Jana Kosic - Perlenblut

Jana Kosic - Perlenblut

Louis Geras


EUR 23,90
EUR 14,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 326
ISBN: 978-3-903067-98-1
Erscheinungsdatum: 02.11.2016

Leseprobe:

DRESDNER TAGBLATT, 4. Jänner 19..

[…] wie nun bekannt wurde, fanden am vergangenen Montag Mitarbeiter der Haftanstalt Dresden den Untersuchungshäftling Udo B. tot in seiner Zelle auf. Der 40-Jährige hatte sich mit einem Gürtel an den Gitterstäben seines Fensters erhängt. Der herbeigerufene Arzt konnte nur noch den Tod des Inhaftierten feststellen.
Wie es zu diesem tragischen Vorfall kommen konnte, ist noch unklar. Die Polizei hat die Ermittlungen aufgenommen.
Mit dem Tod des Hauptverdächtigen wird voraussichtlich der anhängige Prozess wegen Vergewaltigung mit Todesfolge an der Prostituierten Ilona Dragic ad acta gelegt […]




Kapitel 1

Das gedämpfte Licht in dem einschlägig bekannten Lokal machte es ihm leichter, seine Scheu gegenüber der fremden Frau abzulegen Er schob sich vorsichtig näher. Sie nannte sich Ilona und er roch den schweren Moschusduft ihres Parfums, welches sich mit ihrem Körpergeruch erregend vermischte. Ihre spärliche Kleidung zeigte mehr, als sie verbarg, und die Frau saß so, dass er sich ihrer Präsenz nicht entziehen konnte. Die goldenen Kreolen an ihren zarten Ohrläppchen bewegten sich bei jeder Drehung ihres Kopfes und warfen helle Lichtblitze um sich. Ihr gurrendes Lachen betörte ihn. Sie traf sein Ego und so stieg sein Testosteronspiegel mit jedem Blick, mit jeder Kopfbewegung und mit jedem Schluck. Der Alkohol ließ ihn die Hemmungen ablegen, die er normalerweise gegenüber Frauen hatte Sie lachte über seine Scherze und leckte sich scheinbar beiläufig über die leicht geöffneten dunkelroten Lippen. Auf eine provozierende Art leuchteten sie ihm entgegen. Verheißungsvoll. Verlockend. Die Augenlider senkten sich über ihre rehbraunen Augen. Neckisch wickelte sie sich eine Locke ihrer dunklen Haare um den Finger und goss wieder sein Glas voll mit dem billigen Sprudel, den sie hier Sekt nannten, während sie ihn in ihrem gebrochenen Deutsch mit starkem östlichem Akzent lachend dazu aufforderte, zu trinken.
Udo Brandau fühlte sich stark, als Mann begehrt, und so ließ er es geschehen, obwohl er normalerweise keinen Alkohol trank – bestenfalls mal ein kleines Pils. Mitternacht war schon vorbei, als sie ihn mit sich zog. Widerstandslos folgte er ihr. Gehorsam, wie ein Kind ließ er sich den schwach beleuchteten schmalen Gang entlang führen. Die Tür fiel hinter ihnen leise zu und sie drückte ihn auf das zerwühlte Bett, in dem sich schon so mancher Freier vor ihm befunden hatte. Er roch ihre Ausdünstung, die sich in den Laken festgesetzt hatte. Abgestandene Luft, gedämpftes Licht, roter billiger Plüsch umgaben ihn. Unwirklich erschien Udo Brandau diese Welt.
Er ließ sich zurücksinken auf die weichen Kissen, während sie mit einem vielversprechenden Lächeln ins Bad verschwand. Neben ihm lagen Süßigkeiten auf dem Nachttisch und um den schalen Geschmack des Alkohols loszuwerden, schob er sich ein paar farbige Zuckerperlen in den Mund. Sie zergingen ihm sofort auf der Zunge, schmeckten jedoch wider Erwarten bitter. Angewidert verzog er den Mund und sah sich suchend nach etwas zum Nachspülen um. Jedoch war keine Wasserflasche zu sehen. Er schloss seine Augen nur für einen Moment und döste kurz ein.
Der Bass der Musik aus der Bar drang gedämpft bis in das Zimmer. Sein Herzschlag schien sich dem harten Rhythmus anzupassen und sich auf seinen ganzen Körper auszubreiten. Schließlich schien jede Faser seines Leibes im Takt der Musik zu vibrieren. Ein leises Geräusch ließ ihn hochfahren. Mit aufgerissenen Augen schaute er für einen Moment irritiert um sich. Dann fiel sein Blick auf die Frau. Ilona stand im Rahmen der Badezimmertür. Einen Arm gegen den Türrahmen gelehnt, den Kopf zur Seite geneigt. Die roten üppigen Lippen leicht geöffnet, sah sie ihn auffordernd an. Langsam fing sie an, spielerisch den Träger ihres Kleides über ihre Schultern hinunter zu schieben. Dabei lächelte sie ihn an. Langsam – unendlich langsam erschien es ihm – glitt der glänzende, weich fallende Stoff über ihre spitzen Brüste und den flachen Bauch. Gaben den Blick auf die zarten, dunkler getönten Brustwarzen frei und zuletzt auch auf ihre weißen Schenkel. Udo Brandau richtete sich mühsam vollends auf. Das Blut strömte pulsierend durch seinen Leib. Sein Kopf dröhnte von der Musik. Sein Herz raste. Er schloss für einen Moment die Augen. Dann spürte er die Hitze in sich hochsteigen. Schweiß drang aus jeder Pore seines Körpers und rann ihm über die Stirn, als hätte er eine starke Anstrengung hinter sich. Das Verlangen pulsierte durch seine Adern und verstärkte sich mit jedem Schlag seines Herzens. Es durchdrang ihn förmlich. Alles an ihm lechzte nach Berührung und dieses Verlangen wurde übermächtig. Schier unerträglich wurde es. Verdrängte jegliche anerzogene Zurückhaltung. Nur noch von seinen Trieben beherrscht, sprang er auf, durchquerte mit wenigen Schritten den Raum zwischen ihnen und stürzte sich auf sie. Mit grobem Griff packte er sie an den Schultern und zog sie begehrlich an sich. Seine Lippen suchten ihren Mund, saugten gierig daran, bis er den süßlichen Geschmack des Blutes in seinem Mund wahrnahm Die Heftigkeit, mit der er sie begehrte, ließ sie zurückschrecken, was ihn wütend machte. So packte er sie fester. Zerrte an ihr, bis sie fiel. Wie ein wildes Tier, zügellos, gierig, unkontrolliert, warf er sich auf sie. Obwohl ein Teil seines Unterbewusstseins ihm Einhalt gebot, konnte er seine Gier nicht mehr beherrschen. Er erkannte sich selbst nicht mehr.
Ihre verzweifelten Schreie gellten durchs Haus. Und jeder Schrei verstärkte seine unkontrollierbare Wut, die ihm so fremd war. Jeder Schrei trieb ihn dazu, zuzuschlagen. Benebelt, wie im Rausch, spürte er kaum ihre heftige, verzweifelte Gegenwehr. Ihre Fingernägel zogen tiefe Furchen in seine Haut und ihre Fäuste trommelten gegen seinen Leib. Aber nichts konnte ihn aufhalten. Er war nicht in der Lage, sich zu zügeln. Als schließlich kräftige Hände ihn packten und ihn von der Frau zu trennen versuchten, wehrte er sich wie ein Wahnsinniger. Nur wie durch dichten roten Nebel nahm er seine Gegner wahr, schlug mit aller Kraft um sich und spürte, wie unter seinen Fäusten die Knochen splitterten. Klebriges Blut tropfte von seinen geballten Händen. Der süßliche Duft erregte ihn noch mehr. Trieb ihn zu grenzenloser Raserei. Das Geschrei der hinzuströmenden Helfer feuerte ihn an. Ihre Bemühungen, ihn wegzuziehen, waren vergebens. Nichts um ihn war ihm gegenwärtig. Nichts drang mehr zu ihm durch.
Endlich gelang es den herbeigerufenen Polizisten, ihn zu überwältigen und auf dem Boden zu fixieren. Sein Körper zuckte unter den harten, geübten Händen der Uniformierten. Er war eine einzige Schmerzquelle – heiß, pulsierend, innerlich brennend. Aber irgendwo in seinem wirren umnebelten Verstand empfand er so etwas wie Erleichterung.




