Hass vergibt niemals

Hass vergibt niemals

Daniel Paech


EUR 13,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 392
ISBN: 978-3-99048-148-6
Erscheinungsdatum: 01.03.2016
Vergeben und vergessen? Hass vergibt niemals. Charlie Winter ist zurück zur finalen Schlacht. Doch jemand kommt ihm in die Quere …
Prolog

„Willkommen bei ‚Kriminell-Aktuell‘. Ich gewähre Ihnen einen Einblick hinter die Kulissen der Verbrechensbekämpfung“, sprach Mareike auf dem Bildschirm in einer Jahreszusammenfassung ihrer Sendung, welche vor fünf Jahren ausgestrahlt wurde.
Es war Februar, und draußen tobte ein heftiger Schneesturm. Hierzulande war das jedoch keine Seltenheit. Der Mann, der auf einer kleinen kanadischen Insel in der Hudson Bay lebte, drückte den Knopf seiner Fernbedienung und spulte an die Stelle, die für ihn wichtig war, und ließ dann die Moderatorin mit ihrem Bericht fortfahren.
„Nachdem dieser Pyromane nun endlich für lange Zeit hinter Gittern sitzt, können die athenische Bevölkerung sowie die Touristen wieder aufatmen.
Kommen wir zu einem weiteren Fall, der im vergangenen Sommer wieder für großes Aufsehen in Deutschland gesorgt hat.
Gordon Winter, hier hinter mir im Bild, Zwillingsbruder von Charlie Winter, ermordete viele Menschen, um seinen Bruder zu rächen.
Zwei Jahre zuvor hatte Charlie Winter es sich zur Aufgabe gemacht, die Menschen zu töten, die ihm in seiner Vergangenheit nur Leid verursacht und Verachtung entgegengebracht hatten. Auf diesem Rachefeldzug tötete er über zwölf Menschen auf bestialische Weise.
Sein bisher unbekannter Zwillingsbruder Gordon lebte derzeit in Australien und wusste nichts von den Geschehnissen, ganz zu schweigen davon, dass er überhaupt einen Bruder hatte. Als er schließlich davon erfuhr, versuchte er alles über seine wahre Familie in Erfahrung zu bringen und drehte schließlich durch.
Im Alter von sechs Jahren war Gordon aus einem Heim zu liebevollen Adoptiveltern gekommen und wuchs behütet und geliebt bei ihnen auf.
Als er erkannte, dass sich Charlie auf den Weg gemacht hatte und seine Peiniger zur Strecke brachte, machte sich Gordon zwei Jahre später ebenfalls auf den Weg, um die Menschen auszulöschen, die ihm seinen Zwillingsbruder genommen hatten. Viele Menschen mussten dabei ihr Leben lassen, bis man ihn in einem kleinen brandenburgischen Städtchen erwischte und er dabei getötet wurde.
Schlimmer allerdings war, dass der bis dahin tot geglaubte Charlie Winter noch am Leben war und sich mit seinem Bruder zusammengetan hatte, um seiner Aussage nach endlich ein unbeschwertes Leben führen zu dürfen, das ihm bisher immer verwehrt wurde. Nach einer Verfolgung, die ihn schließlich bis in die österreichischen Alpen führte, stürzte er in eine tiefe Felsspalte und wurde unter einem riesigen Berg und unter einem auf ihn gestürzten Felsbrocken begraben, wo er nun bis in alle Ewigkeit liegen wird. Die Bergwacht befindet eine Bergung der Leiche für zu gefährlich, da die Felsspalte zu instabil sei. Einen anderen Zugang gibt es nicht.“
Während Mareike ihren Bericht abgab, wurden Bilder der Brüder gezeigt, die mordend durchs Land gefahren waren: die Hütte, in der Nicole einige Zeit gefangen gehalten wurde, die Stelle, an der Gordon zu einem Haufen Asche niedergebrannt war und schließlich die Schlucht, wo Charlie Winter in die Tiefe stürzte und keine Möglichkeit hatte zu entkommen.
