Theke, Antitheke, Syntheke

Theke, Antitheke, Syntheke

Thriller über eine tragikomische Stammtischrunde auf dem Weg in den Tod

Rudolf Oeller


EUR 25,90
EUR 15,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 396
ISBN: 978-3-99130-025-0
Erscheinungsdatum: 08.10.2021
Corona-Regeln? Nicht für unsere wöchentliche Stammtischrunde, wir treffen uns weiterhin. Doch auf einmal dezimiert sich unsere Runde, einer nach dem anderen stirbt - sind die scheinbar natürlichen Tode tatsächlich natürlich?
Wir waren zehn. Mit unserem Wirt Blues sogar elf. Hie und da stießen auch der Pfarrer, den wir Kaiphas nannten, und unser Vereinspsychiater Psycho zu uns. Gelegentlich kamen auch einer der Gemeindeärzte und unser Orts-Sheriff Werner. Wenn weniger los war, gesellten sich noch die Wirte zu uns: Blues, der eigentlich Peter hieß, Wirt in der Sauren Wiese, Monk, der in Wahrheit Paul hieß, Wirt in der Hopfenklause, und Pavi, der mit bürgerlichem Namen Götz hieß, war Wirt im Roten Affen. Den Roten Affen nannten Hans und ich „Potex Rubens“, was so viel wie Roter Arsch bedeutet. Daraus leitete sich der Spitzname Pavi – von Pavian – ab. Pavi, ein Witzvogel bestenfalls mittlerer Intelligenzstufe und Meister der geschmacklosen und öden Witze,
trägt es mit Humor.
Wir waren eine verschworene Truppe, fast schon ein Dream Team. Drink Team trifft es allerdings besser. Wir starteten voll Hoffnung ins Jahr 2020, am Ende wurde es eine teils fröhliche, teils depressive Reise in den kollektiven Tod.
Wer war mit dabei?
Ernesto vulgo Che war seit Jahren Arbeiter mit angeblich bolivianischen Wurzeln in der Brauerei Pettingerbräu. Er war bis zu der Flucht des Staatspräsidenten Evo Morales ein Fan von ihm. Che träumte gelegentlich von einer gleichgeschlechtlichen Weltrevolution, wusste aber nicht, wie diese ablaufen sollte. Er liebte Jane auf seine Weise und sprach gerne über das Buch der Bücher, die Bibel. Er war ein liebenswerter südamerikanischer Schwuler mit theologischen Kenntnissen und tiefem christlichen Glauben. Nach seiner Einäscherung erfuhren wir über ihn etwas Unerwartetes.
Heinrich vulgo Charly. Charly ist den Schriftstellern Charles Bukowsky und Karl May entnommen. Er war angeblich pensionierter Briefträger und ehrenamtlicher Rettungsfahrer und Sanitäter. Den Briefträger hatte Charly erfunden. Er war nur als Student bei der Post gewesen. In Wahrheit hatte er mehrfach studiert, ohne ein Studium jemals zu beenden. Danach lebte er von Gelegenheitsjobs. Er erzählte uns gerne die wildesten Geschichten aus seinem Blaulichtleben. Charly hat nach eigenen Angaben in seinem ganzen Leben nur ein halbes Dutzend Bücher gelesen, die er immer wieder als seine Lieblingsbücher bezeichnete: „Der Mann mit der Ledertasche“ und „Faktotum“ von Charles Bukowsky und Bücher von Karl May. Erst später bekamen wir mit, dass er eine schillernde und vielseitig begabte Persönlichkeit war und viel mehr Bücher gelesen hatte, als er zugab. Wenn Charly zu viele Bockbiere getrunken hatte, mutierte er zum Sonderling, aber das war er auch ohne Bier. Wir nahmen ihn nicht immer ernst, was sich nach seinem Tod als Fehler herausstellen sollte.
Horst vulgo Pumpe war gebürtiger Berliner, Bodybuilder und selbsternannter Womanizer. Den Namen Pumpe bekam er, weil er gerne „Bölkstoff“ – wie er es nannte – abpumpte und im Fitnessstudio seine Muskeln aufpumpte. Wahrscheinlich nahm er Anabolika, aber darüber sprach er nie. Er war mit sechsundvierzig Jahren in Frührente gegangen, übte Gelegenheitsjobs aus, war belesen und sah wegen seiner Glatze, seiner langen Nackenhaare und seiner Nerd-Brille unverwechselbar komisch aus. Er hatte, so wie Hans und ich, ab und zu etwas zu lesen dabei, darunter auch Illustrierte und Fachzeitschriften über Modelleisenbahnen und Tauchen. Er erschien uns manchmal als Verschwörungssektierer, ein andermal als ernsthafter Gesprächspartner. Er war ein Träumer auf der ständigen Suche nach Anerkennung. Er war der ruhigste und am wenigsten nervige Typ von uns. Wir waren alle geschockt und traurig, als er uns für immer verließ.
Jeanine vulgo Jane war eine dunkelhaarige Schönheit mit einem eigenartigen bayrisch-österreichischen Misch-Akzent und Ansichten, die in Richtung Feminismus gingen. Wir nannten sie scherzhaft unsere jungfräuliche Nymphomanin, was sie nie dementierte. Sie fühlte sich zu uns Männern hingezogen, gleichzeitig wirkte sie blockiert. Sie ließ sich gerne vom schwulen Che, ihrem Arbeitskollegen in der Brauerei, bewundern. „Block Jane“, wie wir sie manchmal nannten, erschien uns etwas simpel gestrickt, aber das war nur vorgetäuscht, wie wir nach ihrem Ableben erkennen mussten. Sie hatte ein Herz aus Gold, trank gerne Weißwein und fuhr nach unseren Treffen viel zu schnell nach Hause. Beides sollte ihr zum Verhängnis werden. Ich weine nie bei Begräbnissen oder Hochzeiten. Als ich von ihrem Tod erfuhr, konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten.
