Graciella in Not

Graciella in Not

A.E. Mund


EUR 15,90
EUR 9,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 212
ISBN: 978-3-95840-934-7
Erscheinungsdatum: 19.02.2020

Leseprobe:

Immer wieder hatte er den Termin verschoben – heute war es so weit. Am liebsten hätte er noch vor der Praxis umgedreht, aber er biss die Zähne zusammen und drückte die Tür auf.
„Guten Morgen.“
Die Dame am Empfang lächelte ihn an: „Guten Morgen.“ Sie schaute erwartungsvoll.
„Mein Name ist Brilloux. Ich habe einen Termin um zehn.“ Er lächelte, zeigte dabei ein wenig die Zähne, schüttelte leicht das etwas strähnige graue Haar, das er gerne etwas länger ließ, und sah die Sprechstundenhilfe mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Ja, natürlich Monsieur Brilloux. Nehmen Sie doch schon im Sprechzimmer Platz. Monsieur le Professeur wird sofort bei Ihnen sein.“ Sie stand auf, ging vor ihm den schmalen Gang entlang und wies einladend mit der Hand in das Sprechzimmer für Privatpatienten. Es war ein großer, gediegen eingerichteter Raum mit großer Fensterfront und dickem Teppich.
„Danke, sehr freundlich.“ Brilloux verneigte sich leicht in Richtung der jungen Dame und ging zu einem riesigen Schreibtisch, der den Raum beherrschte. Er setzte sich auf einen der beiden großen Besuchersessel und wartete. Als er sicher war, dass ihn niemand beobachtete – die Sprechstundenhilfe war zur Rezeption zurückgekehrt und der Professor noch nicht da –, wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Wie würden wohl die Ergebnisse sein? Der Professor hatte sich geweigert, ihm am Telefon die Ergebnisse der vielen Tests und Untersuchungen mitzuteilen.
„Lieber Monsieur Brilloux, kommen Sie in die Praxis. Dort können wir über alles sprechen. Das ist doch viel besser als am Telefon.“ Die Stimme des Professors hatte zuversichtlich geklungen, warm und väterlich. So hatte Brilloux sich nicht getraut, zu insistieren.
„Also gut, Monsieur le Professeur. Ich werde einen Termin vereinbaren.“
„Sehr gut! Ich verbinde Sie dann jetzt wieder mit Madame Lerouge. Sie wird Ihnen einen Termin nennen. Bis dahin, Monsieur Brilloux.“
Das war jetzt beinahe drei Wochen her. Er hatte zwar einen Termin für den übernächsten Tag vereinbart, hatte ihn aber dann wieder abgesagt. Und den nächsten vereinbart. Und wieder abgesagt. Und jetzt …
„Guten Tag, Monsieur Brilloux“, der Professor streckte ihm lächelnd die Hände entgegen, „wie geht es Ihnen?“
„Gut, sehr gut. Danke! Guten Tag, Monsieur le Professeur.“ Brilloux schüttelte die Hand des Professors und suchte in dessen Gesicht nach Anzeichen von Besorgnis.
„Setzen wir uns doch!“
Als sie sich gesetzt hatten, hielt Brilloux es nicht mehr aus. „Was ist es, Monsieur le Professeur? Sagen Sie es mir bitte!“ Erregt war er aufgestanden.
„Bleiben Sie doch sitzen, Herr Brilloux. Bitte!“ Der Professor deutete auf den leeren Stuhl.
„Gewiss, entschuldigen Sie, aber …“, er erstarb. Bittend schaute er den Professor an. Und dann kamen all die furchtbaren Begriffe. Neurologisch … nicht eindeutig … auch Alzheimer … Plaques … Hirn … Ausfallserscheinungen … zunehmend.
Brilloux konnte sich hinterher nicht mehr erinnern, wie er nach Hause gekommen war. Irgendwie hatte er sich wohl anständig und höflich von dem Professor verabschiedet – so hoffte er zumindest. Er wusste es nicht mehr. Irgendwann war er dann zu Hause gewesen. War auf Graciella gestoßen und hatte sich schlagartig zusammengenommen. Graciella, seine schöne Frau. Seine junge Frau. Seine dritte Frau. Seine Frau, die nicht wissen durfte, wie es um ihn stand, denn dann, das wusste er, würde es schrecklich werden.
„Was hältst du davon, wenn wir eine Kreuzfahrt machen?“ Brilloux blätterte in seiner Zeitung, schaute kurz über eine Ecke zu Graciella und las weiter. Er wollte seinen Wunsch unbeteiligt klingen lassen, so, als habe er gerade eben die Idee dazu gehabt.
Seit Tagen überlegte er, wie er mit der Diagnose einer möglichen Alzheimer Erkrankung umgehen sollte. Ruhe war das Einzige, was ihm geeignet schien, die Sachlage zu verbessern. Vielleicht war es ja auch gar kein Alzheimer! Nur eine neurologische, zeitweilig auftretende Störung, die mit zerstörerischen Kopfschmerzen und diesen furchtbaren Fingerkrämpfen einherging, die – das hatte der Professor zugeben müssen – nicht zum Alzheimerbild passten. Aber, so hatte er erklärt, als Brilloux ihn ein paar Tage nach der Flucht aus seiner Praxis angerufen hatte, möglicherweise handele es sich um zwei nebeneinander bestehende Krankheitsbilder. Und eines davon könnte Alzheimer sein. Dazu seien weitere Tests vonnöten.
„Schon wieder? Wir sind doch gerade erst zu Hause angekommen!“ Graciella schien nicht sonderlich begeistert. „Außerdem habe ich keine Lust, mich erneut als dein Anhängsel von all den schmierigen Köchen, Souschefs, Restaurantmanagern und den widerlichen Kellnern anstarren zu lassen. Diese subalternen Widerlinge! Ekelhaft!“ Sie betrachtete ihre Fingernägel. Erst gestern war sie bei der Nageldesignerin gewesen. Angeblich war bordeauxrot mit vanillefarbenen Streifen gerade angesagt. Graciella war sich allerdings nicht sicher, ob ihr das gefiel. Andererseits …
„Wir können ja mal ganz privat fahren“, fuhr Brilloux in ihre Gedanken.
