Uriel

Uriel

Ausgesetzt

Monika Schünemann


EUR 20,90
EUR 12,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 482
ISBN: 978-3-99003-859-8
Erscheinungsdatum: 15.11.2011

Leseprobe:

Lange Zeit geschah gar nichts. Uriel ließ sich nicht blicken. Garrett war frustriert und enttäuscht. Wie konnte sie so einem auch trauen? Alle ihre Instinkte sprachen dagegen und doch …, etwas Unerklärliches in ihrem Inneren sagte ihr, dass sich das Warten lohnen würde. Uriel hatte gesagt, dass er kommen würde, und keiner der Anwesenden im Krankenzimmer hatte daran einen Zweifel gelassen.
Garrett kickte eine zerbeulte Coladose vor sich her. Sie ließ sich nun jeden Abend sehr viel Zeit, wenn sie vom Parkplatz durch den angrenzenden Park zu ihrer Wohnung ging. Hier war es recht dunkel und einsam. Bis jetzt hatte Garrett das nicht gestört, noch fühlte sie sich bedroht, da ihre Waffe griffbereit im Holster steckte.
Eine Zeit lang hatte sie auf alle verdächtigen Geräusche gelauscht, nun glaubte sie, sie alle zu kennen, die aus dem Park und die von der nahe verlaufenden Straße. Es war nicht übel, nach der Arbeit noch etwas länger hier draußen zu bleiben. Manchmal waren sogar Sterne zu sehen, was in den Straßen, der hellen Beleuchtung wegen, nicht möglich war.
Vom nahen Hafen zogen Nebelbänke heran, wie als Kulisse für einen Hollywoodfilm vorgesehen. Ein undurchdringliches Moor ließe sich dahinter vermuten oder ein verfallenes Schloss, in dem Geister umgingen. Doch wenn die Nebelschwaden sich lichteten und vorüberzogen, kamen wieder die bröckelnden Fassaden der mehrstöckigen Mietshäuser gegenüber zum Vorschein. Garrett konnte schon ihr Erkerfenster erkennen und die unordentlich heraufgezogene Jalousie.
Sie fragte sich zwischendurch, wo Uriel lebte. Wenn sie zu Hause satt in ihr warmes Bett stieg, waren ihre Gedanken ab und an zu ihm abgeglitten. Nicht, dass sie ein schlechtes Gewissen haben müsste … Nein …
Seltsamerweise wirkte er nicht wie eine gescheiterte Existenz, war ihr aufgefallen, eher wie jemand, der kein anderes Leben kannte. Da waren kein Selbstmitleid, keine Schuldzuweisungen, kein Vorwurf an ihm festzustellen gewesen.
Sie kickte die Dose ein Stück weiter.
Ihm gegenüber war sie zu nichts verpflichtet, was außerhalb ihrer Arbeit lag, machte sie sich vor und fühlte doch gleichzeitig den Schokoriegel, den sie bei sich trug, seit dem Tag, an dem sie auf ihn wartete.
„Wirst weich, Garrett“, tadelte sie sich. „Hilfst ihm damit nicht und dir selbst auch nicht. Und warum solltest du ihm helfen wollen? Warum auch? Geht dich nichts an.“
Der Tritt, der die Dose einige Meter weiter befördern sollte, war schwungvoll, aber die Dose fiel abrupt im Schatten vor ihr zu Boden und blieb liegen, ohne auszurollen.
Überrascht stutzte Garrett und starrte in die Schwärze eines undurchsichtigen Schattens. Nichts rührte sich.
Sie stand direkt unter einer Straßenlampe, gut sichtbar, und jemand anderes, derjenige, den ihre Dose getroffen hatte, verharrte reglos im scharf abgegrenzten Dunkel.
Garrett ging zögernd ein, zwei Schritte vor. Unter ihrer Jacke verbarg sich die Waffe und ihre Hand fuhr automatisch an diese Stelle. Jetzt fühlte sie sich bedroht.

Jemand, der sie hätte überfallen wollen, hätte dies allerdings längst getan und ihr keine Chance gelassen. Nichtsdestotrotz war jemand auf etwa drei Meter an sie herangekommen, ohne dass sie ihn bemerkt hatte.
„Du wirst schlampig, Garrett. Das hätte dein Ende sein können.“
Wie lange war er wohl schon hier und beobachtete sie? Sie hörte nichts, kein Rascheln von Kleidung, kein Aufsetzen von Schuhen, keinen Atemzug.
„Uriel?“, fragte sie in einer Mischung von Beklommenheit und Neugier in die Schwärze. Einen Moment schien die Zeit stillzustehen, so ruhig war es. Doch dann regte sich etwas im Schatten. Garrett kniff die Augen zusammen, um Bewegungen, welcher Art auch immer, besser ausmachen zu können.
Dann sah sie ihn aus dem Dunkeln treten. Uriel. Im diffusen Grau sah er noch größer aus als im Krankenzimmer, bedrohlicher, Angst einflößender. Sein Schweigen und seine Lautlosigkeit ließen ihn eher wie einen finsteren Dämon erscheinen, als dass etwas Menschenähnliches an ihm festzustellen gewesen wäre.
Die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos trafen, verirrt im aufsteigenden Nebel, kurz auf ihn und ihr Licht spiegelte sich in seinen Augen und ließ sie aufglimmen. Aus beträchtlicher Höhe sah er auf sie nieder. Dann war der Spuk vorbei und alles wieder grau und wie abgestorben still. Garrett holte tief Luft. Ein ängstlicher Mensch hätte jetzt wohl an den Leibhaftigen glauben können. Doch sie hatte Uriel vor sich, den Erzengel, der das Tor zur Hölle bewachte. Treffender konnte sein Name nicht gewählt sein.
„Wenn Sie mir jetzt Angst machen wollten … Das hat nicht geklappt“, beschwerte sich Garrett übellaunig, denn nie im Leben würde sie zugeben, dass sie sich zumindest erschreckt hatte.
Er legte den Kopf etwas schräg, reagierte sonst nicht.
Garrett nahm die Hand von der Waffe, als sie wahrzunehmen glaubte, dass sein Blick prüfend dahin gegangen war.
„Was wollen Sie? Ich bin Polizistin! Ich bin nun mal bewaffnet. Aber ich erschieße Sie schon nicht. Jedenfalls nicht sofort“, schränkte sie grob ein und glaubte, zu erkennen, wie er die Brauen hob. Sollte er sich ruhig fragen, ob sie es ernst gemeint hatte und dazu imstande wäre …
„Können wir etwas mehr ins Licht gehen?“, verlangte sie eher, als dass sie gefragt hätte. Er rührte sich nicht, da ging sie allein.