Konrad vulgo Knochenbrecher war Physiotherapeut. Sein Name kam von seinen Behandlungsmethoden, die angeblich nur von Masochisten geschätzt wurden, aber das war lediglich ein running gag in unserer Runde. Er verabscheute seinen Spitznamen, fügte sich aber seinem Schicksal. Er fuhr einen roten Ford Mustang mit V8-Motor, den mein Freund Hans nach Konrads Tod erbte. Wir mochten den Knochenbrecher, obwohl er, so wie Pasak und Pumpe, ein Angeber mit Machogehabe war. Was soll ich zu seinem Tod sagen? Er war ein guter Physiotherapeut, der mich vor Jahren in kurzer Zeit von meiner „frozen shoulder“ heilte. Er war jedenfalls einer von uns. Sein Tod war ein herber Verlust.
Henriette vulgo Dragoner war die Frau von Konrad. Sie war gebürtige Wienerin mit breitem Wiener Dialekt, holte Konrad meist um Mitternacht ab, blieb aber manchmal auch etwas länger. Sie beschwerte sich selten über unsere derben Witze, sie war mir also sympathisch. Gelegentlich war sie eine Nervensäge, mit der man aber laut lachen konnte, vor allem wenn sie zu viel Prosecco oder Cuba Libre intus hatte. Die in Wien übliche Bezeichnung Dragoner ist willensstarken Frauen vorbehalten – um es euphemistisch zu sagen. Als wir an ihrer Urne standen, wurde mir klar, dass die Welt für mich weniger bunt, weniger originell und weniger witzig sein würde.
Lothar vulgo Fat Lot war wegen seines enormen Bierkonsums, seines gesegneten Appetits und seiner mangelnden Beweglichkeit übergewichtig. Sein Body-Mass-Index lag nie unter 36. Unter drei Litern Bier pro Abend ging bei ihm nichts, vor allem, wenn er am Pokertisch saß. Er täuschte Bildung durch vordergründigen Gebrauch von Anglizismen und manchmal auch lateinischen Sprüchen vor. Sein Spitzname war eine Folge des Lieblingsspruchs „A fat lot I care“ (ist mir scheißegal). Er versuchte ständig erfolglos, sein Gewicht zu reduzieren, indem er alle paar Wochen eine neue Wunderdiät ausprobierte. Sein Tod war grausam. Im Krematorium mussten sie über eine Stunde länger als üblich brennen, um seine sterblichen Überreste einzuäschern.
Pasak war unter uns Stammtischmachos der lauteste und aufdringlichste. Seinen wahren Namen – genauer: seine vielen Namen – erfuhren wir erst nach seinem Tod. Er versuchte jahrelang vergeblich, Block Janes Beschützer zu sein. Er war der geilste Bock in der Runde und wusste alles besser. Er beleidigte gerne andere, weil er das für witzig hielt und nicht wusste, wo Satire begann oder Ironie aufhörte. Erst spät merkten wir, dass sein Benehmen nur Fassade war. Er hatte verdammt was drauf. Wir waren jedenfalls alle traurig, als er dran glauben musste und als Erster des grandiosen Drink Teams in die Grube fuhr. Das dunkle Geheimnis seines Lebens erfuhren wir erst nach seinem Tod.
Schließlich gab es in der Runde auch noch meinen Freund Hans und mich, die Zwei-Mann-Ibrahim-Loge. Über uns gibt es nicht viel zu erzählen, außer dass wir beide schon in Frührente leben, Musikliebhaber und Leseratten sind und bei jedem Treffen mindestens ein halbes Dutzend Bücher anschleppten, um uns zu unterhalten, manchmal auch, um die anderen zu nerven. Das hat uns eine Menge sensationelle Bezeichnungen beschert, wobei Klugscheißer noch neutral war. Hans hat eine merkwürdig aussehende Rauhaardackelmischung namens Shaasdougn (sprich: Schahsdak’n) und einen Honda-Roller. Ich fahre eine silbergraue Suzuki V-Strom namens Maus und eine dunkelrote Harley-Davidson Road King namens Harry.
Es gibt für mich keine melancholischere Zeit im Jahr als die Zeit der dunklen Tage rund um die Wintersonnenwende. Vor einem Jahr waren wir noch zehn. Jetzt sind wir, Hans und ich, nur noch der traurige Rest. Alle anderen, darunter einer unserer Wirte, haben sich für immer in eine hoffentlich bessere Welt verabschiedet. Zunächst hatten wir geglaubt, es habe sich in allen Fällen um Krankheiten oder Unfälle gehandelt, aber die wahren Hintergründe des Geschehens sind erst am Weihnachtsabend und auch nur durch Zufall ans Tageslicht gelangt.
Wie es zu diesen Ereignissen kam? Das ist eine lange Geschichte, die ich am besten anhand meines Tagebuchs und zahlreichen mit dem Mobiltelefon angefertigten Fotodokumenten im Corona-Jahr 2020 nacherzähle, beginnend mit Weihnachten 2019 und dem ersten Stammtisch dieses verdammten Jahres, an dem wir alle trotz dunkler Ringe unter den Augen noch recht fröhlich
feierten.
Es folgten die Tage der Frühjahrs-Coronakrise, ein schöner und biergetränkter Sommer, die vielen Abschiede und das entsetzliche Ende im Dezember. Rückblickend muss ich gestehen, dass uns angesichts der Katastrophen, die wir erlebten, das Virus irgendwann egal war. Wir waren am Ende nur noch zu viert: Hans, unser Freund Psycho, der erst gegen Ende des Drink Teams zu uns stieß, meine Wenigkeit und Shaasdougn, der hässlichste, aber liebenswürdigste Hund in Mitteleuropa. Die Geschichte, die ich zu erzählen habe, begann zu Weihnachten und endete ein Jahr später wiederum zu Weihnachten.





