Szállító - Der Ausläufer
Emil Allemann
EUR 18,90
EUR 11,99
Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 404
ISBN: 978-3-99048-924-6
Erscheinungsdatum: 14.06.2017
Szállító flieht 1956 aus Ungarn und beginnt nach einer abenteuerlichen Flucht ein neues Leben in der Schweiz. Doch nicht alles ist perfekt - der Vater seiner Freundin akzeptiert ihn nicht, und mit seinem Sportwagen hat er nicht nur Vergnügen …
Kapitel 1
Mit ungewöhnlicher warmer Einstrahlung schickt die Sonne ihre Strahlen auf die Hauptstadt Ungarns. Aus den Gassen und Straßen flimmert die Hitze himmelwärts, als läge glühende Kohle auf deren Boden; als schriebe man einen Hitzetag im Monat August. Einzig der Geruch von welkenden Baumblättern, die in schönsten Farben Gehwege und Grünflächen bedecken, künden eindeutig an, es ist Herbst, nein, eigentlich schon Spätherbst. Wer würde da schon vermuten, dass sich an einem solch schönen Herbsttag in Budapest grauenvolles Unheil zusammenbraut.
Làyos, genannt Szállító (auf Ungarisch „der Ausläufer“) schlendert mit Unbehagen von einer Klavierstunde nach Hause. Unbehagen, weil in letzter Zeit in seinem Freundeskreis sowie auch in der Schule über nichts anderes gesprochen wird als über die prekäre politische Lage ihres Heimatlandes.
Làyos ist siebzehn Jahre alt und Gymnasiast. Der Schulbetrieb ist momentan eingestellt. In Ungarn brodelt es; dabei spricht man sogar von einem Volksaufstand.
Die Lage ist angespannt und verbreitet unter der Bevölkerung Unsicherheit und Angst. Làyos denkt viel darüber nach, dabei gehen ihm die grässlichsten Bilder durch den Kopf, wie man sie aus dem Zweiten Weltkrieg kennt.
In der Nähe des Josef-Bem-Platzes, wo er bei seinen Eltern wohnt, zirkulieren Lastwagen, auf deren Ladebrücken vorwiegend junge Leute revolutionäre Lieder sowie die Nationalhymne singen. Über die Margaretenbrücke marschiert eine Unzahl von Demonstranten zur Buda-Seite. Làyos schaut dem Treiben aufmerksam zu und stellt fest, dass sich immer mehr Leute den Demonstranten anschließen. Aus den Fenstern der Stadtwohnungen schwenken Bewohner die Landesfahnen und fordern die Anführer in lauten Sprechchören auf, trotz Demonstrationsverbotes, das am Mittag durch das Radio bekannt gegeben wurde, die Demonstration weiterzuführen. Auch die Studenten kümmert dieses Verbot wenig, sie möchten in einem 16-Punkte-Programm ihre Forderungen durchsetzen. Làyos ist überzeugt, dies ist der einzig richtige Weg, darum ist er entschlossen mit Gleichgesinnten diese Reformen durchzusetzen.
Zuerst will er aber zu seinen Eltern nach Hause. Dort angekommen, betritt er das Haus, geht direkt in die Wohnstube und begrüßt seine Eltern sowie seinen kleinen Bruder. Hier herrscht jedoch Niedergeschlagenheit unter den Anwesenden. Làyos möchte wissen, weshalb sie so deprimiert dasitzen, darum fragt er den Vater: „Was habt ihr, was ist bloß mit euch los?“
Mit besorgtem Gesicht schaut ihn sein Vater an und spricht: „Auf dem Josef-Bem-Platz tut sich was, die Studenten der technischen Universität organisieren angeblich eine friedliche Großdemonstration, die nach demokratischen Veränderungen ruft.“ Làyos meint dazu, dass eine friedliche Demonstration nichts Außergewöhnliches sei, vor allem aber würde sie der Freiheit dienen.
„So wie es aber aussieht, gewähren uns die Sowjets sowie unser Parteichef Ernö Gerö diese Freiheit, wie wir sie wünschen, niemals“, entgegnet ihm sein Vater. „Pressefreiheit, Austritt aus dem Warschauer Pakt, das sind Forderungen, auf die die Russen nie eingehen werden, ich denke, das Ganze ist brandheiß und führt unter Umständen zu einer Revolution.“
In der Zwischenzeit nach diesem Gespräch sieht man auf den Straßen immer mehr Leute, die sich in Richtung Josef-Bem-Platz bewegen.
„Vater, ich habe mich entschlossen da mitzumachen.“ Dieser versucht ihn jedoch daran zu hindern, was ihm jedoch nicht gelingt.
„In unserer Klasse, im Gymnasium, wird schon lange über einen ungarischen Volksaufstand geredet, dabei bin ich überzeugt, dass ich all meine Klassenkameraden auf diesem Platz antreffen werde. Ich weiß nicht, was da Besonderes dabei sein soll, wenn unser Volk nach mehr Freiheit ruft.“
Der Vater ist da aber anderer Meinung, doch gibt er seinem Sohn den Rat, wenn er schon dabei sein will, soll er sich bei dieser Veranstaltung defensiv verhalten.
Die Mutter schaut besorgt auf ihren Jungen und meint: „Musst du da unbedingt dabei sein?“
„Macht euch keine Sorgen, ich beobachte das Vorgehen nur, dabei halte ich mich da raus.“
Die Eltern wiegen nachdenklich ihre Köpfe, der jüngere Bruder weint und ruft: „Bleib doch da, Làyos.“
Dieser hört nicht auf die guten Ratschläge, zieht sich eine Jacke über und geht auf die Straße.
Unterwegs trifft er Jànos, der mit ihm in der gleichen Klasse ist. Dieser ruft lauthals: „Der Freiheitskampf beginnt. Gegen diese kommunistische Diktatur der Regierung und gegen die sowjetische Besatzungsmacht müssen wir uns wehren.“
Bald schon sind sie am Josef-Bem-Platz, wo sich eine Vielzahl von Demonstranten versammelt hat.