„Ja, natürlich!“ rief Graciella. „Der große Brilloux, Restaurantkritiker erster Güte, reist ganz privat auf einem Luxusschiff! Wie originell!“ Spöttisch schaute sie in Richtung ihres Mannes. „Kannst du nicht mal dein blödes Blatt weglegen, wenn ich mit dir sprechen soll?“ Wütend warf sie eine Olive gegen die Zeitung.
„Graciella!“ Brilloux stöhnte. „Zügele dein chilenisches Temperament. Bitte!“ Er ließ die Zeitung sinken. „Und ja, ganz privat. Du weißt doch, wie angegriffen ich bin. Da wäre es doch wunderschön, wenn wir mal ausspannen würden. Nur du und ich. Mann und Frau. Gut bedient, aber inkognito. Was meinst du?“
„Inkognito!“ Graciella schnaubte durch die Nase, schüttelte ihr blondes Haar und stand auf. Mit aggressiven Bewegungen strich sie über ihre Hüften, als wolle sie etwas Lästiges entfernen. „Du und inkognito! Wenn du etwas hasst, dann ist es, nicht aufzufallen. Du genießt es doch, wie alle diese Schmeißfliegen um dich herumschwänzeln! Du ziehst sie doch geradezu an, diese Speichellecker und Bücklinge! Du genießt das doch!“ Ihre Stimme begann, schrill zu werden.
„Das ist nicht wahr!“ Brilloux erhob sich würdevoll, strich sich das Haar zurück, streckte den Oberkörper und legte die Zeitung beiseite. Graciella lachte höhnisch. „Und ob!“
„Weißt du, all diese Speichellecker und Bücklinge, wie du sie nennst, erhalten dir dein Luxusleben. Ohne sie gäbe es keinen Restaurantkritiker Brilloux und ohne Brilloux gäbe es keine dritte Madame Brilloux!“ Seine Stimme war sarkastisch geworden. „Vielleicht bin ich ja auch nur müde und möchte mich endlich ausruhen. Von der Arbeit, von dir …“ Er ließ den Satz unausgesprochen in der Luft hängen. „Weißt du, vielleicht sollte ich einfach Schluss machen. Du weißt doch, wenn’s am schönsten ist, soll man gehen. Was würdest du dann wohl machen? Als Witwe Brilloux? Ohne Geld? Als Almosenempfängerin der Kinder, meiner Kinder? Ob sie dir wohl was abgeben würden?“ Er schaute Graciella schadenfroh an. „Vielleicht würdest du dann all den Kellnern, Restaurantchefs und Köchen anders begegnen? Hm? Was meinst du?“ Er hob ihr Kinn hoch. Graciella schaute ihn mit schmalen Augen an. Sie kochte vor Wut. Schon wieder diese diffuse Drohung, die so lächerlich war. Als ob ein Egomane wie Brilloux sich umbringen würde!
„Bring dich doch um!“, schnaubte sie und drehte ihren Kopf weg. „Ich werde dich nicht daran hindern!“ Sie stampfte mit dem Fuß auf. „Tu es doch! Du wirst schon sehen, was du davon hast!“ Sie stürmte aus dem Zimmer. Dieser Idiot! Und das Schlimmste war, dass sie tatsächlich nichts von dieser Ehe hatte, bis er sein Testament zu ihren Gunsten ändern würde. Bisher gab es nur diese Lebensversicherung. Sonst nichts. Und die würde ja wohl noch jahrelang nicht ausgezahlt werden, so fit wie Brilloux war. Es war zum Verrücktwerden!
„Good morning, Sir! Welcome on board!“ Der Steward lächelte Brilloux freundlich an. Graciella hatte vor ihm das Schiff betreten. Brilloux musste vorsichtig sein, um sie nicht weiter zu reizen. Nach langem Hin und Her hatte sie schließlich zugestimmt, mit ihm diese Reise zu unternehmen – unter der Voraussetzung, dass sie nicht als Restaurantkritiker samt zugehöriger Gattin reisten, sondern ganz normal als Monsieur und Madame Brilloux. Sie hatten nach Reiserouten und Anbietern geschaut und sich schließlich für die Holy Land Tour von Royal Caribbean entschieden. Nicht dass es Brilloux besonders nach Israel ziehen würde; wer, wenn nicht jüdisch oder russisch, interessierte sich schon für ein Land voller Unfreundlichkeit, Starrsinn und Zweckmäßigkeiten? Brilloux war schon vor Jahren dort gewesen und außer vielen bewaffneten und unfreundlichen Menschen und einem großen Rummel um die verschiedenen Religionen hatte er nichts Reizvolles finden können. Ein Israeli, den er in einem wirklich gut geführten Restaurant im Royal Plaza irgendwo in diesem trüben Land kennengelernt hatte, hatte ihm klarzumachen versucht, dass die Israelis nicht unfreundlich, sondern nur realistisch seien.