Die Fähigkeit, andere einschätzen zu können, war bei keinem von uns besonders gut entwickelt. Der wahrscheinlich Einzige, der immer den Durchblick hatte, war Shaasdougn, der Hund von Hans. Ich blickte zu Shaasdougn rüber. Er schaute zu mir herüber und ich wusste, dass er wusste, was ich dachte.
Pumpe und Knochenbrecher haben vor einigen Jahren bei einigen Agenturen und Castingshows versucht, sowas wie eine Karriere als Künstler zu starten. Einer der beiden sang, der andere spielte Gitarre und Mundharmonika.
Herausgekommen ist nichts, die beiden hatten sich überschätzt. Charly sagte man nach, er habe mehrere Anläufe genommen, ein großer Dichter zu werden, aber auch das hatte vermutlich nie funktioniert, zumindest wussten wir nichts davon. Er wich dem Thema beharrlich aus, wenn jemand in der Runde eine Andeutung machte.
Der Dunning-Kruger-Effekt zeigt sich bei Castingshows auf besonders peinliche Weise. Leute wie Pumpe und Knochenbrecher kaufen sich ein Instrument und bemühen sich, ein paar Akkorde zu spielen. Die Begeisterung steigt und früher oder später kommt es zum folgenschweren Fehlschluss, der Schritt zum musikalischen Weltruhm stehe unmittelbar bevor. Laut Dunning und Kruger ist es möglich, durch die individuell richtige Bildung und durch Übung und Selbstdisziplin nicht nur die eigene Kompetenz zu steigern, sondern auch die Fähigkeiten, andere Zeitgenossen besser einschätzen zu können.