Hier werden auch die ersten Forderungen der aufständischen „forradalmar-Studenten“ bekannt gegeben. Kurz darauf zieht ein Teil der Demonstranten zum Parlamentsgebäude. Der Großteil aber marschiert zum Rundfunkgebäude, das auf der Pester-Donauseite steht. Làyos und Jànos schließen sich dieser Gruppe an. Hier möchte man über den staatlichen Sender die Forderungen weiter verbreiten.
Kaum sind die Leute aber vor dem Radiohaus eingetroffen, wird aus dem Gebäude planlos auf sie geschossen.
Làyos schreit: „Verdammt, jetzt schießen diese Hunde auf die eigenen Landsleute!“
„Komm, wir verschwinden“, stottert mit ängstlicher Stimme sein Freund.
„Warte noch einen Augenblick“, meint Làyos, „ich glaube, da tut sich was.“
In der Tat sind viele Demonstranten auch mit Waffen ausgerüstet, die sie von ungarischen Soldaten bekommen haben. Sie setzen sich zur Wehr und stürmen das Gebäude.
Später am Abend versammeln sich etwa zweihunderttausend Menschen vor dem Parlament.
Die beiden Gymnasiasten sind auch wieder dabei. Man plädiert für die uneingeschränkte Pressefreiheit, freie Wahlen, mehr Unabhängigkeit von den Sowjets und Imre Nagy zum Regierungschef.
Nagy, der die Leute auffordert nach Hause zu gehen, wird überraschend in dieser Nacht zum Ministerpräsident gewählt.
Nach und nach ziehen sich die Demonstranten zurück. Einzelne Gruppen kehren in Gasthäuser ein, wo man unter Umständen noch einen freien Platz ergattern kann.
An Diskussionsstoff fehlt es ihnen sicher nicht.
Làyos und Jànos verabschieden sich von dieser Politszene, dabei vereinbaren sie sich morgen am Heldenplatz erneut zu treffen. Bei seinen Eltern zu Hause wird Làyos mit beklommener Angst und Neugier erwartet und befragt.
„Wo bist du überall gewesen?“, wird er von seinem Vater gefragt. Làyos erzählt, was er gesehen hat, und als er berichtet, wie aus dem Rundfunkgebäude planlos in die Menschenmenge geschossen wurde, zieht seine Mutter den Atem tief ein, zugleich hält sie ihre rechte Hand vor ihren Mund und wird kreidebleich.
„Was musst du dich in diesem Tumult aufhalten, es wäre ja durchaus möglich gewesen, dass du in diesem Kugelregen umgekommen wärst.“
„Ach nein, ich und Jànos hielten uns auf Distanz, sodass wir nie in die Gefahrenzone eintraten.“
Die Eltern machen sich aber weiterhin große Sorgen um ihren Jungen und raten ihm sich da rauszuhalten. Der Vater ist fest davon überzeugt, dass die Lage nach diesem Volksaufstand eskalieren wird und dass dadurch die Schießerei und das Gemetzel in den Straßen von Budapest erst richtig in Gang kommen werden. Làyos versucht seine Eltern zu beruhigen, was aber ein schwieriges Unterfangen ist und kaum mit Nachhaltigkeit endet. Deshalb setzt sich Làyos im Nebenzimmer ans Klavier und übt das Stück der Ballade Nummer eins in G-Moll von Frédèric Chopin.
Vater und Mutter reden noch lange über die Vorkommnisse in dieser Stadt, dabei schauen sie mit Besorgnis aus den Fenstern, einer ungewissen Zukunft entgegen.
Am nächsten Tag verlässt Làyos gleich nach dem Frühstück das Haus. Wie abgemacht trifft er sich mit Jànos am Heldenplatz. Unterwegs begegnet er Csilla, einem Mädchen aus seiner Parallelklasse.
„Hallo Szállító“, so wird Làyos von seinen Kameraden oft gerufen, weil er in seiner Freizeit bei einem Bäcker das Brot austrägt und so die Kundschaft beliefert, damit er sein Taschengeld etwas aufbessern kann.
Am Heldenplatz treffen sie auf Jànos. Man begrüßt sich kameradschaftlich. Es hat sich schon wieder eine beachtliche Menschenmenge angesammelt. Neu mischen sich nun auch Soldaten der sowjetischen Besatzungsarmee unter die Leute. Jànos weiß und informiert, dass Imre Nagy in der vergangenen Nacht überraschend vom Zentralkomitee der Werktätigen zum Ministerpräsidenten berufen wurde.
„Das wäre doch schon mal positiv“, meint Làyos.
Doch haben zu diesem Zeitpunkt die Russen beschlossen militärisch einzugreifen.
Ungeachtet dessen haben die (forradalmar) Studenten beschlossen das Stalin-Denkmal zu Fall zu bringen. Auch Làyos, Jànos und Csilla beteiligen sich an dieser Aktion. Unter frenetischem Beifall wird die Statue bis zu den Stiefeln, die man mit Schweißbrennern vom übrigen Leib trennt, niedergerissen. Mit einem Traktor wird sie dann ohne Kopf, den man mit Vorschlaghämmern und Schuhwerk traktiert, vor das Parlamentsgebäude geschleift.
In der Zwischenzeit donnern bereits die ersten russischen Panzer durch die Straßen der Hauptstadt. Sie eröffnen das Feuer und beschädigen Gebäude sowie Straßenbahnen, auch werden dabei viele Zivilisten getötet. Trotzdem gibt es viele, die mutig mit Molotowcocktails und anderen schweren Utensilien versuchen diese Stahlungeheuer zu vernichten.
Am 30. Oktober verkündet Nagy das Ende der Einparteienherrschaft und bildet eine Mehrparteienregierung. Auf diesen Akt lassen sich die Russen über einen Abzug ihrer Truppen ein, bereiten sich aber für einen neuen effizienteren Angriff vor.
Am 4. November überrollt die russische Walze dann die Hauptstadt Ungarns und es toben heftige Kämpfe. Auch Csilla, Làyos und Jànos halten sich wieder in der Stadt auf und betrachten das Geschehen.