Kapitel 2
Die Hamburger Journalistin Jana Kosic trat ein paar Schritte zurück und betrachtete ihr Werk. Seit Stunden war sie dabei, die Wände ihrer Wohnung mit weißer Farbe zu streichen. Es regnete seit mehreren Tagen und aus Langeweile hatte sie sich dazu verleiten lassen, die Farbe zu kaufen. Nun waren nur noch wenige Striche vonnöten. Ihre Schulter rächte sich dafür mit Schmerzen. Sie hätte es besser wissen müssen. Seit der Schussverletzung vor knapp einem halben Jahr spürte sie jeden Wetterwechsel und natürlich waren die Streichbewegungen – dieses ständige Auf und Ab – alles andere als schonend gewesen. Sie griff sich an die schmerzende Stelle und rieb sie. Zum Glück war die Farbe im Eimer fast leer. Es wurde Zeit, dass sie fertig wurde und den Pinsel zur Seite legte. Gerade tauchte sie wieder den Pinsel ein, als irgendwo in ihrer Nähe unter all den Plastikfolien Ravels „Bolero“ einsetzte und langsam zu voller Lautstärke anschwoll, abbrach und von Neuen begann. Froh über die Ablenkung, warf sie den Pinsel in den Eimer und fing an, unter den Folien nach ihrem Handy zu suchen. Aber in dem Moment als sie es endlich mit den Fingerspitzen zu fassen bekam verstummte es. Ein wenig verärgert, aber doch neugierig, klappte sie es auf. Auf dem Display erschien keine Nummer, sondern nur „unterdrückt“. Kurz zögerte sie, dann klappte sie es wieder zu und warf es schulterzuckend auf ihren Schreibtisch. Wer immer es gewesen war, er würde sich wieder melden, wenn es wichtig war. Ansonsten eben nicht. Sie beendete ihre Tätigkeit. Zufrieden mit sich und ihrem Werk, stopfte sie sämtliche Abdeckfolien in den leeren Eimer und entsorgte ihn. Danach duschte sie. Die Farbe, die sich scheinbar überall auf ihrem Körper als feine Punkte oder größere Kleckse verteilt hatte, war nur durch heftiges Schrubben zu entfernen. Rot gescheuert und vor Hitze glühend, wickelte sie sich in ein Handtuch und ging in ihre Küche. Aus dem Kühlschrank entnahm sie ein Bier. Sie hatte es sich wirklich verdient. Der Flaschenverschluss öffnete sich mit einem leisen „Klack“ und das anschließende zischende Geräusch ließ sie in freudiger Erwartung lächeln. Sie setzte die Flasche an die Lippen, trank einen ausgiebigen Zug – frei nach dem Motto „Der Erste ist der Beste“ – und ging ins Wohnzimmer zurück. Dort ließ sie sich auf das Sofa fallen, nachdem sie es mit einer einzigen Armbewegung von den Kleidungsstücken, die sich darauf seit Franks Abreise stapelten, befreit hatte. Die Klamotten landeten achtlos neben der Couch. Während sie auf die kahle Wand starrte, nahm sie abermals einen Schluck. Dann ließ sie ihren Kopf zurücksinken und schloss für einen Moment genussvoll die Augen.
Die überstürzten Ereignisse des vergangenen Jahres – der Tod ihres Vaters und die darauf folgenden Geschehnisse – hatten ihr ein Lebenstempo auferlegt, welches selbst für Jana, die Hektik und Bewegung in ihrem Leben brauchte und ständig suchte, ungewöhnlich gewesen war. Nach der Schussverletzung durch ihren leiblichen Vater Herr von Enden war sie zur Ruhe gezwungen gewesen. Auch wenn sie zeitweise immer noch ihre Schulter spürte – besonders so wie jetzt, wenn das Wetter umschlug – fühlte sie seit Kurzem wieder die innere Unruhe zurückkehren. Doch es schien, als würden sich die Tage endlos aneinanderreihen – ohne jegliche Veränderung. Frank Liebermann, Janas Lebensgefährte, hatte sie in Watte gepackt, was sie zugegebenermaßen die ersten Monate genossen hatte. Doch aus dem beruhigenden Gefühl, geborgen zu sein, entwickelte sich zusehends der Eindruck eingeengt zu werden. Es gab Tage, an denen sie am liebsten ihre Koffer gepackt hätte, um aus der gemeinsamen Wohnung zu flüchten. Diese Gedanken verstörten sie umso mehr, da sie Frank wirklich liebte. Aber seit nunmehr drei Tagen war sie allein. Frank war im Auftrag des Hamburger Stadtarchivs in Amsterdam, um alte Dokumente im International Institute of Social History in Amsterdam zu begutachten. Wahrscheinlich würde er mehrere Wochen dort zubringen müssen, da es sich um einen „ansehnlichen Haufen Papier“ (wie Frank sich wenig fachmännisch ausdrückte) handelte. Jana genoss die Ruhe. Aber die unfreiwillige Einsamkeit zwang sie auch, sich über ihre Zukunft Gedanken zu machen. Das Streichen der Wohnungswände war ein verzweifelter Versuch gewesen, dies hinauszuschieben. Ihr Arbeitgeber, ein Hamburger Verlag, fragte seit einigen Wochen an, ob sie nicht wieder einsteigen wollte. Aber bis jetzt hatte sie die Antwort hinausgezögert. Sie hatte über ihre zwiespältigen Gefühle nachgedacht und war zum Schluss gekommen, dass es an ihrer Tatenlosigkeit lag, die sie so zögerlich und unzufrieden machte. Doch seit Bernhard Mahler, ihr Freund und Kollege, sich nach Irgendwo abgesetzt hatte – Jana wusste nicht, wohin er verschwunden war, um die schrecklichen Erlebnisse des letzten Jahres zu verarbeiten – fehlte ihr der Gedankenaustausch und die Motivation, ihren Beruf auszuüben. Im Grunde war sie unbeschreiblich sauer auf Bernhard, weil er sie hier allein zurückgelassen hatte. Aber natürlich würde sie das niemals zugeben. Schon gar nicht Bernhard gegenüber. Dass er das Trauma, welches er bei ihren letzten Recherchen erlitten hatte, nicht so leicht überwinden konnte, verstand sie. Die Ermordung eines Zeugen in seiner Gegenwart, die Übergriffe durch rechtsradikale Schläger und der beinahe tödliche Ausgang ihres Abenteuers waren für ihn fast zu viel gewesen. Natürlich war es für ihn wichtig, Abstand zu all dem zu gewinnen. Aber dass er sie nun vollständig aus seinem Leben aussperrte, verstand sie nicht.
Die Worte ihres Ziehvaters Ivan Kosic hallten in ihr nach. „Die Wahrheit ist gefährlich!“, hatte er ihr zugeschrien, als Jana ihn das letzte Mal gesprochen hatte. Und … er hatte recht behalten. Denn die Wahrheit wäre für sie tatsächlich beinahe tödlich
gewesen.