„Wissen Sie, wenn Sie immer und überall als Feind angesehen werden und ständig in potenzieller Lebensgefahr schweben, können Sie anderen Menschen nicht mit offenem Herzen und freundlichem Gesicht entgegentreten. Sie werden ernst sein, ernst und realistisch.“
Der Mann hatte Brilloux nicht überzeugen können. Hatte er nicht selbst immer viel durchmachen müssen und war er nicht auch immer von Feinden umgeben? Dennoch war er stets freundlich und zuvorkommend. Nein, er verstand die Israelis nicht. Und er hatte die Holy Land Tour nur gebucht, weil es viele Seetage gab. Er fühlte sich wirklich abgeschlagen und durfte es doch nicht zeigen. Es hatte verschiedene Europa-Touren gegeben, auch von anderen Anbietern, aber er wollte Royal Caribbean, er wollte Service rund um die Uhr, er wollte umsorgt sein und so wenig Graciella wie möglich. Daher hatte er alle Land-Touren, die es gab, gebucht. Und für Ägypten, die erste Station nach zwei Ruhe-Seetagen, war sogar ein Übernacht-Landausflug angeboten worden. Den hatte er sofort gebucht. Er war sicher, dass es den einen oder anderen Gentleman geben würde, der sich der armen Graciella annehmen würde, wenn er leider aus gesundheitlichen Gründen verhindert sein würde, an dieser einmaligen Fahrt teilzunehmen. Dann konnte Graciella allein gehen und wäre doch gut versorgt. Nicht, dass er sie loswerden wollte. Sie war eine sehr attraktive Frau, schlank, zierlich und amüsant. Aber eben jung, und das konnte er nur genießen, wenn er sich wohlfühlte. Er musste wieder zu Kräften kommen, musste genesen – von was auch immer –, dann würde er Graciella auch wieder gerecht werden können. In den letzten Tagen hatte er versucht, besonders aufmerksam ihr gegenüber zu sein. Als sie die Bestätigung ihrer Reise erhielten, war es aber doch beinahe wieder zu einer Szene gekommen. In dem Brief hatte es geheißen, dass leider alle Außenkabinen belegt seien und das Management der Vision of the Seas, wie ihr Schiff hieß, sich die Freiheit genommen habe, für das Ehepaar Brilloux die einzig noch freie Suite, natürlich ohne Aufpreis, zu buchen. Sie bestehe aus zwei Räumen und verfüge über einen Balkon. Man hoffe, damit keine Unannehmlichkeiten zu verursachen.
Natürlich war Graciella sofort klar gewesen, dass das Management der Cruise sicherstellen wollte, dass es Brilloux an nichts fehlen würde. „Die wissen, wer du bist. Und das bedeutet wieder dieses endlose Defilee von Leuten, die etwas von dir wollen! Ich glaube nicht, dass wir das wollten!“ Zornig hatte sie ihn angesehen.
„Graciella, was kann ich dafür, wenn auf dem Schiff nur noch diese Kabine frei ist? Ist doch schön, wenn wir einen Balkon haben, auf dem du deine Zigaretten rauchen kannst. Und wenn wir zwei Räume haben, ist das doch auch nicht schlecht, oder?“ Er hatte sich bemüht, nicht allzu erschöpft zu klingen. Natürlich war auch ihm bewusst, dass die Leitung der Vision ihm signalisieren wollte, dass sie wussten, wen sie an Bord haben würden. Er war in der Restaurantszene eben bekannt wie ein bunter Hund. Und die Flotte von Royal Caribbean war für ihre gute Küche bekannt. Auf ihrem Schiff würden einhundertundacht Köche arbeiten, das hatte er sofort recherchiert. Sie arbeiteten für drei Restaurants. Natürlich mussten sie auch noch die Frühstücks-, Mittags- und Abendbüfetts bestücken. Er hatte nicht vor, sich übermäßig unters Volk zu mischen. Und das wollte Graciella auch nicht. Da man ihnen durch das Upgrading den nötigen Komfort ermöglicht hatte, würden sie das Frühstück in der Suite einnehmen und den Mittagsimbiss und das Abendessen natürlich im Restaurant.
Nachdem Graciella und Brilloux ihre Seepässe mit Foto und Raumnummer erhalten hatten, suchten sie ihre Suite auf. Sie lag auf Deck vier, direkt an der Schiffsspitze, und bestand aus einem Schlafzimmer, einem schönen offenen Salon mit Balkon und einem Badezimmer mit Dusche. Ein Fruchtkorb stand im Salon sowie, in einem Sektkühler, eine Flasche Korbel Champagne. Ein Gruß vom Kapitän der Vision.
„Na, zufrieden?“ Brilloux schaute Graciella an. „Ist doch gar nicht so schlecht, oder?“
„Solange mich die Leute in Ruhe lassen, ist mir alles andere egal!“ Sie steuerte auf den Sekt zu. „Korbel Champagne, amerikanischer Sekt. Sicherlich gut, wenn man Amerikaner ist. Die können sowieso nicht Sekt von Mineralwasser unterscheiden. Es sei denn, es ist ohne Kohlensäure. Oder es ist braun.“ Sie drehte die Flasche unschlüssig hin und her.
„Du meinst, weil es sich dann um Cola handelt?“ Brilloux trat zu ihr. „Gib her, ich mache sie auf. Als Begrüßungsgetränk kann man den durchaus trinken. Heute Abend gehen wir zum Gewohnten über!“
Nachdem sie ihre Koffer ausgepackt hatten, immer von einem Schlückchen Sekt begleitet, wollte Graciella das Schiff erkunden.
„Es ist sicherlich nicht viel anders als die Legend letztes Jahr. Und ich bin müde. Ich würde mich gerne etwas ausruhen. Willst du nicht alleine gehen?“ Er fühlte schon wieder diese entsetzlichen Kopfschmerzen kommen. Es zog ihn ins Bett. Gardinen zu, Licht aus und nur noch schlafen. Das war sein Wunsch. Doch Graciella zeigte sich nicht davon angetan.
„Ach bitte! Wir gehen nur ein wenig herum. Dann wissen wir auch, wo die Zigarrenlaunch ist und welche Shops an Bord sind. Und außerdem können wir uns dann ja in eine Bar setzen und etwas Dom Pérignon trinken. Oder einen Pastis. Bitte! Das Seating ist erst um Viertel vor neun und jetzt ist es gerade mal halb fünf!“ Graciella schaute ihn bittend an. Eigentlich war es das erste Mal seit Wochen, dass sie ihn erwartungsvoll und offen anschaute. Kein Ärger, kein Zorn, keine Verachtung. Nur Gespanntheit, ob er mitkommen würde. Und obwohl Brilloux merkte, wie sich seine Finger gegen seinen Willen krümmten, konnte er ihr diese Bitte nicht abschlagen.