Auf dem Heldenplatz werden sie von zwei russischen Soldaten ins Visier genommen, beide mit einer Maschinenpistole im Anschlag. Einer von ihnen ist offenbar der Ranghöhere. An seinem Kittel prangen diverse Auszeichnungen und Embleme. Er spricht ungarisch und fragt zuerst Jànos: „Wie heißt du?“ „Wieso musst du das wissen?“
„Ich fragen, nicht du, gib mir deinen Namen.“ „Ich heiße Jànos.“ Danach fragt er Làyos, der spontan seinen Namen nennt. Der Sprecher fordert die zwei Burschen auf ihnen zu folgen.
Csilla findet diese Aktion der Sowjetsoldaten ziemlich arrogant, deshalb fragt sie ärgerlich: „Was habt ihr vor mit meinen Schulkameraden, die haben doch nichts verbrochen.“
„Das geht dich nichts an, zudem kannst du ja hierbleiben“, lautet die Antwort des Soldaten.
Dem Mädchen gehen ihre schwachen Nerven durch, deshalb fängt sie an zu schreien: „Die führen zwei von meinen Schulkameraden ab, vielleicht werden die erschossen?“
Ungeachtet dessen marschieren die zwei Soldaten mit den beiden Jungs weg vom Heldenplatz und niemand von den Anwesenden getraut sich etwas zu unternehmen.
Schon nach kurzer Zeit treffen sie auf ein russisches Transportfahrzeug, das schon recht angefüllt ist mit jungen Zivilisten.
„Steigt ein“, kommandiert der Soldat, der ungarisch spricht.
„Was habt ihr mit uns vor?“, fragt erneut Jànos.
„Ich habe dir schon einmal gesagt, ich rede, nicht du.“
Làyos und Jànos besteigen das Fahrzeug, schauen sich um und erkennen unter den anwesenden Passagieren drei weitere Kollegen, die mit ihnen im gleichen Haus zur Schule gehen, aber nicht in der gleichen Klasse sind. Mit Kopfnicken und einem Wink mit der Hand grüßt man sich flüchtig.
Auch die zwei Soldaten steigen ein, sodass der Transporter praktisch voll besetzt ist.
Der Militärsprecher stellt sich vorne neben dem Fahrer auf, dann beginnt er zu reden: „Was sich das ungarische Volk hier und heute erlaubt, ist ein Affront gegen unsere politischen Abmachungen, deshalb hat die sowjetische Führung beschlossen mit militärischem Einsatz wieder Ruhe und Ordnung ins Land zu bringen, dabei werdet ihr uns helfen. Die Fahrt geht also zum Güterbahnhof, wo ihr die bereitstehenden Eisenbahnwagen entladen müsst. Weitere Befehle werden folgen.“
Unter den Fahrgästen wird rege getuschelt und wieder ist es Jànos, der in lautem Ton die Frage stellt: „Wann können wir dann nach Hause zurückkehren?“
„Ach, was bist du unbequem oder hörst du derart schlecht, dass du meine Erklärungen nicht wahrnimmst? Ich habe doch gesagt: Weitere Befehle werden folgen.“ Làyos räuspert sich, dabei gibt er seinem Freund den Rat, sich still zu halten, ansonsten falle er dem russischen Soldaten negativ auf, was unangenehme Folgen haben könnte.
„Eigentlich hast du recht.“
Der Transporter setzt sich darauf in Bewegung und durchquert die verkehrsarme Stadt Richtung Güterbahnhof. Dort angekommen sieht man schon früh die bereitstehenden Güterwagen, die zu entladen sind. Die Waggons sind zum Teil geschlossen, zum Teil aber auch offen, mit tarnfarbenen Planen bedeckt. An den Rampen stehen leere Camions, die das Kriegsmaterial von den Zügen aufnehmen sollen.
Die jungen Mitfahrenden verlassen das Transportfahrzeug und werden in separate Gruppen eingeteilt. Die Mannschaft mit Làyos und Jànos wird einem russischen Offizier zugeteilt, der dem Aussehen nach einen angenehmen Eindruck hinterlässt.
„Gott haben wir Glück, dass wir nicht diesem arroganten Transportbegleiter zugeteilt werden.“
Der russische Offizier begrüßt seine Truppe in seiner Landessprache. Làyos und Jànos verstehen recht viel, da in der Schule Russisch ein Pflichtfach ist. Der Offizier erklärt kurz den Ablauf dieses Einsatzes: „Ihr werdet die vorderen geschlossenen Waggons entladen. Je zwei Mann heben die aufgestapelten Kisten hoch und tragen sie zu den bereitstehenden Camions. Ist ein Fahrzeug voll beladen, transportieren wir die Ware an einen bestimmten Ort, weitere Befehle werden folgen.“
Die sechs Burschen, so viele hat man ihrer Gruppe zugeteilt, machen sich an die Arbeit. Der Offizier öffnet die Schiebetür am vordersten Güterwagen, dabei werden die aufgestapelten Transportkisten sichtbar. Die vorderste Reihe ist nur bis etwa Kopfhöhe geladen, damit man sie überhaupt herausnehmen kann.
Làyos und Jànos versuchen eine dieser Kisten wegzutragen, doch schon früh wird ihnen bewusst, mit was für Gewichten sie sich hier herumschlagen müssen.
„Passt auf“, ruft der russische Offizier, „die Ware ist sehr, sehr explosiv, also geht vorsichtig damit um.“
Tatsächlich haben die Studenten Mühe mit dem Wegtragen der Kisten; Jànos etwas mehr als Làyos, alias Szállító. Die Nebenbeschäftigung beim Bäcker formte den Ausläufer zu einer athletischen Gestalt.
Mehlsäcke tragen, mit dem Fahrrad Hauslieferungen ausführen, und das zum Anfang meist mit einer voll beladenen Rückenzeine, all das gab dem Ausläufer eine respektable Kondition.
Gott sei Dank haben die Kisten recht große Griffe, so kann man sie gut tragen, ohne dass sie einem in der Hand einschneiden. „Was glaubst du, was da wohl drinnen ist?“, wundert sich Jànos.