„Das wird ein Spaß“, stöhnte Garrett, Komplikationen befürchtend. Sie zerrte die maschinengeschriebenen Seiten aus der Innentasche ihrer Jacke. „Das sind die Aussagen Ihrer Freunde, Uriel. Die waren etwas eifriger und schon vor einiger Zeit bei mir“, tadelte sie. „Aber ohne Ihr Okay komme ich nicht weiter. Also lese ich Ihnen die Aussagen vor und Sie machen sich irgendwie bemerkbar, wenn Ihnen auffällt, dass etwas im Text nicht stimmt. Können wir uns so einigen …? War das ein Ja oder was?“, fragte sie unfreundlich nach, da sie ihn nur schemenhaft sah und es nicht leiden konnte, wenn ihr Gegenüber sich verborgen hielt.
„Okay, war ein Ja. Habe es kapiert.“ Garrett lehnte sich an den Lichtmast, um es bequemer zu haben. „Aber wagen Sie nicht, mir die Dose an den Kopf zu werfen, wenn Sie etwas Falsches entdecken. Ich bin nur der Vorleser. Also töten Sie nicht den Boten, bitte.“
Der Hinweis war angekommen. Uriel erklärte sich, so sie ihn verstand, bereit, friedlich zu bleiben.
„Sie können auch etwas näher kommen! Ich beiße Sie schon nicht! Außerdem habe ich keine Lust, Aussagen zu Mordermittlungen in den Stadtpark herauszuschreien“, wies sie ihn an und er trat tatsächlich einige Schritte auf sie zu, hielt aber gebührend Distanz.
Die Feuchtigkeit hatte sein langes Haar strähnig werden lassen. Feine Wassertröpfchen des Nebels lagen auf seinem langen schwarzen Mantel. Für einen Moment sah er so aus, als möchte man ihn nicht einmal mit einer Kneifzange anfassen wollen, im nächsten Augenblick blitzte und funkelte der Nässefilm auf seiner Kleidung, als wäre diese mit Juwelen besetzt.
Er stand still und wartete. Garrett riss sich von dem ungewöhnlichen Anblick los, wandte sich den beschriebenen Seiten wieder zu und begann weiterzulesen. Wenn sie für einen Moment innehielt, um umzublättern, spürte sie seine Konzentration und Aufmerksamkeit. Ihm entging kein einziges Wort und er erhob keine Einwände, als Garrett geendet hatte.
„Sie schließen sich diesen Aussagen voll und ganz an?“
Er nickte.
„Sie bemerken hoffentlich, dass ich Sie noch heraushalte. Ihre Aussage bräuchte ich nämlich auch. Ihre ist eigentlich die wichtigste. Eigentlich müssten Sie mir wenigstens schriftlich bestätigen, dass die eben vorgetragenen Aussagen korrekt sind. Doch ich weiß nicht …“, druckste sie herum. „Wenn Sie es nicht können …, hätte ich einen unabhängigen Zeugen mitbringen müssen, der Ihre Reaktion bestätigt. Aber den lassen Sie nicht zu. Nur Sie und ich, so war die Abmachung, ich weiß“, erwiderte sie auf seine entsprechende Geste. „Das Fatale ist, wenn Sie es könnten …, mit welchem Namen werden Sie unterschreiben? Ich glaube nicht, dass Uriel auf einem eidesstattlichen Dokument zulässig wäre.“
Er verschränkte abweisend die Arme vor der Brust.
Garrett schnaubte, wie hätte sie auch annehmen können, dass jemand wie dieser Penner des Lesens und Schreibens mächtig wäre.
„Also gut“, blieb ihr nichts anderes übrig, als aus der Not eine Tugend zu machen und den bestmöglichen Ausweg zu suchen. „Ich für meinen Teil könnte erst einmal so mit den Aussagen arbeiten. Den Staatsanwalt bekäme ich vielleicht dazu bewegt, sie im jetzigen Zustand anzuerkennen, solange die Ermittlungen laufen und noch nichts vor Gericht geht. Dann allerdings … Uriel, gibt es außer Ihren Erinnerungen keinen anderen Weg, um herauszufinden, wer Sie sind?“ Wenn sie es nicht herausfand, konnten alle Bemühungen umsonst sein.
Er maß sie reglos. Wollte er nicht antworten oder konnte er nicht?
„Haben Sie etwas angestellt, früher, sodass Sie Ihre Identität verschweigen, oder ist es wirklich so, wie in den Aussagen Ihrer Freunde steht, dass Sie nicht wissen, wer Sie sind?“, verlangte sie eine weitere Bestätigung. „Wenn es ein geringfügiges Vergehen ist, weswegen Sie glauben, schweigen zu müssen, ließen sich eventuell, in Anbetracht der Wichtigkeit Ihrer Zeugenaussage, für Sie mildernde Umstände erwirken …“
Versuchte sie, ihm ein Angebot zu machen.
Er winkte ab, er hatte nichts getan. Eine seiner wenigen wirklich ausgreifenden Bewegungen, wo er sonst recht kurz angebunden war.
Dann deutete er auf sich, berührte mit der Handfläche seine Stirn und hob die Schultern.
„Ich weiß es nicht“, der erste Satz, den Garrett zu verstehen lernte.
„Sie wissen tatsächlich nicht, wer Sie sind?“, war es Garrett immer noch unbegreiflich. Mitgefühl schlich sich in ihre Stimme, was ihr nicht einmal aufgefallen war. Ihrem Gegenüber war ihre Regung jedoch nicht entgangen. Obwohl sie es sich wohl nicht annähernd vorstellen konnte, wie qualvoll es war, niemand zu sein, verschwendete sie wenigstens einen Gedanken daran. Wenige genug taten das.
Er wiederholte die Geste. Er wusste es nicht.
Garrett fand, dass sein Gesicht schmaler war als bei ihrem ersten Treffen im Krankenhaus. Seine Züge waren schärfer, die Wangenknochen standen heraus. Schlechte Zeiten, vermutete sie. Er schien ausgezehrt, womöglich vor Erschöpfung und Hunger, weil es schwieriger wurde, diese Gemeinschaft zu versorgen. Ihr fiel ihr lächerlicher Schokoriegel ein. Tropfen auf einen heißen Stein, dachte sie bitter und zornig. Wie sollte ein Schokoriegel den Magen eines hungernden Mannes von Uriels Größe und Leistungspensum füllen können? Wie naiv sie doch war.
