frisch, das Brot noch weich, es kann nicht lange hier gelegen haben … Obwohl es ihn einerseits erschreckt, dass ihm scheinbar jemand oder etwas folgt, stimmt es ihn dennoch positiv, es gibt ihm Hoffnung. Es kann kein Zufall sein, dass er hier ist und all dies gefunden hat, es muss seine Bestimmung sein, denkt er sich. Außerdem gibt es ihm Mut, überleben zu können, denn obwohl die Luft hier nicht gerade gut ist, er sich in einer sehr menschenfeindlichen Gegend befindet, so muss dies nicht das Einzige sein, was es hier gibt. Denn das Wasser war ja frisch, es muss irgendwo in der Nähe frisches Wasser geben, und wo es Wasser gibt, da gibt es auch Leben, es wachsen Bäume, welche die schlechte Luft absorbieren … Doch wo ist dieser Ort? Und wenn es ihn tatsächlich gibt, wie soll er ihn finden?
Da tritt er mit den Füßen auf einmal unabsichtlich an die kleine Schatulle aus Holz mit dem Gefäß darin, welches sich bewegt und um fast neunzig Grad umkippt! Er sieht, wie sich die Zeiger bewegen, sie richten sich aus, genauso wie ein Kompass, nur etwas zeitverzögert! Er liest ihn vom Boden auf, dreht sich um seine eigene Achse und stellt fest, dass sich die Zeiger tatsächlich auf irgendetwas ausrichten! Er dreht sich so lange, bis die Zeiger auf das Symbol gerichtet sind, guckt in diese Richtung und sieht vor sich in der Ferne, wie sich ein riesiges Bergmassiv zu erheben scheint! Ohne groß zu überlegen läuft er los, packt seine Ledertasche, in der noch die Hälfte des Wassers ist, und marschiert gestärkt weiter. Er hat jetzt wieder mehr Kraft als am vorigen Tag, er geht nun nicht mehr Schritt für Schritt, sondern schaut einfach nur nach vorn und auf den Kompass. Er glaubt fest daran, seinem Ziel auf diesem Wege näher kommen zu können. Er läuft immer weiter, doch nirgends ist ein Zeichen von Leben zu sehen, geschweige denn von Menschen, die Häuser oder sonst etwas gebaut haben. Kein Tier sieht er, er hört nichts, nur den Wind, der über die öde Steinlandschaft weht. Auch nach ein paar Stunden verändert sich daran nichts, nur Steine, Sand und Stille …
Doch das ist ihm mittlerweile egal, denn er denkt an die Berge, die sich vor ihm immer mehr in den Himmel strecken. Dahinter hofft er auf Menschen zu treffen, ja vielleicht sogar auf seine Familie. Dies gibt ihm unendlich viel Kraft, obwohl er auch Nicole, Hill, Sophie und die anderen sehr vermisst, weiß er doch, dass er nie glücklich sein könnte, wenn er nicht wenigstens auf der Suche gewesen wäre, auf der Suche nach seiner Heimat, seinen Wurzeln …
Nach über fünf Stunden macht er Pause, er setzt sich auf einen kleinen Felsen und trinkt etwas. Kurz danach legt er sich hin, der Marsch hierher war doch anstrengender als gedacht und die Sonne scheint sowieso in den nächsten Stunden unterzugehen. Er liegt unter einem kleinen Felsvorsprung, der einen kühlen Schatten auf ihn wirft, denn die Sonne ist so stark, dass er schon Sonnenbrand hat und es so heiß ist, das er sonst zu viel Wasser verlieren würde, wenn er unter ihr liegen würde. Durch den kühlen Schatten ist es ziemlich gemütlich, jedenfalls den Umständen entsprechend, so schläft er kurzum ein und erholt sich ein wenig von dieser bis jetzt sehr anstrengenden Reise. Bis zum frühen Morgen schläft er. Kurz bevor es beginnt hell zu werden, wacht er auf. Er hatte einen Albtraum, von dem er plötzlich aufgewacht ist. Zügig packt er seine Sachen zusammen und will gerade loslaufen, als er bemerkt, dass der Kompass nicht mehr funktioniert. Er schüttelt ihn, doch nichts passiert, die Zeiger sind wie eingefroren. Er läuft dennoch los, sein Ziel hat er mittlerweile vor Augen, es ist das Bergmassiv. Nach einer knappen Stunde beginnt es hell zu werden, die Sonne erhellt die Landschaft und Thomas sieht wieder etwas mehr als zuvor in der Dunkelheit. Doch es überrascht