Mondsucht

Mondsucht

Helen Hain


EUR 16,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 232
ISBN: 978-3-99048-978-9
Erscheinungsdatum: 20.07.2017
In dem malerischen Städtchen Whitby sterben zwei Touristen, nur wenige Tage später wird erneut eine Leiche gefunden. Ermittler Andrew McGriffin muss bald erkennen, dass ihn dieser Fall an seine Grenzen bringt - an die Grenzen seiner Vorstellungkraft.
KAPITEL 1

Halb wahnsinnig vor Angst rannte eine junge Frau durch den nächtlichen Wald. Der Mond streute fades Licht durch das dunkle Nadelgehölz. Sie schaute immer wieder nach hinten, doch sie konnte ihren Verfolger nicht mehr sehen. Blut tropfte von ihrem Körper. Kleine Punkte am Boden, welche ihren Weg wie Brotkrümeln verrieten.
Ihr zerrissenes Hemdchen flatterte. Abgesehen davon trug sie nur einen Slip. Vögel flogen erschrocken aus ihren Nestern in den Baumgipfeln. Die Frau zwängte sich durch Büsche hindurch.
Warum hilft mir niemand?
Ihre Brust schmerzte, sie hatte ihre Füsse wund gelaufen. Seitenstiche quälten sie. Mit der Hand seitlich an den Bauch gestemmt, passte sie einen Moment nicht auf, stolperte über eine Wurzel und fiel eine Böschung hinunter. Der Fall schürfte ihre Beine auf. Ein dumpfer Aufprall stoppte ihren Fall. Schluchzend versuchte sie, um Hilfe zu rufen, doch die Wörter blieben ihr im Hals stecken. Das Gesicht war bedeckt mit Blättern sowie nasser Erde. Es kam ihr vor, als hätte sie einen kurzen Augenblick das Bewusstsein verloren. Zehn Sekunden lag sie auf dem feuchten Waldboden. Mutlos und verloren. Mit dem Handrücken strich sie sich über den Mund, um den Schlamm loszuwerden. Der Geruch von blutverschmiertem Dreck blieb an ihr kleben. Sie war zu schwach, um sich aufzuraffen, aber sie musste weiterlaufen. Ihre Beine fühlten sich wie Blei an. Der linke Fuß blieb im Matsch stecken. Verzweifelt zog sie mit den Händen an ihrem Bein um es aus dem Schlamm herauszuziehen. Sie fühlte sich wie ein gefangenes Tier. Wie ein Bär, der in eine Bärenfalle getappt ist und auf den Gnadenstoß des Jägers wartet.
Jetzt ist es vorbei.
Verkrampft kniff sie die Augen zu, um den wachsenden Schmerz zu unterdrücken. Der Knöchel schien verstaucht zu sein. Sie biss ihre Zähne zusammen und musste all ihre Kraft einsetzen, um das Bein freizubekommen. Mit der Hand stützte sie sich auf und wischte die verschmierten Knie ab. Beim Auftreten schmerzte ihr Fuß sehr. Ihre Chance zu entkommen hatte sich nach dem Sturz drastisch verschlechtert. Eine Tatsache, die ihr nur allzu bewusst war. Aus heiterem Himmel schossen ihr die Worte ihres Mathelehrers aus der Universität durch den Kopf:
Es gibt keine unlösbaren Aufgaben. Manchmal müssen wir nur die Richtung ändern, um ans Ziel zu gelangen.
Die Richtung ändern …
Sie blickte den Hang hinauf. Er war zu steil. Die Höhe betrug etwa fünf Meter und alles sah rutschig aus. Ein erfolgloser Versuch hochzuklettern bestätigte ihren ersten Eindruck. Ein Zurück war unmöglich mit ihrem Knöchel. Es musste also einen anderen Weg geben. Nach einigen Metern legte sie zwangsweise eine Pause ein. Die Schwellung am Fußgelenk war groß. Als begeisterte Sportlerin kannte sie sich mit Verletzungen dieser Art gut aus. Erst ein Jahr zuvor hatte sie sich den anderen Fuß verstaucht. Im Sport wird man bei Verletzung ausgetauscht. Nicht alles im Leben kann einfach so ausgetauscht werden. Jedoch brauchte sie ihren unbeugsamen Kampfgeist. Genau diesen Siegeswillen, den sie immer ihrer Volleyballmannschaft entgegengebracht hatte. Der Mannschaftskapitän muss sein Team motivieren. Durchhalten und weitermachen.
Reiß dich zusammen!