„Warum sind Sie erst jetzt gekommen, Uriel?“, fragte Garrett. Ihr Ton war weniger aggressiv. Wahrscheinlich lag es an seinem Gleichmut und seiner Reglosigkeit, an denen ihr Unmut einfach abprallte, und sie beruhigte sich. Er vermied mehr oder weniger den Blickkontakt, so, wie man es bei einem gefährlichen Tier tat, das unberechenbar wirkte, um es nicht zu reizen, ohne jedoch andererseits einen Fußbreit Boden abzugeben oder die Haltung zu verlieren.
Garrett konnte zwar weder seine Augen noch seinen Blick deutlich genug sehen, aber sie merkte an seiner Kopfhaltung, wann er sie ansah. Er zögerte mit der Antwort.
„Sie haben mich erst beobachtet! So. So“, übersetzte Garrett unbehaglich.
Er nickte und vollführte eine entschuldigende Geste.
„Und mich für würdig und gut befunden, ja?“, erwiderte sie beleidigt.
Er wiederholte die entschuldigende Geste.
Hatte das an Nahrung, was er sonst beschaffte, deshalb nicht gereicht, weil er zu viel Zeit darin investiert hatte, sicherzugehen, dass sie ihr Wort hielt und ihn nicht in eine Falle laufen ließ?
Garrett fühlte sich verletzt. Und obwohl sie nichts Entsprechendes erwiderte, die Sache damit abhakte, dass dieser Penner niemand von Charakter und Gewissen war, erspürte er sehr wohl ihren Zustand und entschuldigte sich zum dritten Mal.
Das führte dazu, dass sich Garrett zu der Frage verleiten ließ, wie er denn alles überhaupt verkrafte. Die Frage sollte neutral klingen, was ihr aber nicht ganz gelang, worüber sie sich wieder ärgerte. „Wirst weich, Garrett.“
Er stutzte überrascht und antwortete nicht gleich. Sie fühlte seinen rätselhaften Blick eher, als dass sie erkennen konnte, dass er sich ihr zugewandt hatte. Er hielt sich weiterhin im diffusen Zwielicht auf.
Sie wartete und als er merkte, dass sie eine Antwort wollte und diese Frage nicht nur gedankenlos gestellt hatte, hob er in einer gerade noch ersichtlichen unentschlossenen, hilflosen Geste knapp die Hände.
„Also, eigentlich verkraften Sie alles nicht so gut, nicht wahr?“, schlussfolgerte Garrett, aber zu mehr Auskunft war er nicht bereit.
„Schon klar. Geben Sie nichts zu. Lebt sich leichter.“ Das war auch Garretts Maxime. Sie sah diese Riesengestalt vor sich und konnte sich nicht vorstellen …
„Hören Sie, falls Sie sich Sorgen darüber machen, dass im Fall Delaney irgendwie gegen Sie ermittelt wird, dann brauchen Sie das nicht. Haben Sie das verstanden? Sie holten das Kind und sahen den Täter. Sie sind als Tatzeuge wichtig, nicht als Verdächtiger.“
Er schien über ihre Ausführungen etwas erleichtert zu sein, jedenfalls wirkte er weniger angespannt.
„In den Aussagen Ihrer Freunde fällt verschiedentlich die Bemerkung, dass Sie sich in Geburtshilfe auskennen. Kommen Geburten in Ihrer Gemeinschaft denn häufiger vor?“, fragte Garrett.
Er nickte.
„Wer brachte es Ihnen denn bei?“
Er schwieg.
„Wo lernten Sie die richtigen Handgriffe?“, ließ sie nicht locker.
Aber er antwortete nicht.
„Das kann wichtig sein, Uriel, um herauszufinden, wer Sie sind! Irgendwer hat Sie darin unterwiesen und der wird doch wissen, wer Sie sind!“, wurde sie wieder aggressiver, weil sie glaubte, dass Uriel sich sperrte.
Doch seine entschiedene Geste belehrte sie eines Besseren. Derjenige war gestorben.
„Mist!“, fluchte sie. Warum endeten alle Spuren, die zu ihm und seiner Identität führen könnten, im Nichts? „Etwas anderes, Uriel. Die Täterbeschreibung. Ich habe ein paar Schablonen mitgebracht, aus denen Sie eventuell das Gesicht des Mörders zusammenstellen könnten. Sehen Sie her …“, Garrett blätterte ein Buch mit Pappeinlagen auf, das sie im Gürtel getragen hatte, um es unentdeckt aus dem Revier zu schmuggeln. Es zeigte jede Menge Gesichtskonturen, Nasen, Ohren, Augen, Haaransätze. Das Schablonenbuch war nicht mehr gerade ein zeitgemäßes Mittel, um eine treffende Personenbeschreibung zu erhalten, aber immer noch besser als gar nichts.
Uriel zögerte, sich zu nähern. Garrett hielt ihm das Buch auffordernd entgegen. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Intellekt bei Uriel vorhanden war. Wenn er, wie sie annahm, weder lesen noch schreiben konnte, hatte sie doch wenigstens die Hoffnung, dass er über ein recht gutes Personengedächtnis verfügte. Es schien ihr geradezu eine Bedingung für sein Leben zu sein, Gefahren, wie sich nähernde Feinde in Form von verdeckten Ermittlern oder sonstigen Straßengangs, sofort auszumachen und sich deren Aussehen einzuprägen. Er musste sogar in der Lage sein, diese Informationen an seine Kumpane weiterzuleiten. Wahrscheinlich verstanden diese seine Art der Kommunikation. Aber sie konnte nicht so lange warten, bis sie sie ebenfalls beherrschte.
Er hatte es sich schließlich überlegt, trat heran und übernahm das Buch. Insgesamt wirkte er zögerlich und verlangsamt, als er nun doch ins Licht treten musste. Aber das konnte er bei seiner Lebensweise eigentlich nicht sein. Und Garrett wurde auch sofort eines Besseren belehrt. Seine abwartende, abschätzende Haltung fiel von ihm ab und er blätterte suchend das Buch durch, zu schnell, fand Garrett, sodass sie schon glaubte, er wüsste gar nichts damit anzufangen, als er ihr das Gesicht eines Mannes präsentierte. Es war das Gesicht eines kräftigen Mannes, breit, großflächig, mit kurzer Nase, schmalen Lippen, leicht schrägen Brauen und eng stehenden Augen. Und es kam ihr bekannt vor.