„Na gut. Dann komm.“ Er steckte seinen Seepass ein.
„Oh gut!“ Graciella warf sich an seine Brust und legte die Arme um ihn. „Vielleicht wird es ja doch eine schöne Reise“, flüsterte sie und küsste ihn. Und Brilloux wusste wieder, warum er so eine junge Frau geheiratet hatte.
Als Graciella und Brilloux etwas später gut gelaunt ihre Suite verließen, wurde über Lautsprecher die nun stattfindende Katastrophenschutzübung angekündigt. Sie schauten sich an.
„Brauchen wir das?“ Graciella hatte augenscheinlich keine Lust, sich den Anforderungen zu fügen.
„Oje, nein, eigentlich brauchen wir das nicht, aber du weißt ja, dass sie keine Ruhe geben bis alle auf dem richtigen Deck erschienen sind. Es ist zwar enervierend, aber was soll’s.“ Er strich sich das Haar zurück – eine Geste, die seine Stimmung verdeutlichte, leicht angewidert und wissend um die eigene Überlegenheit. „Also komm. Wenigstens müssen wir heute nicht wie letztes Jahr diese fürchterlichen Schwimmwesten mitnehmen. Schreckliche Ungetüme!“ Auf ihrem Seepass war die Nummer ihres Notfalldecks angegeben und so begaben sie sich auf Deck vier. Von überall her strömten die Menschen zu den angegebenen Stellen. Die Aufzüge waren hoffnungslos überfüllt und selbst auf den Treppen stauten sich die Leute.
„Meine Güte!“, genervt schüttelte Graciella ihre Mähne. „Können die nicht aufpassen?“ Sie drehte sich erbost zu dem hinter ihr gehenden Mann um. „Wollen Sie nicht gleich über mich drüberlaufen?“ Sie funkelte den völlig überraschten Mann böse an. Sofort begann dieser, eine Entschuldigung zu stammeln, aber Graciella hatte sich schon wieder weggedreht. Gott sei Dank kamen sie nun auf das Deck.
„Madame, bitte gehen Sie dorthin.“ Ein Deckoffizier hatte auf ihren Seepass geschaut und sie nach rechts geschickt. Brilloux folgte ihr.
„Madame, lassen Sie mich Ihren Seepass sehen!“ Ein Schiffsmitarbeiter sprach sie forsch an. Genervt zeigte Graciella ihm die Karte. „Bitte stellen Sie sich hierhin.“ Er zeigte auf einen bestimmten Punkt an Deck. „Nein, nicht dahin, hierhin bitte!“
Widerwillig stellte Graciella sich an die angedeutete Stelle.
„Friss ihn doch!“ Brilloux flüsterte Graciella ins Haar. Er hatte sich hinter sie gestellt und beobachtete das Schauspiel. Es schien wichtig zu sein, dass Grüppchen aus den herbeiströmenden Menschen gebildet wurden. Etwa sechs hintereinander und fünf nebeneinander, also etwa dreißig Leute pro Grüppchen Und tatsächlich wurde auf eine gerade Linienführung der Wartenden geachtet. Geradezu lächerlich! Und irgendwie lächerlich war auch Graciellas Verhalten. Es war typisch für sie, notwendige aber unbequeme Maßnahmen als persönliche Attacke zu sehen. Sie sah ihn mit hochgezogenen Brauen an.
„Gefällt dir das etwa?“
„Nein, aber was soll’s. Sieh dir doch einfach die Leute an. Und schau die Asiatinnen. Versuchen wie immer, sich vorzudrängeln.“ Brilloux verabscheute Menschenansammlungen, aber große Aufläufe von Asiaten waren für ihn beinahe nicht zu ertragen. Diese Menschen kannten nur sich. Egal, ob man darauf wartete, ins Flugzeug zu steigen, oder an der Supermarktkasse stand, Asiaten waren immer und überall anwesend. Bsonders älteren gegenüber musste man seinen Platz mit Zähnen und Klauen verteidigen. Mit den Männern war das anders. Bei ihnen war es egal, welche Nationalität sie besaßen. Da kam es mehr auf die Stellung an, die der Einzelne glaubte innezuhaben. Je höher der eigene Wert eingeschätzt wurde, desto eher gab es Rangeleien. Da, eine ganze Gruppe asiatischer Frauen hatte sich vor Graciella gedrängelt. Allerdings hatten sie nicht mit seiner Frau gerechnet. „Würden Sie sich bitte hinten anstellen?“ Sie funkelte die Frauen an. „Ich stehe schon eine Ewigkeit hier und Sie können wohl dahinten noch Platz finden!“ Sie warf ihr Haar nach hinten und zeigte ins Unbestimmte. Bevor die Damen sich beschweren konnten, tauchte, wie auf Zuruf, ein Schiffsmitarbeiter auf. „Könnte ich Ihre Seepässe sehen?“, fragte er die Damen freundlich und schob sie dann, nachdem er einen Blick auf sie geworfen hatte, in Richtung der nächsten Gruppe.
„Zu dumm, um zu überleben!“ zischte Graciella.
„Sei ruhig, hier weiß man nie, wer einen versteht“, flüsterte Brilloux ihr zu. Auch er hatte keine Lust mehr, hier zu stehen. Aber Gott sei Dank fing es ja nun endlich an. Sie wurden in die bestehenden Sicherheitsvorschriften eingeweiht und wesentliche Verhaltensweisen im Katastrophenfall wurden ihnen erläutert. Als ob das im Zweifelsfall etwas ändern würde! Brilloux war sicher, dass er keine Chance gegenüber all den Menschen hätte, sollte sich ein Notfall ereignen. Asiatinnen in Panik wollte er nicht erleben, reiche Russinnen auch nicht. Chileninnen aber auch nicht, überhaupt Frauen in Panik! Schlimmeres gab es wohl kaum. Dann wäre ein schneller Tod wohl gnädiger.
