Tödlicher Trip

Tödlicher Trip

Unsichtbarer Feind

Florian Wächter


EUR 11,90
EUR 7,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 168
ISBN: 978-3-99107-256-0
Erscheinungsdatum: 09.02.2021
Ein abgeschiedenes Hotel in den Bergen. Freunde, die sich eine Auszeit gönnen. Sogar das Wetter spielt anfangs mit. Strahlend blauer Himmel. Eine Idylle, wie es scheint. Aber wer den Film „Shining“ mit Jack Nicholson kennt, ahnt, was ihn erwarten könnte ...
1 Die Ankunft

„Seht euch das an!“ Barbara steuerte ihren alten, zerbeulten Seat in eine Parkbucht bei einer Aussichtsplattform und stoppte den Wagen mit quietschenden Bremsen.
„Fantastisch“, bestätigte Michael vom Beifahrersitz aus. Beide beugten sich über das fleckige Armaturenbrett und blickten zur Frontscheibe hinaus in das weite Tal, das sich unter ihnen ausdehnte.
Zu beiden Seiten wurde es von Bergkämmen eingesäumt. Vor ihnen türmten sich die felsigen Bergketten, soweit das Auge reichte. Sie wirkten wie heranbrandende Wellen eines steinernen Ozeans. Die schneebedeckten Gipfel glichen schäumenden Kronen. Tief am Horizont hing die rötlich orange Scheibe der Sonne und verwandelte die zerfetzten Wolken am Himmel in ein glühendes Flammenmeer.
„Ihr wollt doch da jetzt nicht aussteigen?“, erkundigte sich Martha vom Rücksitz aus und biss demonstrativ in einen Schoko-Müsli-Riegel.
Michael drehte sich zu ihr um und blinzelte sie ungläubig durch seine runden Brillengläser an. „Aber sicher doch. So etwas sieht man nicht alle Tage“, sagte er, dem die Begeisterung förmlich anzusehen war.
„Macht schon“, schaltete sich nun Lena ein, die neben Martha auf der zerschlissenen Rückbank saß, und klopfte von hinten ungeduldig auf die Kopfstütze des Fahrersitzes. „Ich muss sowieso mal für kleine Mädchen.“
Barbara und Michael öffneten zeitgleich die knarrenden Türen. Ein heftiger Windstoß fuhr in die Fahrkabine und zerrte an den Haaren der vier Insassen.
„Um Gottes willen!“, kreischte Martha und hielt ihren Müsliriegel fest umklammert. „Beeilt euch! Und macht die Türen wieder zu. Es ist saukalt!“
Lachend kletterte die kleine Lena über den nach vorne gekippten Fahrersitz aus dem Wagen. Martha fand, es klang wie das Meckern einer Bergziege. Dann wurden die Türen von außen zugedrückt und der tosende Wind ausgesperrt. Martha beobachtete kopfschüttelnd, wie Barbara und Michael zu einem massiven Holzgeländer gingen, um von dort aus den herrlichen Ausblick zu genießen. Während Michael, dessen Haare vollkommen zerzaust wurden, seinen Parka zugeknöpft hatte, verschränkte Barbara lediglich ihre Arme vor der Brust, um zu verhindern, dass der böige Wind ihre Daunenjacke mit dem kuscheligen Pelzkragen auseinanderblies. Ihr dunkelblonder Pferdeschwanz schimmerte im Licht der untergehenden Sonne golden und wurde wild hin und her gepeitscht.
„Keine zehn Pferde bringen mich da jetzt raus“, murmelte Martha kauend und stopfte sich den letzten Rest des Riegels in den Mund. „Sieh dir nur Lena an … diese Pfeife.“ Die zierliche, junge Frau mit dem wasserstoffblonden Pony stelzte mit uneleganten Schritten hinter einen großen Felsbrocken, zog ihre Hose im Military-Look über die Knie hinunter und hockte sich über eine niedrige Distel. Ihr glattes, weißes Hinterteil lugte hinter dem dunklen, rauen Gestein hervor und leuchtete wie eine Warntafel, mehr war von ihr nicht zu sehen. „Nichts als Haut und Knochen … hehe … denkst, du bist unsichtbar, nur weil du selbst keinen sehen kannst?“, gluckste Martha und kicherte hexengleich. Ihr Körper wurde von einem plötzlichen Kälteschauer gebeutelt.