Làyos tippt auf Munition oder Landminen; irgend so etwas muss es sein, wenn es so hochexplosiv sein soll.
Nach und nach füllen die Ladungen den Camion voll, zugleich macht der russische Offizier Bestandaufnahme. Nach einer gewissen Anzahl Kisten gebietet er Einhalt und erklärt: „Wir fahren nun an einen bestimmten Ort, wo ihr die Ware wieder entladen werdet. Bei der Wegfahrt setzen sich fünf Mann auf die Ladebrücke des Lastwagens, du“, dabei zeigt er mit dem Zeigefinger auf Làyos, „du steigst zu mir in die Fahrkabine.“
Gemäß diesem Befehl setzen sie sich auf und in das Transportfahrzeug. Der Offizier setzt sich ans Lenkrad und startet den Motor. Schon bald beginnt er ein Gespräch mit Làyos. „Wie heißt du?“
„Ich heiße Làyos“, entgegnet ihm der Ausläufer.
„Dann heißen wir beide fast gleich, mein Name ist Aljoscha.“
„Was ist dein Beruf?“, fragt er weiter.
„Ich bin noch Student am Gymnasium.“
„Von deinem Körperbau her siehst du aber gar nicht wie ein Student aus.“
Làyos erzählt dem Russen, was er in seiner Freizeit tut.
„Jetzt erkenne und begreife ich, wieso du so sportlich gebaut bist“, dann fährt er fort, „hier in dieser Stadt und in eurem Land bahnt sich eine Tragödie an.“
„Wie soll ich das verstehen?“, fragt Làyos.
„Dein Volk lehnt sich gegen die kommunistische Diktatur der Regierung und gegen die sowjetische Besatzungsmacht auf.“
„Das weiß ich, darum fordern meine älteren Mitschüler und unsere Studenten aus den Universitäten demokratische Veränderungen. Aus diesem Grund sind zurzeit auch unsere Schulen geschlossen, mehr weiß ich auch nicht.“
„Was glaubst du, was wir hier transportieren?“, fährt der Russe fort.
„Ich denke, das ist reines Kriegsmaterial.“
„So ist es und es wird in Kürze auch eingesetzt, zum Leidwesen deines Volkes.“
„Mein Gott, was kommt da wohl alles auf uns zu?“
„Bestimmt nichts Schönes; die sowjetische Führung lässt nicht mit sich spaßen.“
Nach diesem Gespräch folgt langes Schweigen. Der Lastwagen nähert sich darauf einer Allmende am Stadtrand, wo eine große Anzahl von Militärfahrzeugen bereitsteht. Der Offizier parkt das Fahrzeug an einer Rampe, steigt aus und befiehlt die Ladung hier zu deponieren. „Dawai, dawai.“ Nach zwei solchen Materialtransporten wird es langsam Mittag.
Aljoscha, der russische Offizier, weist auf eine bereitstehende Feldküche hin und erklärt: „Dort kann jeder von euch einen warmen Teller Suppe holen, dazu gibt es Maisbrot und Wasser.“
Müde schlurfen die jungen Helfer zur Essensausgabe und holen ihre Portionen ab. Làyos kommt mit einem Blechnapf Suppe, Wasser und Brot zum Transportfahrzeug zurück. Der Offizier sitzt in der Führerkabine hinter dem Lenkrad und verzehrt seine mitgebrachten Speisen. Er winkt Làyos zu und fordert ihn auf neben ihm Platz zu nehmen. Der junge Magyar nimmt die Einladung dankend an. Beim Besteigen des Camions verschüttet er fast die Hälfte seiner übel riechenden Kohlsuppe. Aljoscha lächelt ihn verschmitzt an und fragt, ob ihm die Suppe schmeckt.
„Sie ist nicht besonders gut“, sagt Làyos, dabei verzieht er seinen Mund, als hätte er eben in einen unreifen sauren Apfel gebissen.
Der Russe isst da schon was Besseres. Brotscheiben, die einerseits mit Fleisch und anderseits mit Käse bestückt sind. Neben ihm auf dem Führersitz thront eine Feldflasche, gefüllt mit Tee, der offenbar, jedenfalls dem Geruch nach, mit reichlich Wodka verdünnt wurde. (Vielleicht ist es aber auch reiner Wodka verdünnt mit Wasser)
„Hast du Lust, etwas anderes zu essen als diese Kohlsuppe?“, fragt der Offizier seinen Mitfahrer.
„Ja, wenn du etwas übrig hast von deiner Ration, koste ich gerne davon.“
Der Russe schneidet mit einem Sackmesser ein Stück von seinem Käsebrot weg und reicht es dem jungen Gymnasiasten.
Làyos bedankt sich für die Gabe, doch als der Offizier ihm die Feldflasche reicht, winkt er freundlich ab und meint: „Ich trinke doch lieber nur Wasser, aber recht vielen Dank für das Käsebrot.“
Die andern fünf Burschen sitzen unweit des Camions und rätseln, wieso wohl Làyos alias Szállító bevorzugt behandelt wird.
„Reine Sympathie“, glaubt Jànos zu wissen, dabei kippt er den Rest aus seinem Blechnapf in ein Kiesbett. „Das würde bei mir zu Hause nicht einmal unser Hund fressen. Pfui Teufel.“
Seine Kumpane sind der gleichen Meinung, doch gibt es immerhin zwei davon, die diese Brühe auslöffeln.
Im Camion fragt Làyos den Russen: „Warum müssen meine Kameraden da draußen essen und ich sitze hier bei dir?“
„Wir heißen fast gleich, wie ich dir schon gesagt habe, zudem bist du mir von Anfang an angenehm aufgefallen; wir wären früher sicher Freunde geworden, wenn es sich so ergeben hätte.“
„Ich bin ja aber viel jünger als du“, meint Làyos.