Langsam löste sich die Versammlung auf. Nach einer gefühlten Ewigkeit und Ansprachen in allen Sprachen der Welt, wie man sich im Ernstfall zu verhalten habe, wurden sie endlich entlassen.
„Komm, wir warten, bis alle weg sind. Sonst gibt es wieder so ein Geschiebe.“ Er nahm Graciella am Arm. „Schauen wir uns ein wenig das Deck an.“ Sie schlenderten Arm in Arm umher. Eigentlich gab es nicht viel zu sehen. Die Reling, Deckplanken, Rettungsboote über ihnen, fest vertäut. Und Venedig vor ihnen. Das Deck hatte sich beinahe geleert, sodass Graciella zum Ausgang drängte.
„Schau mal, ein Sarg!“ Sie deutete auf eine Kiste neben dem Eingang ins Schiffsinnere.
„Das ist kein Sarg.“ Brilloux’ Stimme war belehrend. Manchmal war Graciella geradezu nervtötend! „Das ist eine Aufbewahrungskiste für Schwimmwesten.“ Er trat näher und hob den Deckel an. „Siehst du?“ Innen lagen, dicht an dicht, Schwimmwesten. „Eigentlich sollte hier wohl ein Schloss drauf sein. Na ja, komm, wir gehen.“ Er ließ den Deckel zufallen und zog Graciella ins Schiffsinnere, wo sie vor dem Aufzug stehen blieben.

Immer wieder hatte er den Termin verschoben – heute war es so weit. Am liebsten hätte er noch vor der Praxis umgedreht, aber er biss die Zähne zusammen und drückte die Tür auf.
„Guten Morgen.“
Die Dame am Empfang lächelte ihn an: „Guten Morgen.“ Sie schaute erwartungsvoll.
„Mein Name ist Brilloux. Ich habe einen Termin um zehn.“ Er lächelte, zeigte dabei ein wenig die Zähne, schüttelte leicht das etwas strähnige graue Haar, das er gerne etwas länger ließ, und sah die Sprechstundenhilfe mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Ja, natürlich Monsieur Brilloux. Nehmen Sie doch schon im Sprechzimmer Platz. Monsieur le Professeur wird sofort bei Ihnen sein.“ Sie stand auf, ging vor ihm den schmalen Gang entlang und wies einladend mit der Hand in das Sprechzimmer für Privatpatienten. Es war ein großer, gediegen eingerichteter Raum mit großer Fensterfront und dickem Teppich.
„Danke, sehr freundlich.“ Brilloux verneigte sich leicht in Richtung der jungen Dame und ging zu einem riesigen Schreibtisch, der den Raum beherrschte. Er setzte sich auf einen der beiden großen Besuchersessel und wartete. Als er sicher war, dass ihn niemand beobachtete – die Sprechstundenhilfe war zur Rezeption zurückgekehrt und der Professor noch nicht da –, wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Wie würden wohl die Ergebnisse sein? Der Professor hatte sich geweigert, ihm am Telefon die Ergebnisse der vielen Tests und Untersuchungen mitzuteilen.
„Lieber Monsieur Brilloux, kommen Sie in die Praxis. Dort können wir über alles sprechen. Das ist doch viel besser als am Telefon.“ Die Stimme des Professors hatte zuversichtlich geklungen, warm und väterlich. So hatte Brilloux sich nicht getraut, zu insistieren.
„Also gut, Monsieur le Professeur. Ich werde einen Termin vereinbaren.“
„Sehr gut! Ich verbinde Sie dann jetzt wieder mit Madame Lerouge. Sie wird Ihnen einen Termin nennen. Bis dahin, Monsieur Brilloux.“
Das war jetzt beinahe drei Wochen her. Er hatte zwar einen Termin für den übernächsten Tag vereinbart, hatte ihn aber dann wieder abgesagt. Und den nächsten vereinbart. Und wieder abgesagt. Und jetzt …
„Guten Tag, Monsieur Brilloux“, der Professor streckte ihm lächelnd die Hände entgegen, „wie geht es Ihnen?“
„Gut, sehr gut. Danke! Guten Tag, Monsieur le Professeur.“ Brilloux schüttelte die Hand des Professors und suchte in dessen Gesicht nach Anzeichen von Besorgnis.
„Setzen wir uns doch!“
Als sie sich gesetzt hatten, hielt Brilloux es nicht mehr aus. „Was ist es, Monsieur le Professeur? Sagen Sie es mir bitte!“ Erregt war er aufgestanden.
„Bleiben Sie doch sitzen, Herr Brilloux. Bitte!“ Der Professor deutete auf den leeren Stuhl.
„Gewiss, entschuldigen Sie, aber …“, er erstarb. Bittend schaute er den Professor an. Und dann kamen all die furchtbaren Begriffe. Neurologisch … nicht eindeutig … auch Alzheimer … Plaques … Hirn … Ausfallserscheinungen … zunehmend.
Brilloux konnte sich hinterher nicht mehr erinnern, wie er nach Hause gekommen war. Irgendwie hatte er sich wohl anständig und höflich von dem Professor verabschiedet – so hoffte er zumindest. Er wusste es nicht mehr. Irgendwann war er dann zu Hause gewesen. War auf Graciella gestoßen und hatte sich schlagartig zusammengenommen. Graciella, seine schöne Frau. Seine junge Frau. Seine dritte Frau. Seine Frau, die nicht wissen durfte, wie es um ihn stand, denn dann, das wusste er, würde es schrecklich werden.
„Was hältst du davon, wenn wir eine Kreuzfahrt machen?“ Brilloux blätterte in seiner Zeitung, schaute kurz über eine Ecke zu Graciella und las weiter. Er wollte seinen Wunsch unbeteiligt klingen lassen, so, als habe er gerade eben die Idee dazu gehabt.