Jana seufzte. Die Erinnerungen waren an manchen Tagen fast unerträglich. Sie wandte sich vom Fenster ab und setzte sich auf das Sofa. Der Griff zur Fernbedienung war inzwischen Routine geworden und sie fing an, durch die Programme zu zappen. Unmengen von Doku-Soaps reihten sich aneinander. Genervt wollte sie bereits die Fernbedienung zur Seite legen, als sie auf eine Dokumentation stieß, die ihr Interesse weckte. Es ging um Prostitution, Gewalt und Drogen im ehemaligen Ostdeutschland. Jana verfolgte die Sendung interessiert, als ihr Handy abermals läutete. Geistesabwesend griff sie danach und drückte, ohne auf das Display zu gucken, die Annahmetaste und hob es ans Ohr. „Ja?“, war alles, was sie ins Handy sprach, wobei Jana aufmerksam dem Interview des Reporters mit einem Stammgast eines Etablissements lauschte.
„Bist du es, Jana?“, drang die vertraute Stimme an ihr Ohr. „Ich bin es, Bernhard!“ Jana, noch immer abgelenkt durch den Report, gab nur ein bejahendes „Mhm“ von sich. „Bist du beschäftigt, oder bist du sauer?“, erklang Bernhards verunsicherte Stimme aus dem Hörer. Als abermals nur ein „Mhm“ ertönte, wurde er ungeduldig und er fragte leicht gereizt: „Soll ich auflegen, Jana? Oder redest du endlich mit mir?“
Jana riss sich zusammen und drückte auf die Lautlos-Taste der Fernbedienung. Doch anstatt versöhnlich in das Mikrofon zu sprechen, knurrte sie ein leises „Ja, ich bin sauer!“ hinein. Dann besann sie sich und fuhr versöhnlicher fort: „Tut mir leid, Berni. Ich war abgelenkt. Und im Übrigen hättest du mir wenigstens deine Telefonnummer schicken können. Wo steckst du überhaupt? Meldest dich fast ein halbes Jahr nicht und wunderst dich, dass ich nicht sofort vor Freude losjuble, wenn du dich dann endlich meldest.“
„Du hast recht. War nicht okay von mir, mich nicht zu melden. Aber …“, er schwieg kurz und Jana war sich sicher, dass er sich in diesem Moment durch seine brünetten Haare fuhr und sie zurückschob, so wie er es immer tat, „… aber ich musste erst mit alldem klarkommen. Du weißt schon … Mit … einfach Abstand gewinnen.“
Wieder entstand eine Pause. Es war, als würde eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen stehen. Jana fühlte sich plötzlich hilflos. Es war nicht ihre Stärke, Nähe durchs Telefon aufzubauen. Vielmehr hasste sie es, Probleme über die Leitung zu lösen. Wenn Bernhard neben ihr gesessen hätte, dann hätte sie ihm eine geboxt. Fest genug, um ihm zu zeigen, dass sie gekränkt und ein bisschen wütend war, und er hätte verstanden, wie sie fühlte. Aber so schwieg sie und dieses Schweigen verstärkte die Distanz zwischen ihnen.
„Ich hoffe, es geht dir wieder besser. Deine Schulter, meine ich“, versuchte Bernhard einen zweiten Anlauf, das Gespräch zum Laufen zu bringen. „Ich bin in Dresden. Bei einem Freund. Er hat mir einen Job bei einer der hiesigen Zeitungen verschafft. Ich mach Fotos und so.“ Wieder verstummte er. Jana hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. Irgendetwas, das die spürbare Anspannung lockern würde, aber sie konnte nicht. Es wollte ihr keine versöhnliche Bemerkung einfallen. So schwieg sie und die Chance, ein vertrauliches Gespräch zu führen, verging. Jana spürte, wie sich Bernhard zurückzog – hinter einer Mauer des Schweigens und der Fremdheit. Es schmerzte, aber warum musste sie immer ihre Gefühle zeigen Sie wollte nicht. Und wusste doch im selben Moment, dass sie es tun sollte.
Am anderen Ende der Leitung vernahm Jana ein Schaben und schließlich legte Bernhard mit einem geflüsterten „Entschuldige“ auf. Die Leitung war tot.