Mareike führte im Bericht noch einige Interviews mit Tolli, seiner Frau und der Polizei, doch die waren dem alten Mann mit den weißen Haaren und dem finsteren Blick bekannt. Er kannte alles auswendig. Auch lobte sie sich selbst hoch in den Himmel, da sie wieder einmal eine tragende Rolle dabei hatte.
Schließlich verabschiedete sie sich am Ende der Sendung. „Und denken Sie daran, Verbrechen lohnt nicht. Die Polizei findet sie überall.“
Die Sendung war vorbei und der Mann, alt, krank und schwach im Bett liegend, schaltete die Aufzeichnung wieder ab und wechselte zu einer der Überwachungskameras, die auf seinem gesamten Anwesen verteilt waren. Der alte Mann betrachtete einen jungen Mann, der gerade im Trainingsraum war und seine Kondition stärkte. Davon würde er nämlich sehr viel brauchen, denn es dauerte nicht mehr lange und er würde Charlies Werk, natürlich auch das von Gordon, endlich zum Abschluss bringen.
„Bald, bald wird deine Zeit kommen, und ich werde dich auf die Menschheit loslassen.“ Der alte Mann musste husten und führte sich dann eine kleine Sauerstoffmaske zu Mund und Nase, inhalierte einige tiefe Züge und wartete, bis sich sein Anfall wieder gelegt hatte. „Wir werden uns das holen, was den beiden missglückt ist und sie somit ehren. Das ist ein Versprechen, das ich gebe, denn das bin ich den beiden schuldig.“


1

„Weihnachten, die besinnlichste Zeit des Jahres. Zusammen mit der Familie unter dem Weihnachtsbaum sitzen und vielleicht ein paar Liedchen trällern. Doch auch die Vorweihnachtszeit mit all ihren Reizen ist etwas Wunderbares. Ich schlendere gerne durch die Straßen mit den festlich geschmückten Häusern. Auch die Weihnachtsmärkte mit ihren Gerüchen nach gebackenen Keksen und Lebkuchen mag ich. Die unzähligen anderen Stände mit den vielen tollen und schmackhaften Naschereien finde ich anziehend. Ich liebe es, durch die Kaufhäuser zu ziehen und Geschenke für Freunde und die Familie zu kaufen. Ich freue mich dann schon immer auf die Gesichter der Kinder mit ihren riesigen Augen, wenn sie die Päckchen voller Erwartungen aufreißen. Die Gesichter der Erwachsenen über die Geschenke, die niemand braucht. Ich freue mich das ganze Jahr auf diese ruhige, besinnliche und friedliche Zeit.
Eine friedliche Zeit – sollte man jedenfalls annehmen.
Ich, Ihre Mareike von Kriminell-Aktuell, stehe hier vor einer der größten Kirchen Hamburgs. In dieser heiligen Stätte hat sich ein grauenvolles Verbrechen zugetragen, dass einem regelrecht die Vorfreude auf das bevorstehende Fest vergehen kann.
Unbestätigten Hinweisen zufolge wurde Pastor Richard Keller niedergestochen und anschließend verkehrt herum an ein Kreuz gehängt. Entdeckt wurde der Pastor von einem Kollegen, der die Türen für die Messe aufschließen wollte. Er steht noch unter Schock und wurde von einem Rettungswagen in ein nahe gelegenes Krankenhaus gebracht, wo er von Fachärzten untersucht und betreut wird.
Ich habe den zuständigen Ermittlungsbeamten noch nicht befragen können, doch dass versuche ich nun nachzuholen, sollte ich ihn hier entdecken. Sobald ich ihn gefunden habe oder Ihnen weitere Einzelheiten über diese abscheuliche Tat berichten kann, melde ich mich umgehend bei Ihnen.
Von ‚Kriminell-Aktuell‘ nun zurück ins Studio, Ihre Mareike.“
„Okay, wir sind raus“, sagte Benno hinter der Kamera und schaltete sie ab.
„Da freut man sich auf ein ruhiges Wochenende, an dem man etwas shoppen gehen kann und einen Freund trifft und dann so etwas“, fluchte Mareike, denn sie hatte sich diesen Hamburgaufenthalt etwas anders vorgestellt.