„Das sieht brauchbar aus“, war sie erstaunt, gab aber nicht bekannt, wem dieses Bild verdächtig ähnelte. „Aber ich muss Ihre Fähigkeit überprüfen. Stellen Sie mein Gesicht zusammen!“, verlangte sie.
Er nahm ihr das Buch wieder ab und begann zu blättern, Merkmale abzuschätzen und zu vergleichen, entschied sich dann genauso schnell und, wie Garrett feststellte, genauso präzise. Sie erkannte sich im Groben wieder. Mehr gaben die Schablonen auch nicht her.
„Das ist gut. Wirklich gut“, gestand sie, auch diesmal von seinen ungeahnten Fähigkeiten überrascht, ein. „Obwohl ich mich ernsthaft frage, woher Sie wissen können, wie ich aussehe, wo Sie mich doch nie ansehen!“ Das musste sie noch loswerden. „Aber es ist gut. Ich kann das Täterbild verwenden. Wunderbar.“
Er blieb reglos und sie konnte nicht erkennen, ob er ihr Kompliment überhaupt wahrgenommen hatte. Seine Verschlossenheit verunsicherte Garrett etwas. Wahrscheinlich fühlte er sich im Moment genauso unwohl wie sie. Das war eine unbekannte, schwierige Situation für sie beide. Sie war Polizistin. Für jemanden wie Uriel war sie nicht der Freund und Helfer. Im Gegenteil, für ihn war sie im sonstigen Leben eine Bedrohung. Und so verhielt er sich. Er war verschlossen, gab nichts preis, was sie in irgendeiner Weise gegen ihn verwenden könnte. Woher sollte er denn auch wissen, dass sie keine Gefahr für ihn und seine Gemeinschaft war? Sein Misstrauen war zu groß und die schlechten Erfahrungen zu nahe. Er hatte gesehen, wie ein Polizist Sada angegriffen hatte. Wahrscheinlich durch denselben Polizisten hatte er Petie, seinen väterlichen Freund und Lebensretter, verloren. Wie konnte sie erwarten, dass er ihr vertraute? Dass er überhaupt gekommen war, war wahrscheinlich schon die Sensation an sich.
Und sie selbst? Sie war genauso misstrauisch. Noch schlimmer. Sie war auch noch herablassend und voller Vorurteile und vermied den Gedanken an Kontakt mit ihm, als hätte er eine ansteckende Krankheit. Sie verspürte ein gewisses Maß an Ekel vor ihm, obwohl er nicht in dem Sinne schmutzig war. Doch schien das Wissen …, die Annahme, verbesserte sie sich, um seine Lebensumstände ihr zu genügen, um ihn abzuwerten, herabzusetzen, zu verurteilen. Dann wiederum schämte sie sich ihrer Borniertheit und Intoleranz.
Uriel war nicht wie die herkömmlichen Penner. Er repräsentierte eine neue Spezies Obdachloser und Armer. Sie waren Leute, die sich organisiert hatten, Hierarchien anerkannten, Uriel als ihren Anführer ansahen und seinen Entscheidungen vertrauten.
Das war sehr fremd für Garrett und bedrohte sie als Angehörige der Staatsmacht. Die Situation kam ihr unwirklich vor. Uriel war kein einzelner schwacher Penner. Hinter ihm stand eine Gemeinschaft. Und hinter Garrett stand erst einmal niemand.
Sie zog sich ihre Jacke enger um den Körper. Es war kalt geworden und die Feuchtigkeit kroch heran und machte die Kleidung klamm. Eine kurze Böe zottelte in den Baumkronen. Das auf den Blättern gesammelte Wasser prasselte als dicke Tropfen auf Garrett und Uriel.
Garrett fluchte wieder und wich den Baumkronen aus, um sich ein trockeneres Plätzchen zu suchen.
Uriel trat, vor ihrer plötzlichen Flucht nach vorn, zurück, doch streifte sie ihn trotzdem. Der Schokoriegel glitt, ganz wie von selbst, von Garretts Tasche in seine. Er hatte nichts gemerkt, war nur weiter zurückgewichen.
Es war ein Reflex gewesen, war sich Garrett nachher sicher. Geplant hatte sie diese Aktion so jedenfalls nicht. Eigentlich war sie sich nur dumm und naiv vorgekommen, hatte nicht einmal gewusst, wie sie ihm die Schokolade hätte anbieten sollen. Dabei bezweifelte sie, ob er überhaupt etwas von ihr angenommen hätte. Verflucht.
Sie schüttelte ihre Jacke und die Haare aus. Fluchte wieder und als sie sich zu Uriel umdrehte, war dieser verschwunden.
Wütend fuchtelte sie herum. Hatte sie es vermasselt? Ohne, wie sie glaubte, viel erreicht zu haben, ging sie nach Hause. Sie hatte ihre Wohnung betreten, da brach der Regen schon los. Garrett trat ans Fenster und sah in den Park hinunter. Nass glänzten Blätter, Bänke und Wege. Von Uriel keine Spur.
Garrett ließ sich auf ihre Couch fallen und zog das Schablonenbuch hervor. Uriels Phantombild passte auf einen Detective ihres Reviers.
Garrett kannte ihn gut und konnte sich bei ihm eine solche Tat nicht vorstellen. Doch hatte sie auch nicht das Gefühl, dass Uriel sie belog und an der Nase herumführte. Warum hätte er so etwas tun sollen? Je weiter er die Polizei von sich entfernt wusste, desto besser war es für ihn. Er warf sich doch nicht ohne Grund in die Höhle des Löwen!
Der Regen prasselte an die Scheiben. Windböen fegten um die Hausecke. Licht blitzte auf und ein naher Donner ließ Garrett zusammenzucken. Sie sah wieder hinaus. Unter ihr, im Park, bogen sich die Bäume und ihre Blätter wirbelten raschelnd durcheinander. Regenschwaden wehten, von wechselnden Winden angetrieben, rastlos umher. Das Unwetter tobte über der Stadt. Garrett stand auf und schob das Erkerfenster zu, unter dem sich bereits eine Pfütze gesammelt hatte. Sie wischte sie auf und die nassen Hände am Hosenboden ab.
Als sie das Rollo herunterlassen wollte, fiel ihr Blick auf den Hauseingang. Jemand hatte dort Schutz gesucht. Ein großer Mann in schwarzem Mantel. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, sich angelehnt, trug den Kopf gesenkt und Wasser tropfte aus seinem langen Haar. Es musste nicht erst ein Blitz seine Gestalt beleuchten. Garrett wusste auch so, es war Uriel.