Jana starrte eine Weile auf das stumme Handy in ihrer Hand. Dann klappte sie es langsam zu und ließ die Hand in den Schoß sinken. Blicklos starrte sie auf den Bildschirm ihres Fernsehers. Sie sah nichts mehr von der Dokumentation, sondern ihre Gedanken bewegten sich in verschiedene Richtungen. Sie überlegte, warum Bernhard angerufen hatte. Bernhards Anruf war keine Entschuldigung gewesen, vielmehr erschien es ihr, als hätte er verzweifelt versucht, ihr etwas mitzuteilen.
Aber was?
Es tat ihr leid, so abweisend gewesen zu sein. Sie hätte sich ihm anvertrauen sollen. Hätte davon reden sollen, dass sie sich alleingelassen fühlte. Dass sein Fortgang ihr wehgetan hatte. Stattdessen hatte sie geschwiegen und durch ihr Schweigen Bernhard vor den Kopf gestoßen.
Plötzlich hatte sie Angst. Angst, Bernhard endgültig zu verlieren. Oder war das schon geschehen? Kurzerhand klappte sie ihr Handy wieder auf und suchte den letzten Kontakt. „Unterdrückt“ stand da auf dem Display. Sie seufzte genervt auf. Wie um Himmels Willen sollte sie ihn erreichen, wenn er ihr seine Telefonnummer vorenthielt?
Verärgert legte sie das Telefon zur Seite. Sie schaltete die Lautsprecher des Fernsehers wieder ein und versuchte, sich wieder auf die Reportage zu konzentrieren. Gerade wurden Missstände im Rotlichtmilieu aufgezeigt. Moderner Sklavenhandel, Menschenraub und Gewalt standen auf der Tagesordnung. Der Moderator zählte die Städte auf, in denen sich diese Probleme im Milieu massiv verstärkten und zum Abschluss der Aufzählung hörte Jana ihn „Dresden“ sagen.
Während das Wort noch in ihren Kopf nachhallte, stand sie langsam auf. Es war eine unbewusste, spontane Reaktion. Plötzlich war sie sich sicher, dass Bernhard sie brauchte. Sein Anruf war ein Hilfeschrei gewesen. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er es nicht aussprechen würde. „Männer!“, dachte sie bei sich. Dabei war sie auch nicht besser. Es fiel ihr genauso schwer wie ihm, um Hilfe zu bitten.
Ohne noch lange zu zögern, schaltete sie den Fernseher aus, ging ins Schlafzimmer und fing an zu packen. Sie brauchte nicht viel, nur ein paar Jeans, Pullis, Unterwäsche und T-Shirts. Zahnbürste, Duschgel, Handtuch.
Die Reisetasche über die Schulter geworfen, eilte sie die Treppen hinunter. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hallten ihre Schritte durch das Treppenhaus. Zum Glück war sie die nächsten Tage nicht da, sonst würde sich der neue Mieter – Jana versuchte, sich an seinen Namen zu erinnern, jedoch fiel er ihr nicht ein – über ihr rücksichtsloses Benehmen bei ihr beschweren.
Janas alter Citroën stand auf dem Parkplatz vorm Haus. Die Windschutzscheibe war mit Flugzetteln gespickt und sie zog sie hinter den Scheibenwischern hervor. Achtlos warf sie die bunten Reklamen auf den Beifahrersitz. Dabei verrutschten die Blätter. Zu Janas Ärger lugte ein Strafzettel dazwischen hervor. Dabei hatte Jana ihrer Meinung nach ordnungsgemäß geparkt. Nach einem kurzen Blick hinter die Windschutzscheibe stellte Jana fest, dass sie ihren Parkberechtigungsschein durch mehrere Zeitschriften überdeckt hatte. Wütend auf sich selbst, schimpfte sie leise vor sich hin und entfernte die Magazine.
Nachdem Jana ihre Tasche auf den Rücksitz gestellt hatte, schwang sie sich hinter das Lenkrad, setzte zurück und fuhr mit quietschenden Reifen los. Die Vorfreude auf Dresden und Bernhard überlagerten rasch den Ärger über den Strafzettel.

Bald darauf erreichte sie die Autobahnauffahrt. Jana trat das Gaspedal durch. Ihr alter Citroën jaulte auf, kam aber nur langsam auf Touren. Jana wusste, dass seine Tage gezählt waren, jedoch konnte sie sich nicht dazu aufraffen, ein neues Fahrzeug zu kaufen. Sie hing an der alten Karre, trotz der immer häufiger auftretenden Probleme. Kurz darauf erreichte sie die nächste Abzweigung. Sie machte es sich bequem im Sitz, drehte das Radio laut auf und sang mit. Ihr Weg war vorgegeben. Ziel Dresden. Dort würde sie sich ihr weiteres Vorgehen überlegen.