Ein flüchtiger Blick nach hinten. Ihr Verfolger war noch immer nicht sichtbar. Plötzlich fiel ihr eine gespenstische Stille auf. Kein Heulen mehr. Keine Schritte, die sich näherten. Nur der Ruf einer Eule durchbrach die Stille. Keuchend schaute sie sich um. Ihr Herz pochte wie wild. Das weiße Hemdchen hing in Stofffetzen an ihrem Körper. Durch das stachelige Gebüsch und den Sturz war es noch mehr in Mitleidenschaft gezogen worden. Aber die Frau achtete nicht darauf.
„Das geschieht nicht wirklich“, sagte sie zu sich selbst. Der Verstand war mit dem, was sie gerade durchmachte, nicht einverstanden.
Das ist unmöglich.
Die Ruhe schien sie zu erdrücken. Ihr Hals fühlte sich trocken an und kalte Herbstluft strömte durch ihre brennenden Lungen. Sie bemerkte, wie der Morgennebel langsam aufstieg.
Ich muss weiterlaufen … Ich muss einfach.
Das Adrenalin in ihrem Körper ließ sie die Schmerzen zeitweise verdrängen. Mit zusammengepressten Zähnen bewegte sie sich langsam vorwärts. Versuchte schneller zu werden, doch es war nicht möglich. Sie war am Ende ihrer Kräfte angelangt, ihr Knöchel machte ihre Situation noch verzweifelter. Hilflosigkeit breitete sich in ihr aus. Sie war allein, nur der dunkle, gespenstige Wald und sie.
Der Verfolger ist auch noch da. Irgendwo da draußen.
Der Moment kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Nichts. Nur das leise Rascheln von wenigen Laubbäumen im Wind. Auf einmal schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. Hatte sie es tatsächlich geschafft, ihn abzuhängen? Ihr Blick wanderte nach oben zu dem Mond, welcher noch heller als zuvor durch die Baumwipfel zu strahlen schien. Ein Hauch von Erleichterung durchströmte ihren angeschlagenen Körper. Sie dachte, es wäre ihr gelungen, ihm tatsächlich entkommen. Ihr Verstand versuchte ihr das zu suggerieren. Eine Art Überlebensmechanismus. Daran zu glauben gab ihr Kraft weiterzugehen.
In ihrem Schädel pochte es wie ein Presslufthammer auf Asphalt und ihre Nase triefte. Beißende Herbstkälte durchbohrte ihre Haut. Fast nackt war sie durch den Wald geirrt. Schlimmer noch. Sie hatte sich verirrt. Schlagartig wurde sie sich der aktuellen Situation bewusst. Sie war allein im Wald und hatte sich verirrt. Nachts in einem Wald im Nirgendwo im North York Moors National Park in England. In einem fremden Land, in einem fremden, bedrohlich wirkenden Wald. Ein Killer war hinter ihr her, sie war die flüchtende Beute.
Zuhause vor dem Fernseher machte sie sich immer mit einer Schüssel Popcorn, auf ihrer Couch, über die Frauen in Horrorfilmen lustig. Immer taten sie das Falsche. Liefen die Treppen hoch statt herunter, schrien, obwohl sie niemand hören konnte, und fragten jedes Mal „Wer ist da?“, wenn sie ein verdächtiges Geräusch hörten. Jetzt befand sie sich selbst in einem Film. Gefangen im eigenen Horrorfilm. Als hysterisch kreischendes Opfer, das dem wahnsinnigen Mörder entwischt, ist, aber schlussendlich doch geschnappt wird. Hysterisch war sie zwar, aber zum Kreischen war sie zu kaputt.
Ich lass mich nicht schnappen.
Sie wollte diesen Gedanken schnellstmöglich loswerden. Einerseits gab er ihr zwar Kraft weiterzumachen, doch dachte sie ständig daran, wie der Film enden würde. Wie alle ihr bekannten Slasher-Horrorfilme enden. Mit vielen Opfern, und in ihren Gedanken ist sie eines davon. Ihr Unterbewusstsein ließ nicht zu, dass sie aufgeben würde. Es sagte laut und deutlich:
Ich bin kein Opfer
Konzentriere dich. Überlebe.
Die einzige Chance war es, eine Straße oder noch besser ein bewohntes Haus zu finden. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewohnt. Die Sinne wurden wieder klarer. Sie stützte sich mit der Hand an einer großen Tanne ab. Das Gebiet bestand zu drei Vierteln aus Nadelgehölz, was den Wald noch dunkler aussehen ließ, da kaum Licht hindurchdringen konnte.
Auf einmal hörte sie ein Knistern. Sie hielt den Atem an und suchte mit den Augen das Gebiet ab. Ihre Lippen zitterten. Tränen liefen über die geröteten Wangen herunter.