„Warum hast du uns dann eigentlich mitgenommen?“, wollte Benno wissen, der Alex dem Tontechniker zuzwinkerte und verstohlen auflachte. „Klara Klatsch beim Einkaufen? Das interessiert doch keinen.“
„Hast heute ’nen Clown gefrühstückt, was? Du weißt, warum wir hier sind.“ Mareike sah auf ihre Uhr und war erstaunt über die Zeit, die wie im Flug vergangen war, ohne dass sie etwas über die Leiche in der Kirche herausgefunden hatte.
„Ich sollte mich in einer halben Stunde mit Tolli auf dem Rathausplatz treffen“, sagte sie nachdenklich. „Ich will mir aber auch nicht diese Story entgehen lassen. Ich schlage vor, ihr bleibt hier und versucht etwas Neues herauszufinden. Fahrt von mir aus auch in die Gerichtsmedizin und befragt den zuständigen Pathologen! Ich gehe zum Rathausplatz und treffe Tolli. Nachher treffen wir uns im Hotel wieder. Falls es Neuigkeiten gibt, die schnell raus müssen, ruft ihr mich an.“
„Ja Ma’am“, erwiderte ihr Assistent Florian und der Vierte im Bunde vom ‚Kriminell-Aktuell‘-Team, der sich nun ehrfürchtig vor seiner Chefin verbeugte.
„Mach weiter so und du bekommst in zehn Jahren eine Gehaltserhöhung“, sagte Mareike lächelnd und war damit schon auf dem Weg.
Sie mochte die Weihnachtszeit und alles, was dazugehörte, tatsächlich. Nachdem sie fast das gesamte Jahr für ihre Sendung unterwegs war, hatte sie an den Feiertagen endlich Gelegenheit, ihre gesamte Familie zu sehen. Es war ein ziemlich großer Haufen, doch jedes einzelne Mitglied liebte sie. Alle zusammen hatten immer einen riesigen Spaß und jetzt das. Wenn es schon so anfing, konnte es nicht besser enden.
Sie wollte hier in Hamburg mit Tolli mehr über den noch immer verschwundenen Lucas Wagner herausfinden, um ihn letztendlich aufspüren zu können. Lucas war plötzlich verschwunden und ohne eine Spur zu hinterlassen. Er hatte irgendwann in Hamburg gelebt, und es konnte doch sein, dass er hierher zurückgekehrt war, nachdem er damals kam, um bei der Suche nach Carstens Mörder zu helfen. Dazu hatte Mareike vorsichtshalber auch Florian, Bennie und Alex aus ihrem Team mitgenommen, denn man konnte ja nie wissen, wohin die Story noch gehen würde. Auch Nadja, die sämtliche Geräte des Funkwagens im Schlaf bedienen konnte, war dabei.
Danach wollten Mareike und Tolli über den großen Weihnachtsmarkt mit all seinen Schaustellern schlendern und die Atmosphäre auf sich wirken lassen.
Über fünf Jahre waren vergangen, seit Tolli und Nicole die merkwürdige Nachricht auf dem Anrufbeantworter vorgefunden haben. Wie er ihr erzählte, hat die Mutter von Lucas über sehr sehr viele Umwege die Telefonnummer von Tolli in Erfahrung gebracht. Sie hatte Mareikes Bericht zu den Gebrüdern Winter im Fernsehen gesehen und ihren Sohn auf dem Bild wiedererkannt. Dieser galt schon damals seit vielen Jahren als vermisst. Die Gründe dafür waren ein riesiges Geheimnis und Tolli, genau wie Mareike, hatten alles daran gesetzt das Geheimnis zu lüften. Doch auch nach dieser langen Zeit schien dieser dicke Schleier der Vergangenheit undurchdringlich.
Mareike und Tolli recherchierten lange und kamen dann endlich an Lucas’ Akte, die einige Aussagen der Mutter bestätigte. Doch einige Ungereimtheiten blieben bestehen.