Lange Zeit geschah gar nichts. Uriel ließ sich nicht blicken. Garrett war frustriert und enttäuscht. Wie konnte sie so einem auch trauen? Alle ihre Instinkte sprachen dagegen und doch …, etwas Unerklärliches in ihrem Inneren sagte ihr, dass sich das Warten lohnen würde. Uriel hatte gesagt, dass er kommen würde, und keiner der Anwesenden im Krankenzimmer hatte daran einen Zweifel gelassen.
Garrett kickte eine zerbeulte Coladose vor sich her. Sie ließ sich nun jeden Abend sehr viel Zeit, wenn sie vom Parkplatz durch den angrenzenden Park zu ihrer Wohnung ging. Hier war es recht dunkel und einsam. Bis jetzt hatte Garrett das nicht gestört, noch fühlte sie sich bedroht, da ihre Waffe griffbereit im Holster steckte.
Eine Zeit lang hatte sie auf alle verdächtigen Geräusche gelauscht, nun glaubte sie, sie alle zu kennen, die aus dem Park und die von der nahe verlaufenden Straße. Es war nicht übel, nach der Arbeit noch etwas länger hier draußen zu bleiben. Manchmal waren sogar Sterne zu sehen, was in den Straßen, der hellen Beleuchtung wegen, nicht möglich war.
Vom nahen Hafen zogen Nebelbänke heran, wie als Kulisse für einen Hollywoodfilm vorgesehen. Ein undurchdringliches Moor ließe sich dahinter vermuten oder ein verfallenes Schloss, in dem Geister umgingen. Doch wenn die Nebelschwaden sich lichteten und vorüberzogen, kamen wieder die bröckelnden Fassaden der mehrstöckigen Mietshäuser gegenüber zum Vorschein. Garrett konnte schon ihr Erkerfenster erkennen und die unordentlich heraufgezogene Jalousie.
Sie fragte sich zwischendurch, wo Uriel lebte. Wenn sie zu Hause satt in ihr warmes Bett stieg, waren ihre Gedanken ab und an zu ihm abgeglitten. Nicht, dass sie ein schlechtes Gewissen haben müsste … Nein …
Seltsamerweise wirkte er nicht wie eine gescheiterte Existenz, war ihr aufgefallen, eher wie jemand, der kein anderes Leben kannte. Da waren kein Selbstmitleid, keine Schuldzuweisungen, kein Vorwurf an ihm festzustellen gewesen.
Sie kickte die Dose ein Stück weiter.
Ihm gegenüber war sie zu nichts verpflichtet, was außerhalb ihrer Arbeit lag, machte sie sich vor und fühlte doch gleichzeitig den Schokoriegel, den sie bei sich trug, seit dem Tag, an dem sie auf ihn wartete.
„Wirst weich, Garrett“, tadelte sie sich. „Hilfst ihm damit nicht und dir selbst auch nicht. Und warum solltest du ihm helfen wollen? Warum auch? Geht dich nichts an.“
Der Tritt, der die Dose einige Meter weiter befördern sollte, war schwungvoll, aber die Dose fiel abrupt im Schatten vor ihr zu Boden und blieb liegen, ohne auszurollen.
Überrascht stutzte Garrett und starrte in die Schwärze eines undurchsichtigen Schattens. Nichts rührte sich.
Sie stand direkt unter einer Straßenlampe, gut sichtbar, und jemand anderes, derjenige, den ihre Dose getroffen hatte, verharrte reglos im scharf abgegrenzten Dunkel.
Garrett ging zögernd ein, zwei Schritte vor. Unter ihrer Jacke verbarg sich die Waffe und ihre Hand fuhr automatisch an diese Stelle. Jetzt fühlte sie sich bedroht.

Jemand, der sie hätte überfallen wollen, hätte dies allerdings längst getan und ihr keine Chance gelassen. Nichtsdestotrotz war jemand auf etwa drei Meter an sie herangekommen, ohne dass sie ihn bemerkt hatte.
„Du wirst schlampig, Garrett. Das hätte dein Ende sein können.“
Wie lange war er wohl schon hier und beobachtete sie? Sie hörte nichts, kein Rascheln von Kleidung, kein Aufsetzen von Schuhen, keinen Atemzug.
„Uriel?“, fragte sie in einer Mischung von Beklommenheit und Neugier in die Schwärze. Einen Moment schien die Zeit stillzustehen, so ruhig war es. Doch dann regte sich etwas im Schatten. Garrett kniff die Augen zusammen, um Bewegungen, welcher Art auch immer, besser ausmachen zu können.
Dann sah sie ihn aus dem Dunkeln treten. Uriel. Im diffusen Grau sah er noch größer aus als im Krankenzimmer, bedrohlicher, Angst einflößender. Sein Schweigen und seine Lautlosigkeit ließen ihn eher wie einen finsteren Dämon erscheinen, als dass etwas Menschenähnliches an ihm festzustellen gewesen wäre.
Die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos trafen, verirrt im aufsteigenden Nebel, kurz auf ihn und ihr Licht spiegelte sich in seinen Augen und ließ sie aufglimmen. Aus beträchtlicher Höhe sah er auf sie nieder. Dann war der Spuk vorbei und alles wieder grau und wie abgestorben still. Garrett holte tief Luft. Ein ängstlicher Mensch hätte jetzt wohl an den Leibhaftigen glauben können. Doch sie hatte Uriel vor sich, den Erzengel, der das Tor zur Hölle bewachte. Treffender konnte sein Name nicht gewählt sein.
„Wenn Sie mir jetzt Angst machen wollten … Das hat nicht geklappt“, beschwerte sich Garrett übellaunig, denn nie im Leben würde sie zugeben, dass sie sich zumindest erschreckt hatte.
Er legte den Kopf etwas schräg, reagierte sonst nicht.
Garrett nahm die Hand von der Waffe, als sie wahrzunehmen glaubte, dass sein Blick prüfend dahin gegangen war.
„Was wollen Sie? Ich bin Polizistin! Ich bin nun mal bewaffnet. Aber ich erschieße Sie schon nicht. Jedenfalls nicht sofort“, schränkte sie grob ein und glaubte, zu erkennen, wie er die Brauen hob. Sollte er sich ruhig fragen, ob sie es ernst gemeint hatte und dazu imstande wäre …
„Können wir etwas mehr ins Licht gehen?“, verlangte sie eher, als dass sie gefragt hätte. Er rührte sich nicht, da ging sie allein.