Es ist nichts. Ich bilde mir das nur ein …
Sie schloss einen kurzen Moment lang die Augen und stellte sich vor, gar nicht da zu sein.
Plötzlich sah sie im Gebüsch funkelnde Augen. Ihre von Natur aus blasse Haut wurde augenblicklich blässer. Das Etwas blickte direkt zu ihr hinüber, doch bewegte es sich nicht. Es starrte sie an.
Oh Gott, er ist es.
Ihre Atemzüge waren oberflächlich und abgehakt, sie spürte, wie ihre Lungen um Luft rangen, doch ihre Furcht hielt sie vom Atmen ab. Die Augen des fremden Wesens wurden dunkler. Langsam versuchte sie, einen Schritt zurückzugehen. Die Ferse trat auf einen Ast. Ein lautes Knacken war zu hören. Das Wesen horchte auf und dann sah sie, wie ein junges Reh davon galoppierte. Erleichtert atmete sie auf.
Nur ein Reh.
Sie senkte dankend ihren Kopf. Ihre Lippen verzogen sich zu einem krampfhaften Lächeln. Es blieb ihr kaum Zeit, sich auszuruhen. Hier konnte sie nicht bleiben.
Wenn es doch bloß einen Orientierungspunkt gäbe.
„Geh zum Camping. Es wird lustig. Alles Blödsinn.“ Es war ein verzweifeltes Lachen, das aus ihrem Mund kam, während sie vorwurfsvoll wieder zum Mond hinaufsah. Er war die einzige Lichtquelle, die sie im Moment zur Verfügung hatte. Ihr einziger Freund. Sie hatte eigentlich gar nicht zum Camping fahren wollen, allerdings war der Trip nach England ein Geschenk zu ihrem 25ten Geburtstag gewesen. Gejagt zu werden gehörte aber nicht zu ihrer Vorstellung eines erholsamen Wochenendes. Der Ausflug sollte etwas Besonderes werden. In Anbetracht der aktuellen Geschehnisse war die Aussage ‚etwas Besonderes‘ die Untertreibung des Jahrhunderts.
An einer Fichte entlang tastend, versuchte sie, ihre müden Beine weiterzubewegen. Der Waldboden knisterte leicht vom ganzen Laub, welches der Herbst zu Boden getragen hat. Wie ein kratziger Teppich. Die Müdigkeit nahm sie mit, die Kräfte waren erschöpft, aber sie musste sich durchkämpfen. Sie wollte überleben. Nur darum ging es noch.
Die Finger waren längst taub. Die Kälte umklammerte sie und zog immer fester zu. Die feuchtwarme Luft, welche sie ausatmete, sah aus wie kleine Nebelschwaden. Schweiß und Erde hafteten an ihr. Ihr Geruch erinnerte an den eines frischen Komposthaufens. Sie wusste, dass sie schnell einen Unterschlupf finden musste, um nicht zu erfrieren.
Sie sehnte sich nach einem warmen Unterschlupf.
Nach einer Weile erreichte sie endlich eine Schotterstraße. Zwar lag diese mitten im Wald, doch es keimte Hoffnung in ihr auf.
Bitte, führ mich zu einem Haus!
Die Erleichterung stand ihr ins Gesicht geschrieben und sie nahm noch mal all ihre Kraft zusammen.
Es kann nicht mehr weit sein, hier sind wir schon mal durchgefahren.
Krampfhaft versuchte sie, sich an die Straße zu erinnern. Vielleicht war es auch nur der Wunsch, sie würde die Umgebung kennen. Ihr Unterbewusstsein, damit sie die Hoffnung nicht verlieren würde.
Sie folgte dem Weg und erreichte eine Jagdhütte auf einer Lichtung. In ihr brannte Licht und aus dem Schornstein qualmte frischer Rauch. Die Hütte sah definitiv bewohnt aus.
O mein Gott, ich bin gerettet.
Durch die Fenster konnte sie eine Art Wohnzimmer erspähen, doch niemand war zu sehen. Sie hinkte, so schnell sie konnte, zur Hütte und klopfte wie wild an das Fenster.
„Hilfe. Ich werde verfolgt. Bitte helfen Sie mir.“
Keine Reaktion. Auf der anderen Seite befand sich eine Hintertür. Mit all ihrer restlichen Kraft riss sie an der Türe. Diese gab nach und die morschen Scharniere brachen.
„Verdammt.“
Sie betrachtete genervt einen kurzen Moment die kaputte Tür. Ein verzweifelter Seufzer stieß aus ihr heraus. Jetzt konnte jeder eindringen.
Auch ihr Verfolger.