„Darum habe ich ja auch gesagt, wenn es sich so ergeben hätte.“
Nach diesem Gespräch greift der Russe mit seiner linken Hand an die rechte Brusttasche, öffnet sie am Mittelknopf und holt daraus ein Päckchen Zigaretten. Er klopft sich zwei Glimmstängel hervor, einen steckt er zwischen seine Lippen und den anderen reicht er dem Ungarn. Dieser lehnt jedoch wieder dankend ab, was für den Offizier unbegreiflich ist.
Mit ungewöhnlicher warmer Einstrahlung schickt die Sonne ihre Strahlen auf die Hauptstadt Ungarns. Aus den Gassen und Straßen flimmert die Hitze himmelwärts, als läge glühende Kohle auf deren Boden; als schriebe man einen Hitzetag im Monat August. Einzig der Geruch von welkenden Baumblättern, die in schönsten Farben Gehwege und Grünflächen bedecken, künden eindeutig an, es ist Herbst, nein, eigentlich schon Spätherbst. Wer würde da schon vermuten, dass sich an einem solch schönen Herbsttag in Budapest grauenvolles Unheil zusammenbraut.
Làyos, genannt Szállító (auf Ungarisch „der Ausläufer“) schlendert mit Unbehagen von einer Klavierstunde nach Hause. Unbehagen, weil in letzter Zeit in seinem Freundeskreis sowie auch in der Schule über nichts anderes gesprochen wird als über die prekäre politische Lage ihres Heimatlandes.
Làyos ist siebzehn Jahre alt und Gymnasiast. Der Schulbetrieb ist momentan eingestellt. In Ungarn brodelt es; dabei spricht man sogar von einem Volksaufstand.
Die Lage ist angespannt und verbreitet unter der Bevölkerung Unsicherheit und Angst. Làyos denkt viel darüber nach, dabei gehen ihm die grässlichsten Bilder durch den Kopf, wie man sie aus dem Zweiten Weltkrieg kennt.
In der Nähe des Josef-Bem-Platzes, wo er bei seinen Eltern wohnt, zirkulieren Lastwagen, auf deren Ladebrücken vorwiegend junge Leute revolutionäre Lieder sowie die Nationalhymne singen. Über die Margaretenbrücke marschiert eine Unzahl von Demonstranten zur Buda-Seite. Làyos schaut dem Treiben aufmerksam zu und stellt fest, dass sich immer mehr Leute den Demonstranten anschließen. Aus den Fenstern der Stadtwohnungen schwenken Bewohner die Landesfahnen und fordern die Anführer in lauten Sprechchören auf, trotz Demonstrationsverbotes, das am Mittag durch das Radio bekannt gegeben wurde, die Demonstration weiterzuführen. Auch die Studenten kümmert dieses Verbot wenig, sie möchten in einem 16-Punkte-Programm ihre Forderungen durchsetzen. Làyos ist überzeugt, dies ist der einzig richtige Weg, darum ist er entschlossen mit Gleichgesinnten diese Reformen durchzusetzen.
Zuerst will er aber zu seinen Eltern nach Hause. Dort angekommen, betritt er das Haus, geht direkt in die Wohnstube und begrüßt seine Eltern sowie seinen kleinen Bruder. Hier herrscht jedoch Niedergeschlagenheit unter den Anwesenden. Làyos möchte wissen, weshalb sie so deprimiert dasitzen, darum fragt er den Vater: „Was habt ihr, was ist bloß mit euch los?“
Mit besorgtem Gesicht schaut ihn sein Vater an und spricht: „Auf dem Josef-Bem-Platz tut sich was, die Studenten der technischen Universität organisieren angeblich eine friedliche Großdemonstration, die nach demokratischen Veränderungen ruft.“ Làyos meint dazu, dass eine friedliche Demonstration nichts Außergewöhnliches sei, vor allem aber würde sie der Freiheit dienen.
„So wie es aber aussieht, gewähren uns die Sowjets sowie unser Parteichef Ernö Gerö diese Freiheit, wie wir sie wünschen, niemals“, entgegnet ihm sein Vater. „Pressefreiheit, Austritt aus dem Warschauer Pakt, das sind Forderungen, auf die die Russen nie eingehen werden, ich denke, das Ganze ist brandheiß und führt unter Umständen zu einer Revolution.“
In der Zwischenzeit nach diesem Gespräch sieht man auf den Straßen immer mehr Leute, die sich in Richtung Josef-Bem-Platz bewegen.
„Vater, ich habe mich entschlossen da mitzumachen.“ Dieser versucht ihn jedoch daran zu hindern, was ihm jedoch nicht gelingt.
„In unserer Klasse, im Gymnasium, wird schon lange über einen ungarischen Volksaufstand geredet, dabei bin ich überzeugt, dass ich all meine Klassenkameraden auf diesem Platz antreffen werde. Ich weiß nicht, was da Besonderes dabei sein soll, wenn unser Volk nach mehr Freiheit ruft.“
Der Vater ist da aber anderer Meinung, doch gibt er seinem Sohn den Rat, wenn er schon dabei sein will, soll er sich bei dieser Veranstaltung defensiv verhalten.
Die Mutter schaut besorgt auf ihren Jungen und meint: „Musst du da unbedingt dabei sein?“
„Macht euch keine Sorgen, ich beobachte das Vorgehen nur, dabei halte ich mich da raus.“
Die Eltern wiegen nachdenklich ihre Köpfe, der jüngere Bruder weint und ruft: „Bleib doch da, Làyos.“
Dieser hört nicht auf die guten Ratschläge, zieht sich eine Jacke über und geht auf die Straße.
Unterwegs trifft er Jànos, der mit ihm in der gleichen Klasse ist. Dieser ruft lauthals: „Der Freiheitskampf beginnt. Gegen diese kommunistische Diktatur der Regierung und gegen die sowjetische Besatzungsmacht müssen wir uns wehren.“
Bald schon sind sie am Josef-Bem-Platz, wo sich eine Vielzahl von Demonstranten versammelt hat.
Hier werden auch die ersten Forderungen der aufständischen „forradalmar-Studenten“ bekannt gegeben. Kurz darauf zieht ein Teil der Demonstranten zum Parlamentsgebäude. Der Großteil aber marschiert zum Rundfunkgebäude, das auf der Pester-Donauseite steht. Làyos und Jànos schließen sich dieser Gruppe an. Hier möchte man über den staatlichen Sender die Forderungen weiter verbreiten.