„Das wird ein Spaß“, stöhnte Garrett, Komplikationen befürchtend. Sie zerrte die maschinengeschriebenen Seiten aus der Innentasche ihrer Jacke. „Das sind die Aussagen Ihrer Freunde, Uriel. Die waren etwas eifriger und schon vor einiger Zeit bei mir“, tadelte sie. „Aber ohne Ihr Okay komme ich nicht weiter. Also lese ich Ihnen die Aussagen vor und Sie machen sich irgendwie bemerkbar, wenn Ihnen auffällt, dass etwas im Text nicht stimmt. Können wir uns so einigen …? War das ein Ja oder was?“, fragte sie unfreundlich nach, da sie ihn nur schemenhaft sah und es nicht leiden konnte, wenn ihr Gegenüber sich verborgen hielt.
„Okay, war ein Ja. Habe es kapiert.“ Garrett lehnte sich an den Lichtmast, um es bequemer zu haben. „Aber wagen Sie nicht, mir die Dose an den Kopf zu werfen, wenn Sie etwas Falsches entdecken. Ich bin nur der Vorleser. Also töten Sie nicht den Boten, bitte.“
Der Hinweis war angekommen. Uriel erklärte sich, so sie ihn verstand, bereit, friedlich zu bleiben.
„Sie können auch etwas näher kommen! Ich beiße Sie schon nicht! Außerdem habe ich keine Lust, Aussagen zu Mordermittlungen in den Stadtpark herauszuschreien“, wies sie ihn an und er trat tatsächlich einige Schritte auf sie zu, hielt aber gebührend Distanz.
Die Feuchtigkeit hatte sein langes Haar strähnig werden lassen. Feine Wassertröpfchen des Nebels lagen auf seinem langen schwarzen Mantel. Für einen Moment sah er so aus, als möchte man ihn nicht einmal mit einer Kneifzange anfassen wollen, im nächsten Augenblick blitzte und funkelte der Nässefilm auf seiner Kleidung, als wäre diese mit Juwelen besetzt.
Er stand still und wartete. Garrett riss sich von dem ungewöhnlichen Anblick los, wandte sich den beschriebenen Seiten wieder zu und begann weiterzulesen. Wenn sie für einen Moment innehielt, um umzublättern, spürte sie seine Konzentration und Aufmerksamkeit. Ihm entging kein einziges Wort und er erhob keine Einwände, als Garrett geendet hatte.
„Sie schließen sich diesen Aussagen voll und ganz an?“
Er nickte.
„Sie bemerken hoffentlich, dass ich Sie noch heraushalte. Ihre Aussage bräuchte ich nämlich auch. Ihre ist eigentlich die wichtigste. Eigentlich müssten Sie mir wenigstens schriftlich bestätigen, dass die eben vorgetragenen Aussagen korrekt sind. Doch ich weiß nicht …“, druckste sie herum. „Wenn Sie es nicht können …, hätte ich einen unabhängigen Zeugen mitbringen müssen, der Ihre Reaktion bestätigt. Aber den lassen Sie nicht zu. Nur Sie und ich, so war die Abmachung, ich weiß“, erwiderte sie auf seine entsprechende Geste. „Das Fatale ist, wenn Sie es könnten …, mit welchem Namen werden Sie unterschreiben? Ich glaube nicht, dass Uriel auf einem eidesstattlichen Dokument zulässig wäre.“
Er verschränkte abweisend die Arme vor der Brust.
Garrett schnaubte, wie hätte sie auch annehmen können, dass jemand wie dieser Penner des Lesens und Schreibens mächtig wäre.
„Also gut“, blieb ihr nichts anderes übrig, als aus der Not eine Tugend zu machen und den bestmöglichen Ausweg zu suchen. „Ich für meinen Teil könnte erst einmal so mit den Aussagen arbeiten. Den Staatsanwalt bekäme ich vielleicht dazu bewegt, sie im jetzigen Zustand anzuerkennen, solange die Ermittlungen laufen und noch nichts vor Gericht geht. Dann allerdings … Uriel, gibt es außer Ihren Erinnerungen keinen anderen Weg, um herauszufinden, wer Sie sind?“ Wenn sie es nicht herausfand, konnten alle Bemühungen umsonst sein.
Er maß sie reglos. Wollte er nicht antworten oder konnte er nicht?
„Haben Sie etwas angestellt, früher, sodass Sie Ihre Identität verschweigen, oder ist es wirklich so, wie in den Aussagen Ihrer Freunde steht, dass Sie nicht wissen, wer Sie sind?“, verlangte sie eine weitere Bestätigung. „Wenn es ein geringfügiges Vergehen ist, weswegen Sie glauben, schweigen zu müssen, ließen sich eventuell, in Anbetracht der Wichtigkeit Ihrer Zeugenaussage, für Sie mildernde Umstände erwirken …“
Versuchte sie, ihm ein Angebot zu machen.
Er winkte ab, er hatte nichts getan. Eine seiner wenigen wirklich ausgreifenden Bewegungen, wo er sonst recht kurz angebunden war.
Dann deutete er auf sich, berührte mit der Handfläche seine Stirn und hob die Schultern.
„Ich weiß es nicht“, der erste Satz, den Garrett zu verstehen lernte.
„Sie wissen tatsächlich nicht, wer Sie sind?“, war es Garrett immer noch unbegreiflich. Mitgefühl schlich sich in ihre Stimme, was ihr nicht einmal aufgefallen war. Ihrem Gegenüber war ihre Regung jedoch nicht entgangen. Obwohl sie es sich wohl nicht annähernd vorstellen konnte, wie qualvoll es war, niemand zu sein, verschwendete sie wenigstens einen Gedanken daran. Wenige genug taten das.
Er wiederholte die Geste. Er wusste es nicht.
Garrett fand, dass sein Gesicht schmaler war als bei ihrem ersten Treffen im Krankenhaus. Seine Züge waren schärfer, die Wangenknochen standen heraus. Schlechte Zeiten, vermutete sie. Er schien ausgezehrt, womöglich vor Erschöpfung und Hunger, weil es schwieriger wurde, diese Gemeinschaft zu versorgen. Ihr fiel ihr lächerlicher Schokoriegel ein. Tropfen auf einen heißen Stein, dachte sie bitter und zornig. Wie sollte ein Schokoriegel den Magen eines hungernden Mannes von Uriels Größe und Leistungspensum füllen können? Wie naiv sie doch war.