Naserümpfend blickte sie wieder zu den beiden anderen hinüber, die vollkommen in der Betrachtung des Naturschauspiels gefangen waren, das sich vor ihnen ausbreitete wie eine kitschige Kulisse für einen Fantasy-Film. Irgendetwas an dem Bild bereitete ihr Unbehagen. Sie rutschte auf Lenas Seite hinüber, wuchtete ihre 85 Kilo über die Sitzlehne und drückte energisch auf die Hupe. Sie sah, wie Michael einen kleinen Luftsprung machte, der ihn beinahe über das Geländer befördert hätte. Die beiden drehten sich mit erschrockenen Gesichtern zu dem Auto um. Mit hektischen Armbewegungen bedeutete Martha ihnen, dass sie weiter wollte. Barbara sagte etwas zu Michael, woraufhin beide lachen mussten.
Dann wendete sie den Kopf und sah beim Seitenfenster hinaus. Von der Seite näherte sich Lena mit leuchtendem Gesicht. Ihre grünen Augen funkelten wie Smaragde, und die Sommersprossen wirkten wie Risse und Löcher in der elfenbeinfarbenen Haut. Die gebleichten, feinen Haare, ihrer natürlichen Röte beraubt, tanzten um ihren Kopf herum, sodass sie für einen kurzen Moment aussah wie eine Medusa mit hyperaktiven Fadenwürmern anstelle der Schlangen. Martha bekam bei dem Anblick eine Gänsehaut. Sie wusste nicht weshalb, aber der Himmel, der wie eine Filmkulisse wirkte, die seltsamen Lichtverhältnisse und Lenas Gestalt wirkten zusammen genommen irgendwie surreal. Martha rückte wieder an ihren angestammten Platz und wappnete sich gegen die bevorstehende Kälte.
„Da hast du was versäumt“, keuchte Michael, als wäre er einen Marathon gelaufen. Er plumpste auf den Beifahrersitz, schloss die Tür, blies seinen Atem in die gefalteten Hände und rieb diese aneinander.
„Auf die Erkältung kann ich gern verzichten“, erwiderte Martha frostig. „Wie weit ist es denn noch?“
Barbara zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht genau. Vielleicht zwei, drei Kilometer. Besonders weit kann es nicht mehr sein. Wir sind schon nahe an der Baumgrenze. Viel höher hinauf geht es jedenfalls nicht mehr.“
Plötzlich spürte Martha eine eisige Hand im Nacken. Sie zuckte heftig zusammen. „Spinnst du?“, fuhr sie Lena an.
„Entspann dich doch mal“, erwiderte ihre Sitznachbarin grinsend. „Wir haben Weihnachten!“
Martha seufzte und verdrehte die Augen. „Was habe ich mir nur dabei gedacht?“, jammerte sie. „Eine ganze Woche im Hochgebirge! Noch dazu im Winter! Mit diesen Wahnsinnigen zusammen!“
Die anderen drei grinsten sich gegenseitig an, dann prusteten sie los, und Martha fiel ungewollt in ihr Lachen ein. Barbara ließ den Motor an und lenkte den Wagen über die kurvige Bergstraße weiter, zwischen den sich wiegenden Bäumen hindurch, dann wieder über frei liegende Almflächen und an schroffen Felswänden vorbei.
„Da vorne steht ein Schild“, bemerkte Michael nach einer Weile und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ein provisorisches Plakat, das inmitten der Landschaft fehl am Platz wirkte.
„Willkommen in der Bergtherme Waldesruh“, las Martha laut vor. „Wie ist Tom eigentlich zu diesem Job gekommen?“, erkundigte sie sich und lugte zwischen den Sitzen nach vorne. „Babysitten für ein Hotel in den Bergen?“ Die Frage war an Michael gerichtet, der immer am besten informiert war, wenn es um Details ging.