DRESDNER TAGBLATT, 4. Jänner 19..

[…] wie nun bekannt wurde, fanden am vergangenen Montag Mitarbeiter der Haftanstalt Dresden den Untersuchungshäftling Udo B. tot in seiner Zelle auf. Der 40-Jährige hatte sich mit einem Gürtel an den Gitterstäben seines Fensters erhängt. Der herbeigerufene Arzt konnte nur noch den Tod des Inhaftierten feststellen.
Wie es zu diesem tragischen Vorfall kommen konnte, ist noch unklar. Die Polizei hat die Ermittlungen aufgenommen.
Mit dem Tod des Hauptverdächtigen wird voraussichtlich der anhängige Prozess wegen Vergewaltigung mit Todesfolge an der Prostituierten Ilona Dragic ad acta gelegt […]




Kapitel 1

Das gedämpfte Licht in dem einschlägig bekannten Lokal machte es ihm leichter, seine Scheu gegenüber der fremden Frau abzulegen Er schob sich vorsichtig näher. Sie nannte sich Ilona und er roch den schweren Moschusduft ihres Parfums, welches sich mit ihrem Körpergeruch erregend vermischte. Ihre spärliche Kleidung zeigte mehr, als sie verbarg, und die Frau saß so, dass er sich ihrer Präsenz nicht entziehen konnte. Die goldenen Kreolen an ihren zarten Ohrläppchen bewegten sich bei jeder Drehung ihres Kopfes und warfen helle Lichtblitze um sich. Ihr gurrendes Lachen betörte ihn. Sie traf sein Ego und so stieg sein Testosteronspiegel mit jedem Blick, mit jeder Kopfbewegung und mit jedem Schluck. Der Alkohol ließ ihn die Hemmungen ablegen, die er normalerweise gegenüber Frauen hatte Sie lachte über seine Scherze und leckte sich scheinbar beiläufig über die leicht geöffneten dunkelroten Lippen. Auf eine provozierende Art leuchteten sie ihm entgegen. Verheißungsvoll. Verlockend. Die Augenlider senkten sich über ihre rehbraunen Augen. Neckisch wickelte sie sich eine Locke ihrer dunklen Haare um den Finger und goss wieder sein Glas voll mit dem billigen Sprudel, den sie hier Sekt nannten, während sie ihn in ihrem gebrochenen Deutsch mit starkem östlichem Akzent lachend dazu aufforderte, zu trinken.
Udo Brandau fühlte sich stark, als Mann begehrt, und so ließ er es geschehen, obwohl er normalerweise keinen Alkohol trank – bestenfalls mal ein kleines Pils. Mitternacht war schon vorbei, als sie ihn mit sich zog. Widerstandslos folgte er ihr. Gehorsam, wie ein Kind ließ er sich den schwach beleuchteten schmalen Gang entlang führen. Die Tür fiel hinter ihnen leise zu und sie drückte ihn auf das zerwühlte Bett, in dem sich schon so mancher Freier vor ihm befunden hatte. Er roch ihre Ausdünstung, die sich in den Laken festgesetzt hatte. Abgestandene Luft, gedämpftes Licht, roter billiger Plüsch umgaben ihn. Unwirklich erschien Udo Brandau diese Welt.
Er ließ sich zurücksinken auf die weichen Kissen, während sie mit einem vielversprechenden Lächeln ins Bad verschwand. Neben ihm lagen Süßigkeiten auf dem Nachttisch und um den schalen Geschmack des Alkohols loszuwerden, schob er sich ein paar farbige Zuckerperlen in den Mund. Sie zergingen ihm sofort auf der Zunge, schmeckten jedoch wider Erwarten bitter. Angewidert verzog er den Mund und sah sich suchend nach etwas zum Nachspülen um. Jedoch war keine Wasserflasche zu sehen. Er schloss seine Augen nur für einen Moment und döste kurz ein.
Der Bass der Musik aus der Bar drang gedämpft bis in das Zimmer. Sein Herzschlag schien sich dem harten Rhythmus anzupassen und sich auf seinen ganzen Körper auszubreiten. Schließlich schien jede Faser seines Leibes im Takt der Musik zu vibrieren. Ein leises Geräusch ließ ihn hochfahren. Mit aufgerissenen Augen schaute er für einen Moment irritiert um sich. Dann fiel sein Blick auf die Frau. Ilona stand im Rahmen der Badezimmertür. Einen Arm gegen den Türrahmen gelehnt, den Kopf zur Seite geneigt. Die roten üppigen Lippen leicht geöffnet, sah sie ihn auffordernd an. Langsam fing sie an, spielerisch den Träger ihres Kleides über ihre Schultern hinunter zu schieben. Dabei lächelte sie ihn an. Langsam – unendlich langsam erschien es ihm – glitt der glänzende, weich fallende Stoff über ihre spitzen Brüste und den flachen Bauch. Gaben den Blick auf die zarten, dunkler getönten Brustwarzen frei und zuletzt auch auf ihre weißen Schenkel. Udo Brandau richtete sich mühsam vollends auf. Das Blut strömte pulsierend durch seinen Leib. Sein Kopf dröhnte von der Musik. Sein Herz raste. Er schloss für einen Moment die Augen. Dann spürte er die Hitze in sich hochsteigen. Schweiß drang aus jeder Pore seines Körpers und rann ihm über die Stirn, als hätte er eine starke Anstrengung hinter sich. Das Verlangen pulsierte durch seine Adern und verstärkte sich mit jedem Schlag seines Herzens. Es durchdrang ihn förmlich. Alles an ihm lechzte nach Berührung und dieses Verlangen wurde übermächtig. Schier unerträglich wurde es. Verdrängte jegliche anerzogene Zurückhaltung. Nur noch von seinen Trieben beherrscht, sprang er auf, durchquerte mit wenigen Schritten den Raum zwischen ihnen und stürzte sich auf sie. Mit grobem Griff packte er sie an den Schultern und zog sie begehrlich an sich. Seine Lippen suchten ihren Mund, saugten gierig daran, bis er den süßlichen Geschmack des Blutes in seinem Mund wahrnahm Die Heftigkeit, mit der er sie begehrte, ließ sie zurückschrecken, was ihn wütend machte. So packte er sie fester. Zerrte an ihr, bis sie fiel. Wie ein wildes Tier, zügellos, gierig, unkontrolliert, warf er sich auf sie. Obwohl ein Teil seines Unterbewusstseins ihm Einhalt gebot, konnte er seine Gier nicht mehr beherrschen. Er erkannte sich selbst nicht mehr.
Ihre verzweifelten Schreie gellten durchs Haus. Und jeder Schrei verstärkte seine unkontrollierbare Wut, die ihm so fremd war. Jeder Schrei trieb ihn dazu, zuzuschlagen. Benebelt, wie im Rausch, spürte er kaum ihre heftige, verzweifelte Gegenwehr. Ihre Fingernägel zogen tiefe Furchen in seine Haut und ihre Fäuste trommelten gegen seinen Leib. Aber nichts konnte ihn aufhalten. Er war nicht in der Lage, sich zu zügeln. Als schließlich kräftige Hände ihn packten und ihn von der Frau zu trennen versuchten, wehrte er sich wie ein Wahnsinniger. Nur wie durch dichten roten Nebel nahm er seine Gegner wahr, schlug mit aller Kraft um sich und spürte, wie unter seinen Fäusten die Knochen splitterten. Klebriges Blut tropfte von seinen geballten Händen. Der süßliche Duft erregte ihn noch mehr. Trieb ihn zu grenzenloser Raserei. Das Geschrei der hinzuströmenden Helfer feuerte ihn an. Ihre Bemühungen, ihn wegzuziehen, waren vergebens. Nichts um ihn war ihm gegenwärtig. Nichts drang mehr zu ihm durch.
Endlich gelang es den herbeigerufenen Polizisten, ihn zu überwältigen und auf dem Boden zu fixieren. Sein Körper zuckte unter den harten, geübten Händen der Uniformierten. Er war eine einzige Schmerzquelle – heiß, pulsierend, innerlich brennend. Aber irgendwo in seinem wirren umnebelten Verstand empfand er so etwas wie Erleichterung.