ihn keineswegs, denn alles sieht noch genauso aus wie am Tag zuvor: eine einzige öde schwarze Steinlandschaft, auch die Berge, die sich langsam zu erheben beginnen, sehen so aus, keine farbliche Vielfalt, es ist einfach alles schwarz … Er nimmt sein Kompass und hält ihn hoch in den Himmel, um zu sehen, ob er vielleicht jetzt wieder funktioniert. Er dreht sich mit ihm in der Hand um die eigene Achse und sieht tatsächlich, wie sich die Zeiger wieder bewegen. Es muss an der Sonne liegen, denkt er sich. Doch dies ergibt auch keinen Sinn, er weiß, dass ein Kompass auf das Magnetfeld der Erde ausgerichtet ist, die Sonne sollte dabei keine Rolle spielen. Fragen über Fragen, die er sich stellt, doch er kommt auf keine vernünftige Antwort. Aber er hofft, dass er bald am Ziel ankommen wird und alle Fragen beantwortet bekommt! Deshalb läuft er weiter, in Richtung der Berge, mit der Hoffnung, dass dies dann das Ende seiner Suche bedeutet. Dabei denkt er an seine Freunde, seine geliebte Frau, an den Ort, an dem er so lange lebte und der eigentlich zu seiner Heimat wurde. Doch diese Heimat hat er nie als eine solche angesehen, er wollte vielmehr immer weg von dort, hierher, da, wo er jetzt ist! Doch es kommen ihm trotz der Zeichen immer mehr Zweifel, ob er hier überhaupt das findet, was sein Herz begehrt und wonach sein Wille trachtet. Und wenn ja, dann wofür und zu welchem Preis? Zu dem Preis, alles Geliebte, was er bisher kannte, zu verlieren? Er hofft zutiefst, dass dies nicht der Preis ist, den er zahlen muss, er betet dafür. Als ihm diese Gedanken so durch den Kopf fliegen und er immer mehr befürchtet, dass sein so lang ersehnter Traum allmählich zum Albtraum wird, wird er wieder vom Gegenteil überzeugt. Denn vor sich entdeckt er den Anfang eines ausgetrockneten Flusslaufes, der sich genau in diese Richtung schlängelt, den der Kompass ihm anzeigt. Es scheint, als ob einmal ein Fluss oder ein Gewässer hier den Berg herunterfloss. Er hofft deshalb, dass oben an der Quelle noch Wasser fließt, oder dies sogar der Ort ist, von dem er das Wasser bekommen hat und dort vielleicht sogar jemand lebt! Wieder hegt er Hoffnung: Ist dort oben vielleicht tatsächlich seine schon so lang ersehnte Heimat? Er beginnt schneller zu laufen, er will nur noch eines: dort oben ankommen!

Nach ein paar Minuten sieht er von Weitem, wie etwas im Sonnenlicht glänzt. Und je näher er kommt, desto größer wird es. Er fängt an zu rennen, es ist etwas steil, doch die Neugierde ist so groß, dass er mit aller Kraft den Berg hochrennt. Je näher er kommt, umso heller und greller leuchtet es, so als ob etwas ziemlich Großes von der Sonne reflektiert wird! Nach einigen Minuten voll im Spurt hält er kurz an, blickt nach vorne und entdeckt etwas, was ihm enorme Hoffnung gibt, auf dem richtigen Weg zu sein! Er ist nun so nahe, dass er die Umrisse erkennen kann, es ist eine knapp zwanzig Meter große stählerne Statue! Doch nicht irgendeine Statue, nein, es scheint eine identische Kopie von jener zu sein, die er ein paar Kilometer zuvor sah, sowie jene, die auch auf der Insel ist! Genau gleich groß, stählern und dieses merkwürdige Symbol, welches er auch auf seinem Oberarm tätowiert hat! Er kann es nicht fassen, ungläubig kniet er auf den staubtrockenen Boden, blickt in den Himmel, schließt seine Augen und flüstert ganz leise und wehmütig: „Danke!