„Soweit ich weiß durch ein Inserat im Internet. Das Hotel wurde von einer Investorengruppe neu übernommen und renoviert. Die Innenarbeiten sind noch nicht beendet worden, daher haben die neuen Besitzer es noch nicht wiedereröffnet. Angeblich nehmen sie nach den Semesterferien die Arbeiten wieder auf. Bis dahin soll Tom auf die Anlage aufpassen“, erklärte er.
„Da versäumt er ja die eingeschobenen Vorlesungen über die Psychologische Diagnostik bei Dr. Berghoff“, meinte Martha. Sie besaß wiederum den besten Überblick über die Studienpläne der Psychologischen Fakultät.
„Oh, mein Gott! Das überlebt er nicht“, erwiderte Michael theatralisch, drehte sich zu ihr um und schnitt eine Grimasse, was Lena zum Lachen brachte.
„Mensch! Bist du leicht zu unterhalten“, brummte Martha missmutig in ihre Richtung.
„Wieso bist du denn so mies drauf?“, fragte Lena und grinste von einem Ohr zum anderen, was Martha noch mehr auf die Palme brachte.
„Mir ist kalt … und ich hab Hunger.“
Das Hotel tauchte plötzlich hinter der nächsten Kurve auf. „Leute, wir sind da!“, rief Barbara.
Alle Insassen fokussierten ihre Blicke auf das futuristisch anmutende Objekt vor ihnen. Knapp unter dem Bergkamm war es in die Flanke des Hanges gebaut worden. Drei Stockwerke erstreckten sich über eine Länge von knapp zweihundert Metern bogenförmig um eine Thermenlandschaft unter einer Glaskuppel. Da es etwas unterhalb ihrer momentanen Position lag, konnte man das klare Wasser in den Becken hinter den beschlagenen Scheiben erkennen. An der Spitze der Halbkugel stieg Wasserdampf durch ein Entlüftungssystem in die klare Luft hinaus.
„Wie kommt eigentlich das warme Wasser hier herauf?“, erkundigte sich Barbara stirnrunzelnd.
„Es wird durch ein Rohrsystem vom Tal herauf gepumpt“, meinte Michael und schob seine Brille den schmalen Nasenrücken hoch.
„Das muss doch irrsinnig viel Energie verbrauchen“, nörgelte Lena. „Was für eine Verschwendung.“ Das war typisch für sie. In der Clique nahm sie die Position der Umweltschützerin
ein.
„Ganz im Gegenteil“, fuhr Michael fort, während sie sich dem Hotel weiter näherten. „Das abgekühlte Abwasser, das durch ein ausgeklügeltes Rohrsystem zu Tal abfließt, treibt mehrere Turbinen an, die mehr Strom erzeugen, als die gesamte Anlage verbraucht. Die Betreiber speisen sogar Strom in das Netz der Stromanbieter ein.“
„Wie soll denn das bitte schön funktionieren?“, fragte Barbara argwöhnisch.
Michael grinste. Auch dafür hatte er die passende Erklärung parat. „Talabwärts befindet sich ein kleiner Stausee. So gewinnen sie nicht nur das Trinkwasser für die Anlage, sondern auch genügend zusätzliche Energie.“
„Genial! Ein Thermenhotel, ein Stausee … Kraftwerk …“, staunte Lena und versuchte jedes Detail der Umgebung in sich aufzusaugen. „Stell dir mal vor, Martha … draußen die Kälte, und du planscht gemütlich im warmen Wasser herum.“
„Ja, gar nicht übel“, meinte diese in versöhnlichem Tonfall, während sie Lenas Gedankengang folgte.
Barbara lenkte den alten Wagen über eine abschüssige Schotterpiste um die Ausläufer der Thermenlandschaft herum zum Parkplatz vor dem Haupteingang. Dann stieg sie voll auf die Bremse. Die Insassen wurden nach vorne katapultiert. „Wir sind da. Raus mit uns“, forderte sie die anderen fröhlich auf und zog den Zündschlüssel ab.