Andererseits, wenn sogar eine geschwächte Frau die Tür aufbrechen konnte, würde es wohl jeder schaffen. Ihr primäres Ziel war nicht der Schutz vor Eindringlingen, eher Schutz vor Kälte und Insekten.
Zögernd betrat sie die Hütte. An den hölzernen Wänden hingen Hirschgeweihe und Felle von erlegten Tieren. Kein Mensch war zu sehen. Die Wärme strömte sofort durch ihren unterkühlten Körper. Sie rieb ihre Hände aneinander und spürte bald ihre Finger wieder. Im kleinen Bad, das mit einer selbst gezimmerten Schiebetüre vom Zimmer abgetrennt wurde, suchte sie nach einem Verbandskasten. Sie fand ein Erste-Hilfe-Set im Spiegelschrank. Darin lagen Verbände, mit denen sie ihren verstauchten Fuß verband, um ihn etwas zu stützen. Die restlichen Verbände wickelte sie sich um die Fußsohlen. Schuhe selbst gemacht.
Was jetzt? Soll ich hier drin auf Rettung warten? Was ist, wenn der Verfolger mich hier findet?
In der Hütte war es warm. Ihr blieb keine Wahl. Draußen würde sie erfrieren und vielleicht käme der Besitzer ja bald zurück. Vielleicht befand er sich gerade auf der Jagd.
Vielleicht wurde er aber auch getötet.
Nein. Dieser Gedanke war nicht wahr. Ihr Gehirn spielte ihr einen Streich.
Auf dem Sofa im Wohnzimmer lag eine zusammengefaltete braune Decke. Sie wickelte sich darin ein, um schneller ihren Körper aufzuwärmen, und schaltete das Licht aus. Im Licht stand sie wie auf dem Präsentierteller da. Fehlte nur ein Schild vor der Hütte: ‚Das Opfer befindet sich hier!‘ mit einem fetten, roten Pfeil, der auf die Hütte zeigt. Am besten noch leuchtend.
Das Feuer im offenen Kamin war nun die einzige Lichtquelle des Raums. Die Wärme, welche es ausstrahlte, hatte sie dringend nötig. Die Dämmerung setzte langsam ein und die Umgebung war komplett in einen nebligen Schleier gehüllt. Sie spähte aus dem Fenster, doch konnte aufgrund des aufkommenden dichten Nebels kaum was erkennen.
Sie setzte sich eingehüllt in die Wolldecke vor den Kamin. Wenn sie es zum Licht des Morgens schaffen würde, wäre sie gerettet. Jemand würde sie hier finden. Jedenfalls redete sie sich das ein. Die Augen wurden immer schwerer. Für einen kurzen Moment nickte sie ein. Ein lautes Geräusch riss sie Minuten später direkt wieder aus dem Schlaf. Sie spürte die Präsenz des Wesens. Unsichtbar, aber dennoch da. Sie konnte es genau fühlen.
Die Furcht in ihr drängte hervor. Ohne anzuklopfen, war sie wieder da. Schützend schlang sie die Decke noch enger um ihren Körper. Kurze Atemstöße entwichen ihrem Mund. Sie stand auf und durchsuchte mit ihren Augen die Hütte. Erfolglos.
Es war der Schatten, der sie durch den Wald gejagt hatte. Das wusste sie, doch sie konnte ihn nicht sehen.
Ich muss mich verteidigen.
In der Hütte gab es keine Waffen. Improvisation war gefragt. Sie griff nach einem Schürhaken, der sich neben dem Kamin befand, und hielt ihn zitternd mit beiden Händen fest. Sie hörte nur ihren eigenen Atem.
Ein leichtes Knurren war zu hören. Panik stieg in ihr auf. Sie fuchtelte durch die leere Luft. Auf einmal sprang ihr Jäger sie von der Seite an und riss sie direkt zu Boden. Lautlos pirschte er sich an. Sie hatte nicht den Hauch einer Chance. Ein stumpfes Ächzen entwich aus ihrem Mund und sie ließ den Schürhaken fallen. Verzweifelt versuchte sie, nach ihm zu greifen, doch er lag außer Reichweite. Der Schatten riss ihr die Decke vom Leib. Sie streckte sich, so weit sie konnte, und ihre Finger berührten den Schürhaken. Mit einer ruckartigen Bewegung konnte sie ihn packen und schlug damit ihrem Angreifer entgegen. Dieser wich blitzschnell aus und schlug ihr die Waffe sofort aus der Hand. Sie presste die Augenlider zusammen und hielt schützend ihre Hand vors Gesicht. Ein gellender letzter Schrei hallte durch den nebligen Wald.