Ich prostete Shaasdougn zu, er grüßte mit Schwanzwedeln zurück.

Hans ahnte, was in meinem Kopf vorging. Er holte sein iPhone heraus, tippte ein wenig herum und hielt es mir vor die Nase. Auf YouTube ertönte der Dunning-Kruger-Blues von Tommy Krappweis.

Zwei Gläser Bier später fiel aus irgendeinem Grund das Wort „Ketzer“. Hans und ich waren gerade in unsere Bücher vertieft, als zwischen Charly und Pasak wieder ein Streit losbrach. Jetzt mischte sich auch Fat Lot ein, dadurch wurde die Sache völlig unübersichtlich. Charly hatte schon ordentlich getankt, als er Pasak einen faschistischen Apostaten schimpfte, was dieser mit einer Schimpfkanonade beantwortete. Wörter wie Ketzer, Abtrünniger, Idiot, Versager und noch Schlimmeres flogen über die Antitheke. Später fragte ich Charly, was er mit dem faschistischen Apostaten gemeint hatte, aber Charly wischte das beiseite: „Nix. Hat nix zu bedeuten. Genauso gut könnte ich ihn einen ehemaligen Söldner nennen.“ Ich wusste damals nicht, dass sich Charly da verplappert hatte. Da er schon zu viel getankt hatte, nahm ich ihn nicht mehr ernst.

Als Pasak, der ebenfalls nicht mehr nüchtern war, Charly vorwarf, seine Vergangenheit zu verheimlichen, flogen die ersten Fäuste. Charly rann das Blut aus der Nase und Pasaks Hemd war zerrissen. Hans und ich gingen dazwischen und zogen die beiden Verrückten auseinander. Fat Lot wollte sich einmischen, aber Hans verhinderte das. Um die Situation zu beruhigen, holte ich aus dem Bücherstoß den Schinken „Ketzer und andere Denker“ hervor und begann zu dozieren. Hans, Pumpe und der Knochenbrecher bewachten inzwischen die Streithähne, die wie bei einem Boxkampf grollend in ihrer Ecke saßen.

Ich begann zu lesen:

Ein weniger bekanntes Opfer kirchlicher Gewalt war der Mönch Filippo Giordano Bruno. Filippo Bruno wurde 1548 bei Neapel geboren, studierte Logik und Dialektik und trat mit siebzehn Jahren in den Orden der Dominikaner ein, wo er den Ordensnamen Giordano erhielt und zum Priester geweiht wurde. 1563 war das Konzil von Trient zu Ende gegangen, seither machte die Kirche Ernst mit der Gegenreformation. Die Dominikaner waren vom Papst ausersehen worden, Abweichler vom rechten Glauben gnadenlos zu jagen. Ausgerechnet in diesem Orden lebte und wirkte Giordano Bruno, einer der größten Freigeister seiner Zeit.

Alle waren froh, dass ich die beiden Spinner mit meiner neunmalklugen Rede im Zaum hielt. Ausnahmsweise hörten jetzt alle zu.