„Danke, Babs“, stöhnte Martha, die mit dem Gesicht gegen die Kopfstütze des Beifahrersitzes geknallt war. „Jetzt kann ich meinen Müsliriegel ein zweites Mal genießen.“
Lena lachte meckernd. Die vier Freunde stiegen aus und versammelten sich beim Fahrzeugheck.
„Wo ist denn eigentlich Tom?“, fragte Martha und blickte missmutig auf ihre Armbanduhr.
„Ich ruf ihn an“, sagte Lena, zückte ihr Handy und suchte seine Telefonnummer aus den Kontaktdateien heraus. Währenddessen wuchteten Barbara und Michael die Gepäckstücke aus dem Kofferraum, der bis oben hin vollgestopft war. „Das Signal ist zu schwach … ich hab hier keinen Empfang.“
„Mein Handy ist auch tot“, stellte Michael knapp fest.
Barbara schüttelte den Kopf nach einem kurzen Kontrollblick auf das Display ihres nagelneuen Smartphones. „Fehlanzeige!“
„Na super“, spottete Martha. „Die ganze Technologie für die Katz. Und was machen wir jetzt?“
Barbara zuckte mit den Achseln. „Wir checken einfach selbst ein“, schlug sie vor und raffte ihr Zeug zusammen, das aus einem prall gefüllten Wanderrucksack, einer Laptoptasche und einer Einkaufstüte bestand. Dann marschierte sie auf den Eingang des Hotels zu. Michael folgte ihrem Beispiel.
„Komm schon, du Heulsuse. Oder willst du hier draußen Wurzeln schlagen?“, neckte Lena ihre Freundin, schwang einen Rucksack über die Schulter, schnappte sich eine Jutetasche und eilte den beiden anderen mit wehenden Haaren hinterher.
„Zahnstocher“, murmelte Martha. Eine kalte Windbö stach mit spitzen Nadeln durch den Rollkragenpullover und ließ ihre Zähne klappern. Sie zeigte Lenas Rücken den erhobenen Mittelfinger, dann hob sie ihre beiden Reisetaschen hoch und stolperte den anderen hinterher. „Wartet auf mich!“
„Was?“, fragte Lena und drehte sich an der Tür um, die Michael für die Nachkommenden aufhielt.
„Gar nichts!“, rief Martha. „Nehmt nur ja keine Rücksicht auf die Dicke!“ Lena verschwand kopfschüttelnd im Eingang, und für einen kurzen Moment hatte Martha ein mulmiges Gefühl, als wäre es grundfalsch, das Gebäude zu betreten – als ob sie besser kehrtmachen und zurückfahren sollten.
„Komm schon, Martha!“ Michaels Stimme hallte von dem steilen Felsabhang, der hinter dem Hotel emporragte, wider.
Das vertrieb die dunkle Vorahnung. Martha schüttelte sich und legte einen Zahn zu. „Danke, Mike“, stöhnte sie, als sie an ihm vorbei in den erstaunlich warmen Innenbereich trat.
Die kleine Gruppe verharrte unschlüssig vor der nostalgisch gestalteten Rezeption, die im krassen Widerspruch zum modernen äußeren Erscheinungsbild der Anlage stand. Ein lautes Klingeln ertönte, und alle zuckten zusammen. Ein Kopf tauchte grinsend hinter dem Tresen auf.
„Sorry, Leute“, lachte Thomas, als er ihre erschrockenen Gesichter sah. „Aber ich konnte einfach nicht widerstehen.“
„Spinnst du? Ich hätte mir vor Schreck fast in die Hosen gemacht“, schimpfte Martha und riss sich die Wollmütze vom
Kopf.