Kapitel 2
Die Hamburger Journalistin Jana Kosic trat ein paar Schritte zurück und betrachtete ihr Werk. Seit Stunden war sie dabei, die Wände ihrer Wohnung mit weißer Farbe zu streichen. Es regnete seit mehreren Tagen und aus Langeweile hatte sie sich dazu verleiten lassen, die Farbe zu kaufen. Nun waren nur noch wenige Striche vonnöten. Ihre Schulter rächte sich dafür mit Schmerzen. Sie hätte es besser wissen müssen. Seit der Schussverletzung vor knapp einem halben Jahr spürte sie jeden Wetterwechsel und natürlich waren die Streichbewegungen – dieses ständige Auf und Ab – alles andere als schonend gewesen. Sie griff sich an die schmerzende Stelle und rieb sie. Zum Glück war die Farbe im Eimer fast leer. Es wurde Zeit, dass sie fertig wurde und den Pinsel zur Seite legte. Gerade tauchte sie wieder den Pinsel ein, als irgendwo in ihrer Nähe unter all den Plastikfolien Ravels „Bolero“ einsetzte und langsam zu voller Lautstärke anschwoll, abbrach und von Neuen begann. Froh über die Ablenkung, warf sie den Pinsel in den Eimer und fing an, unter den Folien nach ihrem Handy zu suchen. Aber in dem Moment als sie es endlich mit den Fingerspitzen zu fassen bekam verstummte es. Ein wenig verärgert, aber doch neugierig, klappte sie es auf. Auf dem Display erschien keine Nummer, sondern nur „unterdrückt“. Kurz zögerte sie, dann klappte sie es wieder zu und warf es schulterzuckend auf ihren Schreibtisch. Wer immer es gewesen war, er würde sich wieder melden, wenn es wichtig war. Ansonsten eben nicht. Sie beendete ihre Tätigkeit. Zufrieden mit sich und ihrem Werk, stopfte sie sämtliche Abdeckfolien in den leeren Eimer und entsorgte ihn. Danach duschte sie. Die Farbe, die sich scheinbar überall auf ihrem Körper als feine Punkte oder größere Kleckse verteilt hatte, war nur durch heftiges Schrubben zu entfernen. Rot gescheuert und vor Hitze glühend, wickelte sie sich in ein Handtuch und ging in ihre Küche. Aus dem Kühlschrank entnahm sie ein Bier. Sie hatte es sich wirklich verdient. Der Flaschenverschluss öffnete sich mit einem leisen „Klack“ und das anschließende zischende Geräusch ließ sie in freudiger Erwartung lächeln. Sie setzte die Flasche an die Lippen, trank einen ausgiebigen Zug – frei nach dem Motto „Der Erste ist der Beste“ – und ging ins Wohnzimmer zurück. Dort ließ sie sich auf das Sofa fallen, nachdem sie es mit einer einzigen Armbewegung von den Kleidungsstücken, die sich darauf seit Franks Abreise stapelten, befreit hatte. Die Klamotten landeten achtlos neben der Couch. Während sie auf die kahle Wand starrte, nahm sie abermals einen Schluck. Dann ließ sie ihren Kopf zurücksinken und schloss für einen Moment genussvoll die Augen.
Die überstürzten Ereignisse des vergangenen Jahres – der Tod ihres Vaters und die darauf folgenden Geschehnisse – hatten ihr ein Lebenstempo auferlegt, welches selbst für Jana, die Hektik und Bewegung in ihrem Leben brauchte und ständig suchte, ungewöhnlich gewesen war. Nach der Schussverletzung durch ihren leiblichen Vater Herr von Enden war sie zur Ruhe gezwungen gewesen. Auch wenn sie zeitweise immer noch ihre Schulter spürte – besonders so wie jetzt, wenn das Wetter umschlug – fühlte sie seit Kurzem wieder die innere Unruhe zurückkehren. Doch es schien, als würden sich die Tage endlos aneinanderreihen – ohne jegliche Veränderung. Frank Liebermann, Janas Lebensgefährte, hatte sie in Watte gepackt, was sie zugegebenermaßen die ersten Monate genossen hatte. Doch aus dem beruhigenden Gefühl, geborgen zu sein, entwickelte sich zusehends der Eindruck eingeengt zu werden. Es gab Tage, an denen sie am liebsten ihre Koffer gepackt hätte, um aus der gemeinsamen Wohnung zu flüchten. Diese Gedanken verstörten sie umso mehr, da sie Frank wirklich liebte. Aber seit nunmehr drei Tagen war sie allein. Frank war im Auftrag des Hamburger Stadtarchivs in Amsterdam, um alte Dokumente im International Institute of Social History in Amsterdam zu begutachten. Wahrscheinlich würde er mehrere Wochen dort zubringen müssen, da es sich um einen „ansehnlichen Haufen Papier“ (wie Frank sich wenig fachmännisch ausdrückte) handelte. Jana genoss die Ruhe. Aber die unfreiwillige Einsamkeit zwang sie auch, sich über ihre Zukunft Gedanken zu machen. Das Streichen der Wohnungswände war ein verzweifelter Versuch gewesen, dies hinauszuschieben. Ihr Arbeitgeber, ein Hamburger Verlag, fragte seit einigen Wochen an, ob sie nicht wieder einsteigen wollte. Aber bis jetzt hatte sie die Antwort hinausgezögert. Sie hatte über ihre zwiespältigen Gefühle nachgedacht und war zum Schluss gekommen, dass es an ihrer Tatenlosigkeit lag, die sie so zögerlich und unzufrieden machte. Doch seit Bernhard Mahler, ihr Freund und Kollege, sich nach Irgendwo abgesetzt hatte – Jana wusste nicht, wohin er verschwunden war, um die schrecklichen Erlebnisse des letzten Jahres zu verarbeiten – fehlte ihr der Gedankenaustausch und die Motivation, ihren Beruf auszuüben. Im Grunde war sie unbeschreiblich sauer auf Bernhard, weil er sie hier allein zurückgelassen hatte. Aber natürlich würde sie das niemals zugeben. Schon gar nicht Bernhard gegenüber. Dass er das Trauma, welches er bei ihren letzten Recherchen erlitten hatte, nicht so leicht überwinden konnte, verstand sie. Die Ermordung eines Zeugen in seiner Gegenwart, die Übergriffe durch rechtsradikale Schläger und der beinahe tödliche Ausgang ihres Abenteuers waren für ihn fast zu viel gewesen. Natürlich war es für ihn wichtig, Abstand zu all dem zu gewinnen. Aber dass er sie nun vollständig aus seinem Leben aussperrte, verstand sie nicht.
Die Worte ihres Ziehvaters Ivan Kosic hallten in ihr nach. „Die Wahrheit ist gefährlich!“, hatte er ihr zugeschrien, als Jana ihn das letzte Mal gesprochen hatte. Und … er hatte recht behalten. Denn die Wahrheit wäre für sie tatsächlich beinahe tödlich
gewesen.