Seit Tagen überlegte er, wie er mit der Diagnose einer möglichen Alzheimer Erkrankung umgehen sollte. Ruhe war das Einzige, was ihm geeignet schien, die Sachlage zu verbessern. Vielleicht war es ja auch gar kein Alzheimer! Nur eine neurologische, zeitweilig auftretende Störung, die mit zerstörerischen Kopfschmerzen und diesen furchtbaren Fingerkrämpfen einherging, die – das hatte der Professor zugeben müssen – nicht zum Alzheimerbild passten. Aber, so hatte er erklärt, als Brilloux ihn ein paar Tage nach der Flucht aus seiner Praxis angerufen hatte, möglicherweise handele es sich um zwei nebeneinander bestehende Krankheitsbilder. Und eines davon könnte Alzheimer sein. Dazu seien weitere Tests vonnöten.
„Schon wieder? Wir sind doch gerade erst zu Hause angekommen!“ Graciella schien nicht sonderlich begeistert. „Außerdem habe ich keine Lust, mich erneut als dein Anhängsel von all den schmierigen Köchen, Souschefs, Restaurantmanagern und den widerlichen Kellnern anstarren zu lassen. Diese subalternen Widerlinge! Ekelhaft!“ Sie betrachtete ihre Fingernägel. Erst gestern war sie bei der Nageldesignerin gewesen. Angeblich war bordeauxrot mit vanillefarbenen Streifen gerade angesagt. Graciella war sich allerdings nicht sicher, ob ihr das gefiel. Andererseits …
„Wir können ja mal ganz privat fahren“, fuhr Brilloux in ihre Gedanken.
„Ja, natürlich!“ rief Graciella. „Der große Brilloux, Restaurantkritiker erster Güte, reist ganz privat auf einem Luxusschiff! Wie originell!“ Spöttisch schaute sie in Richtung ihres Mannes. „Kannst du nicht mal dein blödes Blatt weglegen, wenn ich mit dir sprechen soll?“ Wütend warf sie eine Olive gegen die Zeitung.
„Graciella!“ Brilloux stöhnte. „Zügele dein chilenisches Temperament. Bitte!“ Er ließ die Zeitung sinken. „Und ja, ganz privat. Du weißt doch, wie angegriffen ich bin. Da wäre es doch wunderschön, wenn wir mal ausspannen würden. Nur du und ich. Mann und Frau. Gut bedient, aber inkognito. Was meinst du?“
„Inkognito!“ Graciella schnaubte durch die Nase, schüttelte ihr blondes Haar und stand auf. Mit aggressiven Bewegungen strich sie über ihre Hüften, als wolle sie etwas Lästiges entfernen. „Du und inkognito! Wenn du etwas hasst, dann ist es, nicht aufzufallen. Du genießt es doch, wie alle diese Schmeißfliegen um dich herumschwänzeln! Du ziehst sie doch geradezu an, diese Speichellecker und Bücklinge! Du genießt das doch!“ Ihre Stimme begann, schrill zu werden.
„Das ist nicht wahr!“ Brilloux erhob sich würdevoll, strich sich das Haar zurück, streckte den Oberkörper und legte die Zeitung beiseite. Graciella lachte höhnisch. „Und ob!“
„Weißt du, all diese Speichellecker und Bücklinge, wie du sie nennst, erhalten dir dein Luxusleben. Ohne sie gäbe es keinen Restaurantkritiker Brilloux und ohne Brilloux gäbe es keine dritte Madame Brilloux!“ Seine Stimme war sarkastisch geworden. „Vielleicht bin ich ja auch nur müde und möchte mich endlich ausruhen. Von der Arbeit, von dir …“ Er ließ den Satz unausgesprochen in der Luft hängen. „Weißt du, vielleicht sollte ich einfach Schluss machen. Du weißt doch, wenn’s am schönsten ist, soll man gehen. Was würdest du dann wohl machen? Als Witwe Brilloux? Ohne Geld? Als Almosenempfängerin der Kinder, meiner Kinder? Ob sie dir wohl was abgeben würden?“ Er schaute Graciella schadenfroh an. „Vielleicht würdest du dann all den Kellnern, Restaurantchefs und Köchen anders begegnen? Hm? Was meinst du?“ Er hob ihr Kinn hoch. Graciella schaute ihn mit schmalen Augen an. Sie kochte vor Wut. Schon wieder diese diffuse Drohung, die so lächerlich war. Als ob ein Egomane wie Brilloux sich umbringen würde!
„Bring dich doch um!“, schnaubte sie und drehte ihren Kopf weg. „Ich werde dich nicht daran hindern!“ Sie stampfte mit dem Fuß auf. „Tu es doch! Du wirst schon sehen, was du davon hast!“ Sie stürmte aus dem Zimmer. Dieser Idiot! Und das Schlimmste war, dass sie tatsächlich nichts von dieser Ehe hatte, bis er sein Testament zu ihren Gunsten ändern würde. Bisher gab es nur diese Lebensversicherung. Sonst nichts. Und die würde ja wohl noch jahrelang nicht ausgezahlt werden, so fit wie Brilloux war. Es war zum Verrücktwerden!