Jetzt hatte die Mutter wohl etwas Neues herausgefunden und deshalb war Mareike eigentlich nur nach Hamburg gekommen. Sie wollte sich auch nochmals die Mutter von Lucas vornehmen, denn sie verschwieg offensichtlich noch einiges, was wichtig sein könnte. Und jetzt das.
Sie überlegte, ob die Arbeit sie verfolgte und dies nicht zum ersten Mal seit dem Beginn ihrer großen Karriere. Oder wusste ihre Arbeit, wann Mareike wo war und wartete dann dort auf sie, wie jetzt bei dem toten Priester.
Vier Stunden in der klirrenden Kälte hatte sie mit ihren Kollegen ausgeharrt, doch außer dem Hinweis auf eine morgige Pressekonferenz um acht Uhr war den Beamten nichts zu entlocken gewesen. Mareike und ihre drei Mitarbeiter waren sogar durch einen ungesicherten Seiteneingang in die Kirche gekommen. Als sie jedoch drinnen waren und einen kurzen Blick auf den Toten erhascht hatten, wurden sie entdeckt und wieder hinausgeführt.
Jetzt rief sie sich ein Taxi herbei und fuhr zum Rathaus, wo Tolli bereits mit einer Frau mittleren Alters auf sie wartete.


2

Der Weihnachtsmarkt am Hamburger Rathaus hat eine lange Tradition und er bot etwas für jedermann. Zahlreiche Buden und sonstige Attraktionen. Stände aus sämtlichen Regionen waren hier zu finden. Es gab sogar Budenbesitzer, die von weither kamen, nur um die Atmosphäre in der Hansestadt zu dieser Jahreszeit mitzuerleben.
So auch „Flo’s Thüringer Express“. Flora und ihr reisender Imbisswagen zogen das ganze Jahr über durch Deutschland. Sie wollte die Spezialitäten ihrer Heimatregion auch den anderen Gegenden Deutschlands nicht vorenthalten. Der absolute Renner waren natürlich die Thüringer Rostbratwürste, doch auch die Rostbrätle waren extrem begehrt. Im Sommer verkaufte sie dazu kalte Limonade oder Fruchtsäfte. Jetzt und hier auf diesem Markt fand sie das aber nicht passend und nahm Glühwein und heißen Kakao in ihr Getränkesortiment auf. Ab und zu trank sie selbst von dem heißen Kakao, den sie sich noch mit einem Schluck Rum verfeinerte.
Flora sah aus wie immer. Die rote Latzhose mit ihrem Namen in quietschbunten fröhlichen Buchstaben und über dem „O“ im Namen war eine kleine Weihnachtsmannmütze aufgestickt, an deren Spitze ein kleines stetig blinkendes und nie müde werdendes Lämpchen baumelte. Das gelbe Shirt war einem dicken und mollig warmen gelben Pullover gewichen. Zudem trug sie eine rote Weihnachtsmannmütze auf dem Kopf.
Der Imbisswagen hatte sich ebenfalls nicht verändert. Immer noch zierte die braune Wurst die Vorderseite. Lediglich einen neuen Anstrich hatte sie bekommen und sah eigentlich noch geschmackloser als vorher aus. Die Rechtschreibfehler auf der Speisekarte hatte sie allerdings berichtigt. „Flos Thüringer Express“ leuchtete in bunten Buchstaben auf. Das Foto ihres ersten Enkelkinds hatte jedoch Gesellschaft bekommen. Jetzt hingen insgesamt vier Bilder ihrer Enkel dort.