Jana seufzte. Die Erinnerungen waren an manchen Tagen fast unerträglich. Sie wandte sich vom Fenster ab und setzte sich auf das Sofa. Der Griff zur Fernbedienung war inzwischen Routine geworden und sie fing an, durch die Programme zu zappen. Unmengen von Doku-Soaps reihten sich aneinander. Genervt wollte sie bereits die Fernbedienung zur Seite legen, als sie auf eine Dokumentation stieß, die ihr Interesse weckte. Es ging um Prostitution, Gewalt und Drogen im ehemaligen Ostdeutschland. Jana verfolgte die Sendung interessiert, als ihr Handy abermals läutete. Geistesabwesend griff sie danach und drückte, ohne auf das Display zu gucken, die Annahmetaste und hob es ans Ohr. „Ja?“, war alles, was sie ins Handy sprach, wobei Jana aufmerksam dem Interview des Reporters mit einem Stammgast eines Etablissements lauschte.
„Bist du es, Jana?“, drang die vertraute Stimme an ihr Ohr. „Ich bin es, Bernhard!“ Jana, noch immer abgelenkt durch den Report, gab nur ein bejahendes „Mhm“ von sich. „Bist du beschäftigt, oder bist du sauer?“, erklang Bernhards verunsicherte Stimme aus dem Hörer. Als abermals nur ein „Mhm“ ertönte, wurde er ungeduldig und er fragte leicht gereizt: „Soll ich auflegen, Jana? Oder redest du endlich mit mir?“
Jana riss sich zusammen und drückte auf die Lautlos-Taste der Fernbedienung. Doch anstatt versöhnlich in das Mikrofon zu sprechen, knurrte sie ein leises „Ja, ich bin sauer!“ hinein. Dann besann sie sich und fuhr versöhnlicher fort: „Tut mir leid, Berni. Ich war abgelenkt. Und im Übrigen hättest du mir wenigstens deine Telefonnummer schicken können. Wo steckst du überhaupt? Meldest dich fast ein halbes Jahr nicht und wunderst dich, dass ich nicht sofort vor Freude losjuble, wenn du dich dann endlich meldest.“
„Du hast recht. War nicht okay von mir, mich nicht zu melden. Aber …“, er schwieg kurz und Jana war sich sicher, dass er sich in diesem Moment durch seine brünetten Haare fuhr und sie zurückschob, so wie er es immer tat, „… aber ich musste erst mit alldem klarkommen. Du weißt schon … Mit … einfach Abstand gewinnen.“
Wieder entstand eine Pause. Es war, als würde eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen stehen. Jana fühlte sich plötzlich hilflos. Es war nicht ihre Stärke, Nähe durchs Telefon aufzubauen. Vielmehr hasste sie es, Probleme über die Leitung zu lösen. Wenn Bernhard neben ihr gesessen hätte, dann hätte sie ihm eine geboxt. Fest genug, um ihm zu zeigen, dass sie gekränkt und ein bisschen wütend war, und er hätte verstanden, wie sie fühlte. Aber so schwieg sie und dieses Schweigen verstärkte die Distanz zwischen ihnen.
„Ich hoffe, es geht dir wieder besser. Deine Schulter, meine ich“, versuchte Bernhard einen zweiten Anlauf, das Gespräch zum Laufen zu bringen. „Ich bin in Dresden. Bei einem Freund. Er hat mir einen Job bei einer der hiesigen Zeitungen verschafft. Ich mach Fotos und so.“ Wieder verstummte er. Jana hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. Irgendetwas, das die spürbare Anspannung lockern würde, aber sie konnte nicht. Es wollte ihr keine versöhnliche Bemerkung einfallen. So schwieg sie und die Chance, ein vertrauliches Gespräch zu führen, verging. Jana spürte, wie sich Bernhard zurückzog – hinter einer Mauer des Schweigens und der Fremdheit. Es schmerzte, aber warum musste sie immer ihre Gefühle zeigen Sie wollte nicht. Und wusste doch im selben Moment, dass sie es tun sollte.
Am anderen Ende der Leitung vernahm Jana ein Schaben und schließlich legte Bernhard mit einem geflüsterten „Entschuldige“ auf. Die Leitung war tot.