Schon im Alter von achtundzwanzig Jahren hatte Bruno durch ungewöhnliche Auslegungen der Heiligen Schrift den Verdacht der Ketzerei erregt. Er wanderte in der Folge nach Norden, wo sich die Reformation bereits durchgesetzt hatte. Auf dem Weg nach Lyon erreichte ihn die Nachricht von seiner Exkommunikation. In Genf fand er einen protestantischen italienischen Gönner und erhielt eine Anstellung als Universitätslehrer. Bereits drei Monate später wurde er wegen einer Streitschrift in den Kerker gebracht, aber nach einigen Debatten wurde er wieder entlassen. Verärgert über die calvinistischen Spießer und „Mucker“ ging Bruno nach Toulouse, wo er an der Universität die Studenten mit
seinen packenden Vorlesungen über Philosophie begeisterte.

1581 ging Giordano Bruno an die weltberühmte Universität von Paris. König Heinrich III., ein Gönner der Wissenschaften und Freund italienischer Kultur, verschaffte Bruno eine Professur. Schon ein Jahr später musste Bruno nach England gehen, weil er in Frankreich durch eine Komödie über das sittenlose Leben in italienischen Klöstern Unmut erregt hatte. In London schrieb er sechs philosophische Dialoge, die erneut den Zorn seiner kirchlichen Gegner erregten. Nach Jahren des Wanderns wurde der vagabundierende Philosoph 1592 schließlich von der kirchlichen Inquisition verhaftet und in Rom eingekerkert.

Bruno starb im Februar 1600. Auf dem Campo de’ Fiori, dem Blumenmarkt von Rom, wurde er öffentlich verbrannt.

Es war still geworden. Jane applaudierte. Che war begeistert. „Genau das ist es, was Europa so stark gemacht hat. Immer und immer wieder haben Ketzer die Mächtigen aufgemischt. Galileo Galilei war auch ein großer Ketzer vor dem Herrn, aber er war kein Atheist. Das hat die Kirche offenbar nicht verstanden.“
„Marx und Lenin waren auch grandiose Ketzer“, warf Pasak ein. Das gefiel wiederum Hans und mir nicht. Auch Charly ärgerte sich. „Marx und Lenin waren Verräter der Demokratie“, sagte Hans düster, „sie haben alles Mögliche in Frage gestellt, aber das freie Denken war nicht ihr Ding.“
Pasak scharrte mit den Hufen und wollte schon was sagen, als ihm Jane einen bösen Blick zuwandte und mich fragte, ob ich etwas über Galileo Galilei zum Besten geben könne. „Rede so lange, bis Pasak sich beruhigt“, raunte sie mir zu. Das tat ich schon deshalb, weil ich damals ein wenig in Jane verliebt war und weil Pater Severin, der Dorfpfarrer, während des Vortrags über Giordano Bruno zu uns gestoßen war. Severin ist sein Klostername bei den Zisterziensern. Wie er wirklich heißt, wusste keiner von uns. Es ist auch egal.

Ich blätterte im Buch herum, dann fand ich die Stelle, die ich gesucht hatte. Ich begann zu lesen und bemühte mich dabei, böse Stellen zu umschiffen, denn ich wollte Pater Severin nicht allzu sehr wehtun.

Der italienische Mathematiker und Physiker Galileo Galilei blickte zu Beginn des 17. Jahrhunderts durch sein Fernrohr und staunte: Die Mondoberfläche hatte Gebirge und Täler wie die Erde. Offenbar war die Erde nichts Einzigartiges im Universum, wie man immer geglaubt hatte. Der Planet Jupiter hatte sogar eigene Monde. Damals musste man die Lehre des Philosophen Aristoteles für wahr halten, dass sich ausnahmslos alles um die Erde dreht. Es bewegte sich aber etwas um Jupiter. Aristoteles war damit widerlegt. Der Planet Venus zeigte Phasen wie der Mond. Das war ein Hinweis, dass sich die Venus nicht um die Erde bewegte, sondern um die Sonne. Zu schlechter Letzt zeigte die Sonne Fleckenmuster. Sie war nicht so rein, wie Aristoteles behauptet hatte.