Kaum sind die Leute aber vor dem Radiohaus eingetroffen, wird aus dem Gebäude planlos auf sie geschossen.
Làyos schreit: „Verdammt, jetzt schießen diese Hunde auf die eigenen Landsleute!“
„Komm, wir verschwinden“, stottert mit ängstlicher Stimme sein Freund.
„Warte noch einen Augenblick“, meint Làyos, „ich glaube, da tut sich was.“
In der Tat sind viele Demonstranten auch mit Waffen ausgerüstet, die sie von ungarischen Soldaten bekommen haben. Sie setzen sich zur Wehr und stürmen das Gebäude.
Später am Abend versammeln sich etwa zweihunderttausend Menschen vor dem Parlament.
Die beiden Gymnasiasten sind auch wieder dabei. Man plädiert für die uneingeschränkte Pressefreiheit, freie Wahlen, mehr Unabhängigkeit von den Sowjets und Imre Nagy zum Regierungschef.
Nagy, der die Leute auffordert nach Hause zu gehen, wird überraschend in dieser Nacht zum Ministerpräsident gewählt.
Nach und nach ziehen sich die Demonstranten zurück. Einzelne Gruppen kehren in Gasthäuser ein, wo man unter Umständen noch einen freien Platz ergattern kann.
An Diskussionsstoff fehlt es ihnen sicher nicht.
Làyos und Jànos verabschieden sich von dieser Politszene, dabei vereinbaren sie sich morgen am Heldenplatz erneut zu treffen. Bei seinen Eltern zu Hause wird Làyos mit beklommener Angst und Neugier erwartet und befragt.
„Wo bist du überall gewesen?“, wird er von seinem Vater gefragt. Làyos erzählt, was er gesehen hat, und als er berichtet, wie aus dem Rundfunkgebäude planlos in die Menschenmenge geschossen wurde, zieht seine Mutter den Atem tief ein, zugleich hält sie ihre rechte Hand vor ihren Mund und wird kreidebleich.
„Was musst du dich in diesem Tumult aufhalten, es wäre ja durchaus möglich gewesen, dass du in diesem Kugelregen umgekommen wärst.“
„Ach nein, ich und Jànos hielten uns auf Distanz, sodass wir nie in die Gefahrenzone eintraten.“
Die Eltern machen sich aber weiterhin große Sorgen um ihren Jungen und raten ihm sich da rauszuhalten. Der Vater ist fest davon überzeugt, dass die Lage nach diesem Volksaufstand eskalieren wird und dass dadurch die Schießerei und das Gemetzel in den Straßen von Budapest erst richtig in Gang kommen werden. Làyos versucht seine Eltern zu beruhigen, was aber ein schwieriges Unterfangen ist und kaum mit Nachhaltigkeit endet. Deshalb setzt sich Làyos im Nebenzimmer ans Klavier und übt das Stück der Ballade Nummer eins in G-Moll von Frédèric Chopin.
Vater und Mutter reden noch lange über die Vorkommnisse in dieser Stadt, dabei schauen sie mit Besorgnis aus den Fenstern, einer ungewissen Zukunft entgegen.
Am nächsten Tag verlässt Làyos gleich nach dem Frühstück das Haus. Wie abgemacht trifft er sich mit Jànos am Heldenplatz. Unterwegs begegnet er Csilla, einem Mädchen aus seiner Parallelklasse.
„Hallo Szállító“, so wird Làyos von seinen Kameraden oft gerufen, weil er in seiner Freizeit bei einem Bäcker das Brot austrägt und so die Kundschaft beliefert, damit er sein Taschengeld etwas aufbessern kann.
Am Heldenplatz treffen sie auf Jànos. Man begrüßt sich kameradschaftlich. Es hat sich schon wieder eine beachtliche Menschenmenge angesammelt. Neu mischen sich nun auch Soldaten der sowjetischen Besatzungsarmee unter die Leute. Jànos weiß und informiert, dass Imre Nagy in der vergangenen Nacht überraschend vom Zentralkomitee der Werktätigen zum Ministerpräsidenten berufen wurde.
„Das wäre doch schon mal positiv“, meint Làyos.
Doch haben zu diesem Zeitpunkt die Russen beschlossen militärisch einzugreifen.
Ungeachtet dessen haben die (forradalmar) Studenten beschlossen das Stalin-Denkmal zu Fall zu bringen. Auch Làyos, Jànos und Csilla beteiligen sich an dieser Aktion. Unter frenetischem Beifall wird die Statue bis zu den Stiefeln, die man mit Schweißbrennern vom übrigen Leib trennt, niedergerissen. Mit einem Traktor wird sie dann ohne Kopf, den man mit Vorschlaghämmern und Schuhwerk traktiert, vor das Parlamentsgebäude geschleift.
In der Zwischenzeit donnern bereits die ersten russischen Panzer durch die Straßen der Hauptstadt. Sie eröffnen das Feuer und beschädigen Gebäude sowie Straßenbahnen, auch werden dabei viele Zivilisten getötet. Trotzdem gibt es viele, die mutig mit Molotowcocktails und anderen schweren Utensilien versuchen diese Stahlungeheuer zu vernichten.
Am 30. Oktober verkündet Nagy das Ende der Einparteienherrschaft und bildet eine Mehrparteienregierung. Auf diesen Akt lassen sich die Russen über einen Abzug ihrer Truppen ein, bereiten sich aber für einen neuen effizienteren Angriff vor.
Am 4. November überrollt die russische Walze dann die Hauptstadt Ungarns und es toben heftige Kämpfe. Auch Csilla, Làyos und Jànos halten sich wieder in der Stadt auf und betrachten das Geschehen.