Thomas umrundete das Pult und begrüßte alle der Reihe nach. Dann hob er Marthas Taschen vom Boden auf. „Kommt mit, ich führ euch in eure Suiten.“
„Hört, hört!“, rief Lena erfreut. „Wir residieren hier recht komfortabel.“
Thomas nickte. „Für meine Freunde nur das Beste“, meinte der Gastgeber, der sie einen gebogenen Flur entlangführte. „Die Betten sind recht bequem, und es gibt reichlich Frischwasser. Aber nachts kühlt es in den Zimmern recht rasch ab. Das liegt daran, dass die Heizung momentan nur auf minimaler Stufe arbeitet. Ansonsten kann man es hier aber aushalten.“ Er bog ab und verschwand im ersten Raum, dessen Tür offenstand. „So, das wäre das Zimmer Nummer eins“, sagte er.
„Hier bleib ich“, rief Martha sofort und ließ sich auf die bequeme Couch sinken.
„Wow! Seht euch nur diese Aussicht an“, staunte Lena. Eine Glasfront, die von der Decke bis zum Boden reichte, ermöglichte einen ungehinderten Blick auf die gegenüberliegenden Gipfel. Die anderen traten ebenfalls an die Scheiben.
„Seht mal, von hier aus sieht man auch die Schwimmbecken“, stellte Barbara erstaunt fest.
„Ja, die liegen etwa zehn Meter unter dieser Ebene.“ Thomas war neben sie getreten und deutete auf das Thermen-Areal hinunter. „Somit befindet sich das Dach der Kuppel auf diesem Niveau, bevor es in gleichmäßigen Bögen nach vorne abfällt. Es ist wie eine halbrunde Ziehharmonika konstruiert. Nur ein schmaler Weg führt um die Gebäude herum. Und unter dem Parkplatz befinden sich die Garage, Lagerräume, Heizkessel, Pumpen, der Notstrom-Generator und so weiter.“
Lena presste überwältigt ihre Nasenspitze an der Scheibe platt. „Toll“, schwärmte sie. „Und wie gelangt man in die Therme?“ Die Vorfreude ließ ihre Augen leuchten.
„Es gibt zwei Abgänge, an jedem Ende des Hotels einen. Und auch Aufzüge, die jedoch noch gesperrt sind, aber das alles zeig ich euch später. Sehen wir uns die anderen Zimmer an“, schlug er vor und machte sich auf den Weg zur Tür.
„Hat denn jeder ein eigenes?“, fragte Lena verblüfft.
„Wenn du willst, kannst du dir auch gern ein Zimmer mit jemandem teilen“, lachte Thomas, der schon halb im Flur verschwunden war.
Michael boxte sie gegen den Oberarm. „Wie wär’s?“, fragte er augenzwinkernd.
„Träum weiter“, erwiderte Lena und versetzte ihm einen Nasenstüber.
„Sie liegen ohnehin nebeneinander und unterscheiden sich kaum voneinander“, meinte Thomas. „Vermeidet nur jede Beschädigung und unnötige Verunreinigungen.“
„Das ist doch klar“, sagte Barbara und betrat das nächste Zimmer.
Nach und nach bezogen sie ihre Suiten. Lena nahm Anlauf und landete vor Freude quietschend in dem Kingsize-Bett.
Michael war als Letzter dran. „Wo schläfst du?“, erkundigte er sich bei Thomas. Die beiden waren nun allein.
„Ich habe eine Dienstwohnung hinter der Rezeption“, antwortete er und deutete mit dem Kopf in Richtung Eingangshalle.
Michael grinste. „Wie romantisch.“
„Wenn man allein hier ist, dann wird es ganz schön unheimlich. Da ist der Raum hinter dem Tresen der beste Ort im ganzen Hotel, das kannst du mir glauben.“
„Jetzt sind wir ja hier.“ Michael stellte sein Gepäck am Fußende des Bettes auf den weichen Teppichboden.
„Meine Schwester und ihr Freund kommen auch.“
„Jenny kommt hierher?“, fragte Barbara, die plötzlich im Türrahmen aufgetaucht war. Ihre Augen waren zu schmalen Schlitzen geformt und die Hände kampfbereit in die Hüften gestemmt. Sie schnaubte. „Wann?“
Thomas blickte auf seine Armbanduhr und fuhr sich mit den Fingern durch den Kinnbart, was er immer machte, wenn er nervös war. „Sie müssten eigentlich schon längst da sein.“ Er warf Barbara einen entschuldigenden Blick zu.