“ Er atmet tief ein, atmet tief aus und weiß nun, dass er hier am richtigen Ort sein muss. Es kann nur seine Heimat sein, denkt er sich, wie sonst wäre es möglich hier die gleiche Statue zu sehen wie noch auf der Insel, sowie dass jenes Symbol darauf abgebildet ist, welches er auch auf dem Oberarm hat? Doch gerade in dem Moment, als er innerlich kurz ausruht und hofft, nun nicht mehr auf der Suche zu sein, kommen wieder Fragen in ihm hoch … Warum sind hier überhaupt irgendwelche Statuen gebaut, wenn doch sonst nirgendwo etwas zu sehen ist – kein Haus, keine Menschen, kein Leben und kein Wasser. Keine Pflanzen, keine Bäume, keine Tiere, schlichtweg nichts, was er als lebenswert erachten würde! Also, was machen dann die Statuen hier? Abgesehen davon, dass es dieselben sind, warum wurden sie gebaut? Und von wem? Ist es eine Art Denkmal einer längst ausgestorbenen Zivilisation? Ein Wegweiser, der an einen Ort führt, wo alles anders ist und es Menschen gibt, Bäume, Pflanzen und sogar Wasser? Das Wasser, was er in dem Lederbeutel vorfand, muss ja auch von irgendwoher stammen, sowie von irgendjemandem zu ihm hergebracht werden musste. Es kann hier nicht nur die öde Brachlandschaft geben, es muss irgendwo eine schönere Gegend geben, doch wo ist sie? Auf jeden Fall nicht hier, denkt er sich und läuft die paar Meter zu der Statue hin. Dort angekommen entdeckt er, dass der Stahl weder verrostet noch verwittert ist, so als ob die Statue erst am Tag zuvor aufgestellt worden wäre! So sehr glänzt sie, so eben ist die Oberfläche, als ob sie poliert worden wäre, ähnlich wie Edelstahl! Dies alles kommt ihm sehr seltsam vor, denn die Statue auf der Insel war nicht so glänzend und die Oberfläche war auch nicht so eben, sie war nicht verrostet, doch die Witterung machte sich noch ein wenig bemerkbar. Doch diese hier sieht viel neuer aus, der Stahl ist anders, viel besser gefertigt und scheint von besserer Qualität zu sein. Er kann nicht verstehen, warum dies so ist, doch abgesehen von den Unterschieden stimmen Form, Größe sowie Proportionen hundert Prozent überein!


4.2 Der letzte Weg

Auf einmal hört er von Weitem einen Gesang, der durch die Stille hindurch bis zu ihm dringt. Er kennt dieses Geräusch, es hört sich an wie eine Schwalbe, jene Vögel, die er doch so gut kennt, weil sie immer bei ihm um die Villa herumflogen. Diese beindruckenden Töne, die Vielfalt der verschiedenen Höhen und Tiefen, so einzigartig wie kein anderer Laut. Er weiß sofort, dass dies der wunderschöne Klang einer Schwalbe sein muss, doch was macht sie hier an diesem lebensfeindlichen Ort, wo doch bis jetzt kein einziges Lebewesen auszumachen war? Er blickt aufgeregt in diese Richtung, doch sieht nichts, nur staubige Sanddünen und schwarze, verbrannte Erde. Er begreift nicht, wo der Vogel sein könnte, oder wie er überhaupt hier überleben kann, halluziniert er etwa? Doch da ist wieder der Gesang zu hören, das wunderschöne Gezwitscher, das bis zu ihm hallt. Er schließt kurz die Augen, um dieses beindruckende Lied zu genießen, denn bisher hat er mehrere Tage nichts gehört, nur Stille und den Wind, der durch die karge Landschaft weht. Es fühlt sich für ihn wie ein Fest für die Ohren an, ein unglaublich emotionaler Moment, ein Zeichen, dass an seine Heimat erinnert, an seine richtige Heimat … Mehrere Minuten bleibt er mit geschlossenen Augen stehen und hört einfach nur zu. Es kommt ihm eine Träne, Erinnerungen schießen in ihm hoch, wie er mit seiner geliebten Frau zu Hause auf der Terrasse sitzt und sie den Schwalben zuhören. Während sie sich gegenseitig festhalten, einander tief in die Augen blicken und sich innig küssen. Dieser Gedanke sieht er so klar, als ob es erst gestern gewesen wäre, dieses wunderschöne Gesicht von Nicole, ihre tiefblauen Augen, wie sie hell funkeln, ihr Lächeln, das stets für gute Laune sorgte. Der Klang ihrer Stimme, wie sie sagt: „Ich liebe dich“, ihre weiche Haut und ihr warmes großzügiges Herz, dies alles hat er schon so lange nicht mehr gesehen, gehört oder gespürt. Er vermisst das alles unglaublich, sowie Hill, mit dem er doch immer so gute Gespräche führen konnte, seine ehrenhafte Haltung, sein Wille und seine Güte.

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