„Good morning, Sir! Welcome on board!“ Der Steward lächelte Brilloux freundlich an. Graciella hatte vor ihm das Schiff betreten. Brilloux musste vorsichtig sein, um sie nicht weiter zu reizen. Nach langem Hin und Her hatte sie schließlich zugestimmt, mit ihm diese Reise zu unternehmen – unter der Voraussetzung, dass sie nicht als Restaurantkritiker samt zugehöriger Gattin reisten, sondern ganz normal als Monsieur und Madame Brilloux. Sie hatten nach Reiserouten und Anbietern geschaut und sich schließlich für die Holy Land Tour von Royal Caribbean entschieden. Nicht dass es Brilloux besonders nach Israel ziehen würde; wer, wenn nicht jüdisch oder russisch, interessierte sich schon für ein Land voller Unfreundlichkeit, Starrsinn und Zweckmäßigkeiten? Brilloux war schon vor Jahren dort gewesen und außer vielen bewaffneten und unfreundlichen Menschen und einem großen Rummel um die verschiedenen Religionen hatte er nichts Reizvolles finden können. Ein Israeli, den er in einem wirklich gut geführten Restaurant im Royal Plaza irgendwo in diesem trüben Land kennengelernt hatte, hatte ihm klarzumachen versucht, dass die Israelis nicht unfreundlich, sondern nur realistisch seien.
„Wissen Sie, wenn Sie immer und überall als Feind angesehen werden und ständig in potenzieller Lebensgefahr schweben, können Sie anderen Menschen nicht mit offenem Herzen und freundlichem Gesicht entgegentreten. Sie werden ernst sein, ernst und realistisch.“
Der Mann hatte Brilloux nicht überzeugen können. Hatte er nicht selbst immer viel durchmachen müssen und war er nicht auch immer von Feinden umgeben? Dennoch war er stets freundlich und zuvorkommend. Nein, er verstand die Israelis nicht. Und er hatte die Holy Land Tour nur gebucht, weil es viele Seetage gab. Er fühlte sich wirklich abgeschlagen und durfte es doch nicht zeigen. Es hatte verschiedene Europa-Touren gegeben, auch von anderen Anbietern, aber er wollte Royal Caribbean, er wollte Service rund um die Uhr, er wollte umsorgt sein und so wenig Graciella wie möglich. Daher hatte er alle Land-Touren, die es gab, gebucht. Und für Ägypten, die erste Station nach zwei Ruhe-Seetagen, war sogar ein Übernacht-Landausflug angeboten worden. Den hatte er sofort gebucht. Er war sicher, dass es den einen oder anderen Gentleman geben würde, der sich der armen Graciella annehmen würde, wenn er leider aus gesundheitlichen Gründen verhindert sein würde, an dieser einmaligen Fahrt teilzunehmen. Dann konnte Graciella allein gehen und wäre doch gut versorgt. Nicht, dass er sie loswerden wollte. Sie war eine sehr attraktive Frau, schlank, zierlich und amüsant. Aber eben jung, und das konnte er nur genießen, wenn er sich wohlfühlte. Er musste wieder zu Kräften kommen, musste genesen – von was auch immer –, dann würde er Graciella auch wieder gerecht werden können. In den letzten Tagen hatte er versucht, besonders aufmerksam ihr gegenüber zu sein. Als sie die Bestätigung ihrer Reise erhielten, war es aber doch beinahe wieder zu einer Szene gekommen. In dem Brief hatte es geheißen, dass leider alle Außenkabinen belegt seien und das Management der Vision of the Seas, wie ihr Schiff hieß, sich die Freiheit genommen habe, für das Ehepaar Brilloux die einzig noch freie Suite, natürlich ohne Aufpreis, zu buchen. Sie bestehe aus zwei Räumen und verfüge über einen Balkon. Man hoffe, damit keine Unannehmlichkeiten zu verursachen.
Natürlich war Graciella sofort klar gewesen, dass das Management der Cruise sicherstellen wollte, dass es Brilloux an nichts fehlen würde. „Die wissen, wer du bist. Und das bedeutet wieder dieses endlose Defilee von Leuten, die etwas von dir wollen! Ich glaube nicht, dass wir das wollten!“ Zornig hatte sie ihn angesehen.
„Graciella, was kann ich dafür, wenn auf dem Schiff nur noch diese Kabine frei ist? Ist doch schön, wenn wir einen Balkon haben, auf dem du deine Zigaretten rauchen kannst. Und wenn wir zwei Räume haben, ist das doch auch nicht schlecht, oder?“ Er hatte sich bemüht, nicht allzu erschöpft zu klingen. Natürlich war auch ihm bewusst, dass die Leitung der Vision ihm signalisieren wollte, dass sie wussten, wen sie an Bord haben würden. Er war in der Restaurantszene eben bekannt wie ein bunter Hund. Und die Flotte von Royal Caribbean war für ihre gute Küche bekannt. Auf ihrem Schiff würden einhundertundacht Köche arbeiten, das hatte er sofort recherchiert. Sie arbeiteten für drei Restaurants. Natürlich mussten sie auch noch die Frühstücks-, Mittags- und Abendbüfetts bestücken. Er hatte nicht vor, sich übermäßig unters Volk zu mischen. Und das wollte Graciella auch nicht. Da man ihnen durch das Upgrading den nötigen Komfort ermöglicht hatte, würden sie das Frühstück in der Suite einnehmen und den Mittagsimbiss und das Abendessen natürlich im Restaurant.
Nachdem Graciella und Brilloux ihre Seepässe mit Foto und Raumnummer erhalten hatten, suchten sie ihre Suite auf. Sie lag auf Deck vier, direkt an der Schiffsspitze, und bestand aus einem Schlafzimmer, einem schönen offenen Salon mit Balkon und einem Badezimmer mit Dusche. Ein Fruchtkorb stand im Salon sowie, in einem Sektkühler, eine Flasche Korbel Champagne. Ein Gruß vom Kapitän der Vision.
„Na, zufrieden?“ Brilloux schaute Graciella an. „Ist doch gar nicht so schlecht, oder?“
„Solange mich die Leute in Ruhe lassen, ist mir alles andere egal!“ Sie steuerte auf den Sekt zu. „Korbel Champagne, amerikanischer Sekt. Sicherlich gut, wenn man Amerikaner ist. Die können sowieso nicht Sekt von Mineralwasser unterscheiden. Es sei denn, es ist ohne Kohlensäure. Oder es ist braun.“ Sie drehte die Flasche unschlüssig hin und her.