Jana starrte eine Weile auf das stumme Handy in ihrer Hand. Dann klappte sie es langsam zu und ließ die Hand in den Schoß sinken. Blicklos starrte sie auf den Bildschirm ihres Fernsehers. Sie sah nichts mehr von der Dokumentation, sondern ihre Gedanken bewegten sich in verschiedene Richtungen. Sie überlegte, warum Bernhard angerufen hatte. Bernhards Anruf war keine Entschuldigung gewesen, vielmehr erschien es ihr, als hätte er verzweifelt versucht, ihr etwas mitzuteilen.
Aber was?
Es tat ihr leid, so abweisend gewesen zu sein. Sie hätte sich ihm anvertrauen sollen. Hätte davon reden sollen, dass sie sich alleingelassen fühlte. Dass sein Fortgang ihr wehgetan hatte. Stattdessen hatte sie geschwiegen und durch ihr Schweigen Bernhard vor den Kopf gestoßen.
Plötzlich hatte sie Angst. Angst, Bernhard endgültig zu verlieren. Oder war das schon geschehen? Kurzerhand klappte sie ihr Handy wieder auf und suchte den letzten Kontakt. „Unterdrückt“ stand da auf dem Display. Sie seufzte genervt auf. Wie um Himmels Willen sollte sie ihn erreichen, wenn er ihr seine Telefonnummer vorenthielt?
Verärgert legte sie das Telefon zur Seite. Sie schaltete die Lautsprecher des Fernsehers wieder ein und versuchte, sich wieder auf die Reportage zu konzentrieren. Gerade wurden Missstände im Rotlichtmilieu aufgezeigt. Moderner Sklavenhandel, Menschenraub und Gewalt standen auf der Tagesordnung. Der Moderator zählte die Städte auf, in denen sich diese Probleme im Milieu massiv verstärkten und zum Abschluss der Aufzählung hörte Jana ihn „Dresden“ sagen.
Während das Wort noch in ihren Kopf nachhallte, stand sie langsam auf. Es war eine unbewusste, spontane Reaktion. Plötzlich war sie sich sicher, dass Bernhard sie brauchte. Sein Anruf war ein Hilfeschrei gewesen. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er es nicht aussprechen würde. „Männer!“, dachte sie bei sich. Dabei war sie auch nicht besser. Es fiel ihr genauso schwer wie ihm, um Hilfe zu bitten.
Ohne noch lange zu zögern, schaltete sie den Fernseher aus, ging ins Schlafzimmer und fing an zu packen. Sie brauchte nicht viel, nur ein paar Jeans, Pullis, Unterwäsche und T-Shirts. Zahnbürste, Duschgel, Handtuch.
Die Reisetasche über die Schulter geworfen, eilte sie die Treppen hinunter. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hallten ihre Schritte durch das Treppenhaus. Zum Glück war sie die nächsten Tage nicht da, sonst würde sich der neue Mieter – Jana versuchte, sich an seinen Namen zu erinnern, jedoch fiel er ihr nicht ein – über ihr rücksichtsloses Benehmen bei ihr beschweren.
Janas alter Citroën stand auf dem Parkplatz vorm Haus. Die Windschutzscheibe war mit Flugzetteln gespickt und sie zog sie hinter den Scheibenwischern hervor. Achtlos warf sie die bunten Reklamen auf den Beifahrersitz. Dabei verrutschten die Blätter. Zu Janas Ärger lugte ein Strafzettel dazwischen hervor. Dabei hatte Jana ihrer Meinung nach ordnungsgemäß geparkt. Nach einem kurzen Blick hinter die Windschutzscheibe stellte Jana fest, dass sie ihren Parkberechtigungsschein durch mehrere Zeitschriften überdeckt hatte. Wütend auf sich selbst, schimpfte sie leise vor sich hin und entfernte die Magazine.
Nachdem Jana ihre Tasche auf den Rücksitz gestellt hatte, schwang sie sich hinter das Lenkrad, setzte zurück und fuhr mit quietschenden Reifen los. Die Vorfreude auf Dresden und Bernhard überlagerten rasch den Ärger über den Strafzettel.

Bald darauf erreichte sie die Autobahnauffahrt. Jana trat das Gaspedal durch. Ihr alter Citroën jaulte auf, kam aber nur langsam auf Touren. Jana wusste, dass seine Tage gezählt waren, jedoch konnte sie sich nicht dazu aufraffen, ein neues Fahrzeug zu kaufen. Sie hing an der alten Karre, trotz der immer häufiger auftretenden Probleme. Kurz darauf erreichte sie die nächste Abzweigung. Sie machte es sich bequem im Sitz, drehte das Radio laut auf und sang mit. Ihr Weg war vorgegeben. Ziel Dresden. Dort würde sie sich ihr weiteres Vorgehen überlegen.
4 Sterne
Spannung bis zur letzten Seite - 08.01.2018
Gugg B.

Wer temporeiche Krimis liebt, ist mit Perlenblut gut bedient. Lebendig und humorvolle Figuren. Realistische Story, spannend bis zum Schluss

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