„Die vier sind mein ganzer Stolz“, erzählte sie jedem, der die Bilder auch nur mit einem Seitenblick streifte. „Die sind echt süß, nich wahr? Der Kleene is jetzt schon fast acht. Die Mädchen sind sieben und fünf. Der Kleinste wird zwei. Ich freue mich schon, wenn wir alle zusammen das Weihnachtsfest verbringen und ich mit den Kleenen spielen kann. Ich seh die das ganze Jahr nich.“ Das erzählte sie so ziemlich jedem, der an ihren Stand herantrat. Verwunderlich war, dass sich jeder Kunde das mit der Zeit immer stärker werdende Geplapper anhörte. Je mehr Zeit verging, desto mehr erzählte sie, da auch immer mehr Kakao-Rum-Getränke sie von innen her aufwärmten. Sie hatte schon eine rote Nase und glühende Wangen, doch das war kein Grund den Stand zu schließen. Sie hatte sichtlich Spaß daran, sich mit ihrer Kundschaft zu unterhalten, während sie mit ihrem Weihnachtsbesteck die Wünsche der hungrigen Menschen erfüllte. Das Besteck lagerte das ganze Jahr über in einem Karton. An den Enden waren entweder kleine Weihnachtsmannmützchen oder Rentierköpfe. Wenn gerade keine Kundschaft dort war, spielte sie mit diesem Besteck herum, um sich die Langeweile zu vertreiben.
„Geht dir der Typ mit seiner Scheißpanflöte auch so auf die Nerven wie mir?“, wollte Mike Schreiber wissen, als er an ihren Stand kam, wo sie gerade einen kräftigen Schluck Kakao mit Schuss hinunterkippte. „Der spielt schon den ganzen Tag den gleichen Müll. Das klingt doch alles gleich.“
Mike, der seine „Obst- und Gemüsestube“ in Wormbach führte, war ebenfalls ein immer wiederkehrender Gast auf dem Hamburger Weihnachtsmarkt und hatte seinen Stand direkt neben dem von Flora. Die zwei hatten sich gleich angefreundet und schoben sich hier und da die Kunden gegenseitig zu. Er hatte Verwandtschaft in dieser Gegend und verbrachte die Weihnachtstage jedes Jahr dort. Auf dem Marktplatz verkaufte er zu dieser Zeit jedoch nicht unbedingt sein Obst und Gemüse. Seine gesunden Äpfel waren mit Schokolade oder anderen, viel zu klebrigen Elementen überzogen. Seine gebrannten Mandeln waren der Hit. Aber er hatte auch Zuckerwatte oder Schokobananen im Angebot. Ab und zu, wenn seine Frau, die ihn begleitete und ihm beim Verkauf unterstützte, nicht hinsah, naschte er von seinen süßen Leckereien. Vor allem konnte er nicht von seiner nach Nuss schmeckenden Schokolade in dem erwärmten Schokobad lassen. Er tauchte hin und wieder eine Waffel hinein und lutschte daran genüsslich.
„Du musst das locker sehn. Es is Weihnachten, das Fest der Liebe und Besinnlichkeit“, sagte Flora zu Mike, der schon Kopfschmerzen von diesem Flötengedudel hatte.
„Das hört sich alles gleich an.“
„Du hörst einfach den Unterschied nich raus“, kam es laut lachend von Flora.
In der Nähe befand sich eine Gruppe ausländischer Studenten, denen das Geblase dieses Panflötenspielers ebenfalls auf die Nerven ging. Es waren einige Polen, Türken, Italiener und Spanier unter ihnen. Sogar zwei Japaner gehörten dieser kleinen Gruppe an.
„Hör endlich mit diesem Scheiß auf und klettere auf den Baum zurück, von dem du Primat heruntergefallen bist“, grölte einer der Studenten hinüber und Mike musste unweigerlich grinsen.
Der Mann hörte mit seiner Musik auf und wandte sich an die Gruppe. „Welch harte Worte. Ich bin erstaunt, dass ihr kleinen Pisser solche Wörter überhaupt in eurem Repertoire habt. Was kommt jetzt? Nimmst du mir mein Instrument ab, indem du mir ein Messer unter die Nase hältst? Ein bisschen Angeben vor deinen kleinen Schwuchteln?“
Einige der Studenten lachten auf und warteten ab, was ihr sogenannter Anführer tun würde. Würde er sich diese Worte gefallen lassen und seines Weges gehen, oder eventuell mit Gewalt darauf reagieren? Die Truppe war reichlich angeheitert, was nach der großen Anzahl an geleerten Glühweinbechern auch kein Wunder war.