„Da ist ein großer Geländewagen auf dem Parkplatz vorgefahren!“ Mit diesen Worten platzte Lena in Michaels Zimmer und hätte beinahe Barbara umgerannt.
„Das werden sie sein“, erwiderte Thomas und schob sich an den beiden vorbei.
„Wer?“, fragte Lena.
„Toms Schwester“, knurrte Barbara und folgte ihm in den Flur.
Lena heftete sich an ihre Fersen. „Jenny kommt auch?“
„Sie ist schon da“, erwiderte Barbara grimmig.
Michael schloss sich den anderen schweigend an.
Als die Prozession im Gänsemarsch an Marthas Tür vorbeidefilierte, steckte diese ihren Kopf neugierig heraus. „Was ist denn hier los? Wo wollt ihr hin?“
„Toms Schwester ist hier“, antwortete Michael über die Schulter zurück.
„Jenny, das Model?“
Lena zog eine Grimasse. „Genau die!“
„Auweia“, seufzte Martha. Das klang nach Ärger. Barbara hatte ein kurzes, aber intensives Verhältnis mit Thomas gehabt, das schließlich daran gescheitert war, dass sie sich mit seiner Zwillingsschwester nicht vertrug. Diese hatte sich erfolgreich zwischen die beiden gedrängt, bis Barbara der Kragen geplatzt war und Schluss gemacht hatte.
„Und sie bringt noch einen Freund mit“, sagte Lena, von einem Ohr zum anderen grinsend. Sie hatte sich ganz umgedreht und legte einige Schritte im Rückwärtsgang zurück.
„Wartet, ich komme mit!“, rief Martha aufgeregt und hängte sich an die Gruppe dran.
Als Thomas mit den anderen im Gefolge die Empfangshalle betrat, stürmte Jenny auf ihn zu und schlang ihre Arme um seinen Oberkörper. „Tom“, sagte sie heiter und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Schön, dich zu sehen. Und vielen Dank noch mal für die Einladung.“ Sie sah ihrem Bruder über die Schulter, löste sich aus der Umarmung und winkte dem restlichen Begrüßungskomitee freundlich zu. „Hallo, zusammen!“
Martha, Lena und Michael erwiderten den Gruß und winkten zurück.
„Hi, Jenny“, grüßte Michael flapsig und grinste.
Barbara nickte bloß. Ihre Miene ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie das plötzliche Auftauchen von Thomas‘ Schwester missbilligte.
Jenny drehte sich zu ihrem Begleiter um. „Das ist mein Freund, Ralf“, stellte sie den gut aussehenden Mann mit Kurzhaarfrisur vor, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. Als er nähertrat, um jedem Einzelnen die Hand zu schütteln, bemerkten sie erst, wie groß und kräftig dieser war. Bei jedem Namen, der ihm genannt wurde, hatte er einen peinlichen Kommentar parat.
„Tom! He, du bist deiner Schwester, wie aus dem Gesicht geschnitten. Soll nicht heißen, du siehst aus wie ein Mädchen … Hi, Mike! Kenn ich dich nicht aus Harry Potter … hahaha … Martha! Meine Großmutter heißt auch Martha. Du siehst ihr ein bisschen ähnlich … Barbara, schön, dich einmal persönlich kennenzulernen. Hab schon viel von dir gehört, wenn auch nicht unbedingt nur Erfreuliches.“ Er schnalzte mit der Zunge, hielt ihre Hand länger als notwendig fest. Dann wandte er sich der Letzten zu. „Lena! Bist du nicht noch ein bisschen zu jung zum Studieren?“ Er zwinkerte Lena zu, die nicht wusste, ob sie vor Schmerzen in die Knie gehen sollte, weil er ihr soeben die Hand zerquetscht hatte, oder ob sie vor Scham gleich ganz im Boden versinken sollte.

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