Auf dem Heldenplatz werden sie von zwei russischen Soldaten ins Visier genommen, beide mit einer Maschinenpistole im Anschlag. Einer von ihnen ist offenbar der Ranghöhere. An seinem Kittel prangen diverse Auszeichnungen und Embleme. Er spricht ungarisch und fragt zuerst Jànos: „Wie heißt du?“ „Wieso musst du das wissen?“
„Ich fragen, nicht du, gib mir deinen Namen.“ „Ich heiße Jànos.“ Danach fragt er Làyos, der spontan seinen Namen nennt. Der Sprecher fordert die zwei Burschen auf ihnen zu folgen.
Csilla findet diese Aktion der Sowjetsoldaten ziemlich arrogant, deshalb fragt sie ärgerlich: „Was habt ihr vor mit meinen Schulkameraden, die haben doch nichts verbrochen.“
„Das geht dich nichts an, zudem kannst du ja hierbleiben“, lautet die Antwort des Soldaten.
Dem Mädchen gehen ihre schwachen Nerven durch, deshalb fängt sie an zu schreien: „Die führen zwei von meinen Schulkameraden ab, vielleicht werden die erschossen?“
Ungeachtet dessen marschieren die zwei Soldaten mit den beiden Jungs weg vom Heldenplatz und niemand von den Anwesenden getraut sich etwas zu unternehmen.
Schon nach kurzer Zeit treffen sie auf ein russisches Transportfahrzeug, das schon recht angefüllt ist mit jungen Zivilisten.
„Steigt ein“, kommandiert der Soldat, der ungarisch spricht.
„Was habt ihr mit uns vor?“, fragt erneut Jànos.
„Ich habe dir schon einmal gesagt, ich rede, nicht du.“
Làyos und Jànos besteigen das Fahrzeug, schauen sich um und erkennen unter den anwesenden Passagieren drei weitere Kollegen, die mit ihnen im gleichen Haus zur Schule gehen, aber nicht in der gleichen Klasse sind. Mit Kopfnicken und einem Wink mit der Hand grüßt man sich flüchtig.
Auch die zwei Soldaten steigen ein, sodass der Transporter praktisch voll besetzt ist.
Der Militärsprecher stellt sich vorne neben dem Fahrer auf, dann beginnt er zu reden: „Was sich das ungarische Volk hier und heute erlaubt, ist ein Affront gegen unsere politischen Abmachungen, deshalb hat die sowjetische Führung beschlossen mit militärischem Einsatz wieder Ruhe und Ordnung ins Land zu bringen, dabei werdet ihr uns helfen. Die Fahrt geht also zum Güterbahnhof, wo ihr die bereitstehenden Eisenbahnwagen entladen müsst. Weitere Befehle werden folgen.“
Unter den Fahrgästen wird rege getuschelt und wieder ist es Jànos, der in lautem Ton die Frage stellt: „Wann können wir dann nach Hause zurückkehren?“
„Ach, was bist du unbequem oder hörst du derart schlecht, dass du meine Erklärungen nicht wahrnimmst? Ich habe doch gesagt: Weitere Befehle werden folgen.“ Làyos räuspert sich, dabei gibt er seinem Freund den Rat, sich still zu halten, ansonsten falle er dem russischen Soldaten negativ auf, was unangenehme Folgen haben könnte.
„Eigentlich hast du recht.“
Der Transporter setzt sich darauf in Bewegung und durchquert die verkehrsarme Stadt Richtung Güterbahnhof. Dort angekommen sieht man schon früh die bereitstehenden Güterwagen, die zu entladen sind. Die Waggons sind zum Teil geschlossen, zum Teil aber auch offen, mit tarnfarbenen Planen bedeckt. An den Rampen stehen leere Camions, die das Kriegsmaterial von den Zügen aufnehmen sollen.
Die jungen Mitfahrenden verlassen das Transportfahrzeug und werden in separate Gruppen eingeteilt. Die Mannschaft mit Làyos und Jànos wird einem russischen Offizier zugeteilt, der dem Aussehen nach einen angenehmen Eindruck hinterlässt.
„Gott haben wir Glück, dass wir nicht diesem arroganten Transportbegleiter zugeteilt werden.“
Der russische Offizier begrüßt seine Truppe in seiner Landessprache. Làyos und Jànos verstehen recht viel, da in der Schule Russisch ein Pflichtfach ist. Der Offizier erklärt kurz den Ablauf dieses Einsatzes: „Ihr werdet die vorderen geschlossenen Waggons entladen. Je zwei Mann heben die aufgestapelten Kisten hoch und tragen sie zu den bereitstehenden Camions. Ist ein Fahrzeug voll beladen, transportieren wir die Ware an einen bestimmten Ort, weitere Befehle werden folgen.“
Die sechs Burschen, so viele hat man ihrer Gruppe zugeteilt, machen sich an die Arbeit. Der Offizier öffnet die Schiebetür am vordersten Güterwagen, dabei werden die aufgestapelten Transportkisten sichtbar. Die vorderste Reihe ist nur bis etwa Kopfhöhe geladen, damit man sie überhaupt herausnehmen kann.
Làyos und Jànos versuchen eine dieser Kisten wegzutragen, doch schon früh wird ihnen bewusst, mit was für Gewichten sie sich hier herumschlagen müssen.
„Passt auf“, ruft der russische Offizier, „die Ware ist sehr, sehr explosiv, also geht vorsichtig damit um.“
Tatsächlich haben die Studenten Mühe mit dem Wegtragen der Kisten; Jànos etwas mehr als Làyos, alias Szállító. Die Nebenbeschäftigung beim Bäcker formte den Ausläufer zu einer athletischen Gestalt.
Mehlsäcke tragen, mit dem Fahrrad Hauslieferungen ausführen, und das zum Anfang meist mit einer voll beladenen Rückenzeine, all das gab dem Ausläufer eine respektable Kondition.
Gott sei Dank haben die Kisten recht große Griffe, so kann man sie gut tragen, ohne dass sie einem in der Hand einschneiden. „Was glaubst du, was da wohl drinnen ist?“, wundert sich Jànos.
Làyos tippt auf Munition oder Landminen; irgend so etwas muss es sein, wenn es so hochexplosiv sein soll.