„Warum sind Sie erst jetzt gekommen, Uriel?“, fragte Garrett. Ihr Ton war weniger aggressiv. Wahrscheinlich lag es an seinem Gleichmut und seiner Reglosigkeit, an denen ihr Unmut einfach abprallte, und sie beruhigte sich. Er vermied mehr oder weniger den Blickkontakt, so, wie man es bei einem gefährlichen Tier tat, das unberechenbar wirkte, um es nicht zu reizen, ohne jedoch andererseits einen Fußbreit Boden abzugeben oder die Haltung zu verlieren.
Garrett konnte zwar weder seine Augen noch seinen Blick deutlich genug sehen, aber sie merkte an seiner Kopfhaltung, wann er sie ansah. Er zögerte mit der Antwort.
„Sie haben mich erst beobachtet! So. So“, übersetzte Garrett unbehaglich.
Er nickte und vollführte eine entschuldigende Geste.
„Und mich für würdig und gut befunden, ja?“, erwiderte sie beleidigt.
Er wiederholte die entschuldigende Geste.
Hatte das an Nahrung, was er sonst beschaffte, deshalb nicht gereicht, weil er zu viel Zeit darin investiert hatte, sicherzugehen, dass sie ihr Wort hielt und ihn nicht in eine Falle laufen ließ?
Garrett fühlte sich verletzt. Und obwohl sie nichts Entsprechendes erwiderte, die Sache damit abhakte, dass dieser Penner niemand von Charakter und Gewissen war, erspürte er sehr wohl ihren Zustand und entschuldigte sich zum dritten Mal.
Das führte dazu, dass sich Garrett zu der Frage verleiten ließ, wie er denn alles überhaupt verkrafte. Die Frage sollte neutral klingen, was ihr aber nicht ganz gelang, worüber sie sich wieder ärgerte. „Wirst weich, Garrett.“
Er stutzte überrascht und antwortete nicht gleich. Sie fühlte seinen rätselhaften Blick eher, als dass sie erkennen konnte, dass er sich ihr zugewandt hatte. Er hielt sich weiterhin im diffusen Zwielicht auf.
Sie wartete und als er merkte, dass sie eine Antwort wollte und diese Frage nicht nur gedankenlos gestellt hatte, hob er in einer gerade noch ersichtlichen unentschlossenen, hilflosen Geste knapp die Hände.
„Also, eigentlich verkraften Sie alles nicht so gut, nicht wahr?“, schlussfolgerte Garrett, aber zu mehr Auskunft war er nicht bereit.
„Schon klar. Geben Sie nichts zu. Lebt sich leichter.“ Das war auch Garretts Maxime. Sie sah diese Riesengestalt vor sich und konnte sich nicht vorstellen …
„Hören Sie, falls Sie sich Sorgen darüber machen, dass im Fall Delaney irgendwie gegen Sie ermittelt wird, dann brauchen Sie das nicht. Haben Sie das verstanden? Sie holten das Kind und sahen den Täter. Sie sind als Tatzeuge wichtig, nicht als Verdächtiger.“
Er schien über ihre Ausführungen etwas erleichtert zu sein, jedenfalls wirkte er weniger angespannt.
„In den Aussagen Ihrer Freunde fällt verschiedentlich die Bemerkung, dass Sie sich in Geburtshilfe auskennen. Kommen Geburten in Ihrer Gemeinschaft denn häufiger vor?“, fragte Garrett.
Er nickte.
„Wer brachte es Ihnen denn bei?“
Er schwieg.
„Wo lernten Sie die richtigen Handgriffe?“, ließ sie nicht locker.
Aber er antwortete nicht.
„Das kann wichtig sein, Uriel, um herauszufinden, wer Sie sind! Irgendwer hat Sie darin unterwiesen und der wird doch wissen, wer Sie sind!“, wurde sie wieder aggressiver, weil sie glaubte, dass Uriel sich sperrte.
Doch seine entschiedene Geste belehrte sie eines Besseren. Derjenige war gestorben.
„Mist!“, fluchte sie. Warum endeten alle Spuren, die zu ihm und seiner Identität führen könnten, im Nichts? „Etwas anderes, Uriel. Die Täterbeschreibung. Ich habe ein paar Schablonen mitgebracht, aus denen Sie eventuell das Gesicht des Mörders zusammenstellen könnten. Sehen Sie her …“, Garrett blätterte ein Buch mit Pappeinlagen auf, das sie im Gürtel getragen hatte, um es unentdeckt aus dem Revier zu schmuggeln. Es zeigte jede Menge Gesichtskonturen, Nasen, Ohren, Augen, Haaransätze. Das Schablonenbuch war nicht mehr gerade ein zeitgemäßes Mittel, um eine treffende Personenbeschreibung zu erhalten, aber immer noch besser als gar nichts.
Uriel zögerte, sich zu nähern. Garrett hielt ihm das Buch auffordernd entgegen. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Intellekt bei Uriel vorhanden war. Wenn er, wie sie annahm, weder lesen noch schreiben konnte, hatte sie doch wenigstens die Hoffnung, dass er über ein recht gutes Personengedächtnis verfügte. Es schien ihr geradezu eine Bedingung für sein Leben zu sein, Gefahren, wie sich nähernde Feinde in Form von verdeckten Ermittlern oder sonstigen Straßengangs, sofort auszumachen und sich deren Aussehen einzuprägen. Er musste sogar in der Lage sein, diese Informationen an seine Kumpane weiterzuleiten. Wahrscheinlich verstanden diese seine Art der Kommunikation. Aber sie konnte nicht so lange warten, bis sie sie ebenfalls beherrschte.
Er hatte es sich schließlich überlegt, trat heran und übernahm das Buch. Insgesamt wirkte er zögerlich und verlangsamt, als er nun doch ins Licht treten musste. Aber das konnte er bei seiner Lebensweise eigentlich nicht sein. Und Garrett wurde auch sofort eines Besseren belehrt. Seine abwartende, abschätzende Haltung fiel von ihm ab und er blätterte suchend das Buch durch, zu schnell, fand Garrett, sodass sie schon glaubte, er wüsste gar nichts damit anzufangen, als er ihr das Gesicht eines Mannes präsentierte. Es war das Gesicht eines kräftigen Mannes, breit, großflächig, mit kurzer Nase, schmalen Lippen, leicht schrägen Brauen und eng stehenden Augen. Und es kam ihr bekannt vor.
„Das sieht brauchbar aus“, war sie erstaunt, gab aber nicht bekannt, wem dieses Bild verdächtig ähnelte. „Aber ich muss Ihre Fähigkeit überprüfen. Stellen Sie mein Gesicht zusammen!“, verlangte sie.