Kopernikus hatte schon hundert Jahre zuvor nicht die Erde, sondern die Sonne im Mittelpunkt des Universums vermutet. Diese These schien nun bestätigt. Einige Dominikanermönche wurden hellhörig und machten ihre Ordensbrüder in der Inquisition darauf aufmerksam, dass die Ideen des Kopernikus von Ketzern unterstützt würden, was auch der Fall war.

„Ketzer“, lallte Pasak und erhob einen Zeigefinger. „Ketzer sind wichtiger als alles andere. Marx war auch ein Ketzer.“ Pater Severin lächelte milde. Pasak sank in sich zusammen. Ich las weiter.

Einige Jahre später publizierte Galileo das Buch „Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme“, in dem zwei Gelehrte die alte aristotelische Lehre der Kirche und die neue Lehre des Kopernikus verteidigten. Galileo nannte den Vertreter der kirchlichen Lehre „Simplicio“, was weder der Inquisition noch Papst Urban VIII. gefiel. Am 22. Juni 1633 wurde Galileo Galilei in der römischen Kirche Santa Maria Sopra Minerva zu lebenslangem Hausarrest verurteilt.

Ich überflog rasch und schweigend einige böse Absätze über die Kirche, dann fuhr ich fort.

Historiker glauben, dass die Kirche damals Angst hatte. Galilei hatte mit dem wissenschaftlichen Experiment einen Weg gefunden, Naturgesetze zu entdecken. Aristoteles und Platon stiegen in die 2. Liga ab. Das war neu und wurde damals als beklemmend empfunden. Galileis Methode, das Experiment zum Prüfstein zu machen, entwickelte sich zu einem Flächenbrand. Forscher späterer Jahre mussten keine Verfolgungen mehr erleiden. Im Herbst 1992, fast dreihundertsechzig Jahre später, wurde Galilei von Papst Johannes Paul II. rehabilitiert.

Pater Severin bedankte sich für den interessanten Vortrag. Der Knochenbrecher und Pumpe drängten zum Aufbruch. Hans und ich packten unsere Bücher weg und Jane blickte völlig entspannt, denn Pasak und Charly waren eingeschlafen.

Ich griff mir das Thekenbuch und schrieb hinein: „Gewalt ist die letzte Zuflucht der Unfähigen.“ Hans schrieb darunter: „Ich sehe schon den Abgrund am Ende des Tunnels.“ Pater Severin war neugierig geworden. Er las unsere Sprüche, lächelte weise und schrieb ebenfalls etwas darunter – natürlich war es in Latein: „Magna tamen spes est in bonitate die.“ (Dennoch besteht große Hoffnung auf die Güte Gottes.)


Nachdem wir schon alle unsere Jacken angezogen hatten, ging Fat Lot nochmals zur Theke und schrieb ins Thekenbuch: „This silly prattle drives me around the bend.“ (Das dumme Geschwätz hier macht mich noch wahnsinnig.)
Hans und ich verabschiedeten uns mit einem lauten „Die Ibrahim-Loge wünscht euch allen was. Euer Friede sei mit uns.“
„Irgendwann müssen wir ihnen den Ibrahim erklären“, sagte Hans, dann starteten wir unsere Maschinen.


5 Sterne
Oeller: Theke, Anttheke, Syntheke - 21.01.2022
Wolfgang Türtscher

Rudolf Öller würde seinen Roman wohl selbst als "schräg" bezeichnen. Die ersten zwei Drittel des Romans erleben wir eine sehr heterogene Stammtischrunde, die aber den Ehrgeiz hat, hinter die Dinge zu sehen. So erfahren wir viel über europäische Geistesgeschichte, Naturwissenschaften etc. Das letzte Drittel wird dann spannend - die Stammtischmitglieder kommen, bis auf zwei, ums Leben - sie werden ermordet, von einem Wahnsinnigen, der Teil des Stammtisches war. Beim Tod erfahren wir, dass alle eine "doppelte Existenz" geführt haben. Der Roman ist nicht nur unterhaltsam, sondern macht auch nachdenklich. Wir fragen zu wenig und lassen uns gerne täuschen, hauptsächlich, der "Schein stimmt."

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