KAPITEL 2

Passanten fanden den Körper einer leblosen Frau, welche mit dem Gesicht nach unten am Wasser des Strandes lag. Das Meer schaukelte ihre Beine leicht. Nur mit einem zerrissenen Hemd bekleidet, der Körper war mit Schlamm überdeckt. Die riesige Wunde am Rücken wirkte, als wäre sie frisch aufgerissen worden. Vier offene, lange Striemen, teilweise bereits durch die See verschmutzt. Es war ein kalter Herbsttag in Whitby, England. Das Gebiet um den Golfplatz wurde weiträumig abgeriegelt. Die Presse versuchte krampfhaft, durch die Absperrung zu gelangen, um Fotos des Opfers zu schießen, und einige neugierige Passanten warfen schockierte Blicke hinüber. Vier Constables der Territorial Police Force hatten Mühe, die stürmischen Journalisten im Zaum zu halten, sodass niemand in das abgesperrte Gebiet eindringen konnte. Die Absperrbänder flatterten im Wind und es roch nach einer Mischung aus Salz und Tod.
Langsam drehte der korpulente Gerichtsmediziner Roy Farson die Frau um und stellte sofort fest, dass ihr die Zunge fehlte. Er untersuchte die Leiche auf weitere äußere Verletzungen. „Diese Wunden deuten auf ein sehr großes Tier hin. Die Zunge wurde post mortem entfernt. Ich bin mir aber nicht zu hundert Prozent sicher, ob die Wunden am Rücken vor Eintritt des Todes zugefügt wurden oder nicht. Dazu muss ich sie gesäubert bei mir auf dem Tisch haben, doch meine erste Tendenz ist, dass sie noch lebte. Am Hals befindet sich eine Schnittwunde.“ Skeptisch begutachtete er die Kleidung der Frau oder zumindest das, was davon übrig geblieben war.
„Wenn nicht die Wunden am Rücken zu ihrem Tod geführt hätten, dann wäre sie an Unterkühlung gestorben.“ Er hob die Augenbrauen hoch und seufzte leise.
Mit dem Blick auf seine Armbanduhr steckte er ein Leberthermometer in den leblosen Körper.
„Zeitpunkt des Todes schätzungsweise zwischen 6 und 7 Uhr morgens. Jetzt ist es 9 Uhr 11. Es ist also gut möglich, dass sich bis dahin ein Tier an ihr zu schaffen gemacht hat, ich habe nur keine Ahnung, welches. Meines Wissens gibt es hier in der Umgebung keine Bären.“ Farson galt als begeisterter Jäger und kannte sich mit Verletzungen durch Bären von seinen Urlaubswochen in Norwegen aus.
Er wandte sich zu Detective Andrew McGriffin, welcher die Ermittlungsarbeiten in diesem Fall übernahm. Dieser blickte abwesend auf das offene Meer hinaus. Mit der Hand an seinem markanten Kinn strich er sich über den Drei-Tage-Bart, die andere Hand tief in der Hosentasche vergraben. Das kurz geschnittene Haar bewegte sich leicht im Wind. An den Koteletten war es bereits grau meliert. Seine braunen Augen wirkten ernst. Er musste sie zusammenkneifen, da ihn die Morgensonne blendete.
„Andrew, hörst du mir zu?“, fragte Farson leicht verwundert, nachdem vom Ermittler keine Antwort kam.
McGriffin wendete kurz den Blick ab und nickte. Er hatte Farsons Worte gehört, aber gedanklich war der Ermittler ganz woanders.
Er hatte solche Wunden schon einmal gesehen. Bei zwei anderen jungen Personen, welche ihr Zelt im Ellblack Wood etwas nordöstlich vom Caravan Park aufgestellt hatten. Er erinnerte sich daran, was von der Campingstelle und dem Zelt noch übrig geblieben war und wie grausam die beiden jungen Menschen zugerichtet waren. Die Frau hatte kein Gesicht mehr. Es sah so aus, als wäre es abgerissen worden. Nichts daran erinnerte noch an einen Menschen. Die Hose war aufgerissen und die Bluse zerfetzt. Auf dem Rücken ähnliche Risswunden wie das aktuelle Opfer. Farson war gerade aus dem Urlaub zurückgekommen und hatte daher die ersten Leichen nicht obduziert, aber auch der Kollege war der Meinung gewesen, dass dies ein Tier verursacht hatte. Dem männlichen Opfer wurde die Kehle aufgeschlitzt mit einem unbekannten Gegenstand. Die Wunde war zu unpräzise, um ein Messer oder gar ein Schwert in Erwägung zu ziehen.

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