Er nahm ihr das Buch wieder ab und begann zu blättern, Merkmale abzuschätzen und zu vergleichen, entschied sich dann genauso schnell und, wie Garrett feststellte, genauso präzise. Sie erkannte sich im Groben wieder. Mehr gaben die Schablonen auch nicht her.
„Das ist gut. Wirklich gut“, gestand sie, auch diesmal von seinen ungeahnten Fähigkeiten überrascht, ein. „Obwohl ich mich ernsthaft frage, woher Sie wissen können, wie ich aussehe, wo Sie mich doch nie ansehen!“ Das musste sie noch loswerden. „Aber es ist gut. Ich kann das Täterbild verwenden. Wunderbar.“
Er blieb reglos und sie konnte nicht erkennen, ob er ihr Kompliment überhaupt wahrgenommen hatte. Seine Verschlossenheit verunsicherte Garrett etwas. Wahrscheinlich fühlte er sich im Moment genauso unwohl wie sie. Das war eine unbekannte, schwierige Situation für sie beide. Sie war Polizistin. Für jemanden wie Uriel war sie nicht der Freund und Helfer. Im Gegenteil, für ihn war sie im sonstigen Leben eine Bedrohung. Und so verhielt er sich. Er war verschlossen, gab nichts preis, was sie in irgendeiner Weise gegen ihn verwenden könnte. Woher sollte er denn auch wissen, dass sie keine Gefahr für ihn und seine Gemeinschaft war? Sein Misstrauen war zu groß und die schlechten Erfahrungen zu nahe. Er hatte gesehen, wie ein Polizist Sada angegriffen hatte. Wahrscheinlich durch denselben Polizisten hatte er Petie, seinen väterlichen Freund und Lebensretter, verloren. Wie konnte sie erwarten, dass er ihr vertraute? Dass er überhaupt gekommen war, war wahrscheinlich schon die Sensation an sich.
Und sie selbst? Sie war genauso misstrauisch. Noch schlimmer. Sie war auch noch herablassend und voller Vorurteile und vermied den Gedanken an Kontakt mit ihm, als hätte er eine ansteckende Krankheit. Sie verspürte ein gewisses Maß an Ekel vor ihm, obwohl er nicht in dem Sinne schmutzig war. Doch schien das Wissen …, die Annahme, verbesserte sie sich, um seine Lebensumstände ihr zu genügen, um ihn abzuwerten, herabzusetzen, zu verurteilen. Dann wiederum schämte sie sich ihrer Borniertheit und Intoleranz.
Uriel war nicht wie die herkömmlichen Penner. Er repräsentierte eine neue Spezies Obdachloser und Armer. Sie waren Leute, die sich organisiert hatten, Hierarchien anerkannten, Uriel als ihren Anführer ansahen und seinen Entscheidungen vertrauten.
Das war sehr fremd für Garrett und bedrohte sie als Angehörige der Staatsmacht. Die Situation kam ihr unwirklich vor. Uriel war kein einzelner schwacher Penner. Hinter ihm stand eine Gemeinschaft. Und hinter Garrett stand erst einmal niemand.
Sie zog sich ihre Jacke enger um den Körper. Es war kalt geworden und die Feuchtigkeit kroch heran und machte die Kleidung klamm. Eine kurze Böe zottelte in den Baumkronen. Das auf den Blättern gesammelte Wasser prasselte als dicke Tropfen auf Garrett und Uriel.
Garrett fluchte wieder und wich den Baumkronen aus, um sich ein trockeneres Plätzchen zu suchen.
Uriel trat, vor ihrer plötzlichen Flucht nach vorn, zurück, doch streifte sie ihn trotzdem. Der Schokoriegel glitt, ganz wie von selbst, von Garretts Tasche in seine. Er hatte nichts gemerkt, war nur weiter zurückgewichen.
Es war ein Reflex gewesen, war sich Garrett nachher sicher. Geplant hatte sie diese Aktion so jedenfalls nicht. Eigentlich war sie sich nur dumm und naiv vorgekommen, hatte nicht einmal gewusst, wie sie ihm die Schokolade hätte anbieten sollen. Dabei bezweifelte sie, ob er überhaupt etwas von ihr angenommen hätte. Verflucht.
Sie schüttelte ihre Jacke und die Haare aus. Fluchte wieder und als sie sich zu Uriel umdrehte, war dieser verschwunden.
Wütend fuchtelte sie herum. Hatte sie es vermasselt? Ohne, wie sie glaubte, viel erreicht zu haben, ging sie nach Hause. Sie hatte ihre Wohnung betreten, da brach der Regen schon los. Garrett trat ans Fenster und sah in den Park hinunter. Nass glänzten Blätter, Bänke und Wege. Von Uriel keine Spur.
Garrett ließ sich auf ihre Couch fallen und zog das Schablonenbuch hervor. Uriels Phantombild passte auf einen Detective ihres Reviers.
Garrett kannte ihn gut und konnte sich bei ihm eine solche Tat nicht vorstellen. Doch hatte sie auch nicht das Gefühl, dass Uriel sie belog und an der Nase herumführte. Warum hätte er so etwas tun sollen? Je weiter er die Polizei von sich entfernt wusste, desto besser war es für ihn. Er warf sich doch nicht ohne Grund in die Höhle des Löwen!
Der Regen prasselte an die Scheiben. Windböen fegten um die Hausecke. Licht blitzte auf und ein naher Donner ließ Garrett zusammenzucken. Sie sah wieder hinaus. Unter ihr, im Park, bogen sich die Bäume und ihre Blätter wirbelten raschelnd durcheinander. Regenschwaden wehten, von wechselnden Winden angetrieben, rastlos umher. Das Unwetter tobte über der Stadt. Garrett stand auf und schob das Erkerfenster zu, unter dem sich bereits eine Pfütze gesammelt hatte. Sie wischte sie auf und die nassen Hände am Hosenboden ab.
Als sie das Rollo herunterlassen wollte, fiel ihr Blick auf den Hauseingang. Jemand hatte dort Schutz gesucht. Ein großer Mann in schwarzem Mantel. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, sich angelehnt, trug den Kopf gesenkt und Wasser tropfte aus seinem langen Haar. Es musste nicht erst ein Blitz seine Gestalt beleuchten. Garrett wusste auch so, es war Uriel.

05.01.2012Auf den Spuren eines Serienmörders

Uriel

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Markus Naumann

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