Nach und nach füllen die Ladungen den Camion voll, zugleich macht der russische Offizier Bestandaufnahme. Nach einer gewissen Anzahl Kisten gebietet er Einhalt und erklärt: „Wir fahren nun an einen bestimmten Ort, wo ihr die Ware wieder entladen werdet. Bei der Wegfahrt setzen sich fünf Mann auf die Ladebrücke des Lastwagens, du“, dabei zeigt er mit dem Zeigefinger auf Làyos, „du steigst zu mir in die Fahrkabine.“
Gemäß diesem Befehl setzen sie sich auf und in das Transportfahrzeug. Der Offizier setzt sich ans Lenkrad und startet den Motor. Schon bald beginnt er ein Gespräch mit Làyos. „Wie heißt du?“
„Ich heiße Làyos“, entgegnet ihm der Ausläufer.
„Dann heißen wir beide fast gleich, mein Name ist Aljoscha.“
„Was ist dein Beruf?“, fragt er weiter.
„Ich bin noch Student am Gymnasium.“
„Von deinem Körperbau her siehst du aber gar nicht wie ein Student aus.“
Làyos erzählt dem Russen, was er in seiner Freizeit tut.
„Jetzt erkenne und begreife ich, wieso du so sportlich gebaut bist“, dann fährt er fort, „hier in dieser Stadt und in eurem Land bahnt sich eine Tragödie an.“
„Wie soll ich das verstehen?“, fragt Làyos.
„Dein Volk lehnt sich gegen die kommunistische Diktatur der Regierung und gegen die sowjetische Besatzungsmacht auf.“
„Das weiß ich, darum fordern meine älteren Mitschüler und unsere Studenten aus den Universitäten demokratische Veränderungen. Aus diesem Grund sind zurzeit auch unsere Schulen geschlossen, mehr weiß ich auch nicht.“
„Was glaubst du, was wir hier transportieren?“, fährt der Russe fort.
„Ich denke, das ist reines Kriegsmaterial.“
„So ist es und es wird in Kürze auch eingesetzt, zum Leidwesen deines Volkes.“
„Mein Gott, was kommt da wohl alles auf uns zu?“
„Bestimmt nichts Schönes; die sowjetische Führung lässt nicht mit sich spaßen.“
Nach diesem Gespräch folgt langes Schweigen. Der Lastwagen nähert sich darauf einer Allmende am Stadtrand, wo eine große Anzahl von Militärfahrzeugen bereitsteht. Der Offizier parkt das Fahrzeug an einer Rampe, steigt aus und befiehlt die Ladung hier zu deponieren. „Dawai, dawai.“ Nach zwei solchen Materialtransporten wird es langsam Mittag.
Aljoscha, der russische Offizier, weist auf eine bereitstehende Feldküche hin und erklärt: „Dort kann jeder von euch einen warmen Teller Suppe holen, dazu gibt es Maisbrot und Wasser.“
Müde schlurfen die jungen Helfer zur Essensausgabe und holen ihre Portionen ab. Làyos kommt mit einem Blechnapf Suppe, Wasser und Brot zum Transportfahrzeug zurück. Der Offizier sitzt in der Führerkabine hinter dem Lenkrad und verzehrt seine mitgebrachten Speisen. Er winkt Làyos zu und fordert ihn auf neben ihm Platz zu nehmen. Der junge Magyar nimmt die Einladung dankend an. Beim Besteigen des Camions verschüttet er fast die Hälfte seiner übel riechenden Kohlsuppe. Aljoscha lächelt ihn verschmitzt an und fragt, ob ihm die Suppe schmeckt.
„Sie ist nicht besonders gut“, sagt Làyos, dabei verzieht er seinen Mund, als hätte er eben in einen unreifen sauren Apfel gebissen.
Der Russe isst da schon was Besseres. Brotscheiben, die einerseits mit Fleisch und anderseits mit Käse bestückt sind. Neben ihm auf dem Führersitz thront eine Feldflasche, gefüllt mit Tee, der offenbar, jedenfalls dem Geruch nach, mit reichlich Wodka verdünnt wurde. (Vielleicht ist es aber auch reiner Wodka verdünnt mit Wasser)
„Hast du Lust, etwas anderes zu essen als diese Kohlsuppe?“, fragt der Offizier seinen Mitfahrer.
„Ja, wenn du etwas übrig hast von deiner Ration, koste ich gerne davon.“
Der Russe schneidet mit einem Sackmesser ein Stück von seinem Käsebrot weg und reicht es dem jungen Gymnasiasten.
Làyos bedankt sich für die Gabe, doch als der Offizier ihm die Feldflasche reicht, winkt er freundlich ab und meint: „Ich trinke doch lieber nur Wasser, aber recht vielen Dank für das Käsebrot.“
Die andern fünf Burschen sitzen unweit des Camions und rätseln, wieso wohl Làyos alias Szállító bevorzugt behandelt wird.
„Reine Sympathie“, glaubt Jànos zu wissen, dabei kippt er den Rest aus seinem Blechnapf in ein Kiesbett. „Das würde bei mir zu Hause nicht einmal unser Hund fressen. Pfui Teufel.“
Seine Kumpane sind der gleichen Meinung, doch gibt es immerhin zwei davon, die diese Brühe auslöffeln.
Im Camion fragt Làyos den Russen: „Warum müssen meine Kameraden da draußen essen und ich sitze hier bei dir?“
„Wir heißen fast gleich, wie ich dir schon gesagt habe, zudem bist du mir von Anfang an angenehm aufgefallen; wir wären früher sicher Freunde geworden, wenn es sich so ergeben hätte.“
„Ich bin ja aber viel jünger als du“, meint Làyos.
„Darum habe ich ja auch gesagt, wenn es sich so ergeben hätte.“
Nach diesem Gespräch greift der Russe mit seiner linken Hand an die rechte Brusttasche, öffnet sie am Mittelknopf und holt daraus ein Päckchen Zigaretten. Er klopft sich zwei Glimmstängel hervor, einen steckt er zwischen seine Lippen und den anderen reicht er dem Ungarn. Dieser lehnt jedoch wieder dankend ab, was für den Offizier unbegreiflich ist.