Der Panflötenmann setzte seine Musik fort.
„Ich hab dich ja gewarnt. Ich schieb dir dieses Scheißteil in den Arsch. Mal sehen, was dann für Musik daraus erklingt.“
Die Gruppe Studenten setzte sich in Bewegung und ging bedrohlich auf den Mann mit den langen Haaren zu. Dabei beschimpften sie ihn mit unverständlichen Worten ihrer Muttersprache.
Kurz darauf vermöbelten sie den Kerl, der die Weihnachtsstimmung bei Mike mit dieser Musik sichtlich vertrieben hat.
„Hilfe, da muss doch eina helfn“, schrie Flora entsetzt auf und einige Besucher des Weihnachtsmarktes kamen herbeigeeilt, um die raufende Meute zu trennen, doch das nutzte nichts. Immer wieder gingen sie auf den am Boden liegenden Musiker los.
Die Fäuste flogen. Tritte in verschiedene Körperregionen gab es ebenfalls, und als Mike nochmals einen Anstoß von Flora bekam, ging er ebenfalls dazwischen, um die prügelnde Menge zu trennen. Er war groß und kräftig gebaut. Er wusste sich durchaus zu wehren, was das Ergebnis eines toten Mitbürgers vor einigen Jahren belegte. Er schnappte sich einen der Polen, zog ihn zu sich heran und gab ihm einen kräftigen Faustschlag aufs rechte Auge. Der flog daraufhin rückwärts um, wie in einem der Prügelfilme mit Bud Spencer und Terence Hill.
Mike drehte sich um und wollte sich den Nächsten krallen, doch dabei hatte er den auf ihn zustürmenden Türken zu spät gesehen. Mike wurde buchstäblich umgerannt. Der Kleine setzte sich auf ihn und wollte Mike mit seinen Fäusten bearbeiten, doch die richtige Gelegenheit verpasste er, weil er sich nur einen kleinen Bruchteil einer Sekunde ablenken ließ. Mike holte so viel Schwung, wie er aufbringen konnte, und stieß den mageren Türken von sich. Gleich darauf stand er wieder auf und knöpfte sich den Zwerg vor. Er packte ihn am Kragen und am Hosenbund, hob ihn leicht hoch und schleuderte ihn von sich. Die Richtung hätte er jedoch vorher besser auswählen sollen, denn der Türke krachte in Mikes Stand hinein und richtete ein ziemliches Chaos mit einer großen Sauerei an.
Ein weiterer Türke ging auf Mike los, als dieser ihm den Rücken zukehrte und sich das Durcheinander seines Standes entsetzt betrachtete. Er klammerte sich von hinten an Mike, doch der gab dem Türken eine harte Kopfnuss, rammte anschließend seinen linken Ellenbogen gegen dessen Nase und brach sie ihm.
Der Angreifer ließ von Mike ab und hielt sich mit gellenden Schreien voller Schmerz seine blutende und vor Schmerz pulsierende Nase. Dann stürmte er noch wütender als zuvor auf Mike los, doch der trat beiseite, der Student verpasste ihn, bekam einen Tritt in den Hintern und krachte ebenfalls in Mikes Stand zu seinem türkischen Freund.
Die Menschenmasse an Schaulustigen wuchs immer weiter an, doch niemand griff mehr ein. Sie gaben kluge Sprüche von sich, doch niemand unterstützte den Musiker oder Mike.
„Will denn keener helfn?“, brüllte Flora die Leute an. „Habt ihr nüscht besseret zu tun, als hier rumzustehn und zu gaffn?“
Mike wurde jetzt erst richtig wütend. Ein heftiger Adrenalinschub ließ seine Wut noch anschwellen, denn sein Stand war hinüber und er konnte einpacken.
Die beiden am Boden Liegenden kamen stöhnend wieder auf die Beine. Sie waren von oben bis unten mit einem Gemisch aus geschmolzener Schokolade und dem leuchtend roten und gelben Überguss der kandierten Früchte beschmiert. Gebrannte Mandeln lugten aus der Pampe an der Kleidung hervor.

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