„Du meinst, weil es sich dann um Cola handelt?“ Brilloux trat zu ihr. „Gib her, ich mache sie auf. Als Begrüßungsgetränk kann man den durchaus trinken. Heute Abend gehen wir zum Gewohnten über!“
Nachdem sie ihre Koffer ausgepackt hatten, immer von einem Schlückchen Sekt begleitet, wollte Graciella das Schiff erkunden.
„Es ist sicherlich nicht viel anders als die Legend letztes Jahr. Und ich bin müde. Ich würde mich gerne etwas ausruhen. Willst du nicht alleine gehen?“ Er fühlte schon wieder diese entsetzlichen Kopfschmerzen kommen. Es zog ihn ins Bett. Gardinen zu, Licht aus und nur noch schlafen. Das war sein Wunsch. Doch Graciella zeigte sich nicht davon angetan.
„Ach bitte! Wir gehen nur ein wenig herum. Dann wissen wir auch, wo die Zigarrenlaunch ist und welche Shops an Bord sind. Und außerdem können wir uns dann ja in eine Bar setzen und etwas Dom Pérignon trinken. Oder einen Pastis. Bitte! Das Seating ist erst um Viertel vor neun und jetzt ist es gerade mal halb fünf!“ Graciella schaute ihn bittend an. Eigentlich war es das erste Mal seit Wochen, dass sie ihn erwartungsvoll und offen anschaute. Kein Ärger, kein Zorn, keine Verachtung. Nur Gespanntheit, ob er mitkommen würde. Und obwohl Brilloux merkte, wie sich seine Finger gegen seinen Willen krümmten, konnte er ihr diese Bitte nicht abschlagen.
„Na gut. Dann komm.“ Er steckte seinen Seepass ein.
„Oh gut!“ Graciella warf sich an seine Brust und legte die Arme um ihn. „Vielleicht wird es ja doch eine schöne Reise“, flüsterte sie und küsste ihn. Und Brilloux wusste wieder, warum er so eine junge Frau geheiratet hatte.
Als Graciella und Brilloux etwas später gut gelaunt ihre Suite verließen, wurde über Lautsprecher die nun stattfindende Katastrophenschutzübung angekündigt. Sie schauten sich an.
„Brauchen wir das?“ Graciella hatte augenscheinlich keine Lust, sich den Anforderungen zu fügen.
„Oje, nein, eigentlich brauchen wir das nicht, aber du weißt ja, dass sie keine Ruhe geben bis alle auf dem richtigen Deck erschienen sind. Es ist zwar enervierend, aber was soll’s.“ Er strich sich das Haar zurück – eine Geste, die seine Stimmung verdeutlichte, leicht angewidert und wissend um die eigene Überlegenheit. „Also komm. Wenigstens müssen wir heute nicht wie letztes Jahr diese fürchterlichen Schwimmwesten mitnehmen. Schreckliche Ungetüme!“ Auf ihrem Seepass war die Nummer ihres Notfalldecks angegeben und so begaben sie sich auf Deck vier. Von überall her strömten die Menschen zu den angegebenen Stellen. Die Aufzüge waren hoffnungslos überfüllt und selbst auf den Treppen stauten sich die Leute.
„Meine Güte!“, genervt schüttelte Graciella ihre Mähne. „Können die nicht aufpassen?“ Sie drehte sich erbost zu dem hinter ihr gehenden Mann um. „Wollen Sie nicht gleich über mich drüberlaufen?“ Sie funkelte den völlig überraschten Mann böse an. Sofort begann dieser, eine Entschuldigung zu stammeln, aber Graciella hatte sich schon wieder weggedreht. Gott sei Dank kamen sie nun auf das Deck.
„Madame, bitte gehen Sie dorthin.“ Ein Deckoffizier hatte auf ihren Seepass geschaut und sie nach rechts geschickt. Brilloux folgte ihr.
„Madame, lassen Sie mich Ihren Seepass sehen!“ Ein Schiffsmitarbeiter sprach sie forsch an. Genervt zeigte Graciella ihm die Karte. „Bitte stellen Sie sich hierhin.“ Er zeigte auf einen bestimmten Punkt an Deck. „Nein, nicht dahin, hierhin bitte!“
Widerwillig stellte Graciella sich an die angedeutete Stelle.
„Friss ihn doch!“ Brilloux flüsterte Graciella ins Haar. Er hatte sich hinter sie gestellt und beobachtete das Schauspiel. Es schien wichtig zu sein, dass Grüppchen aus den herbeiströmenden Menschen gebildet wurden. Etwa sechs hintereinander und fünf nebeneinander, also etwa dreißig Leute pro Grüppchen Und tatsächlich wurde auf eine gerade Linienführung der Wartenden geachtet. Geradezu lächerlich! Und irgendwie lächerlich war auch Graciellas Verhalten. Es war typisch für sie, notwendige aber unbequeme Maßnahmen als persönliche Attacke zu sehen. Sie sah ihn mit hochgezogenen Brauen an.
„Gefällt dir das etwa?“
„Nein, aber was soll’s. Sieh dir doch einfach die Leute an. Und schau die Asiatinnen. Versuchen wie immer, sich vorzudrängeln.“ Brilloux verabscheute Menschenansammlungen, aber große Aufläufe von Asiaten waren für ihn beinahe nicht zu ertragen. Diese Menschen kannten nur sich. Egal, ob man darauf wartete, ins Flugzeug zu steigen, oder an der Supermarktkasse stand, Asiaten waren immer und überall anwesend. Bsonders älteren gegenüber musste man seinen Platz mit Zähnen und Klauen verteidigen. Mit den Männern war das anders. Bei ihnen war es egal, welche Nationalität sie besaßen. Da kam es mehr auf die Stellung an, die der Einzelne glaubte innezuhaben. Je höher der eigene Wert eingeschätzt wurde, desto eher gab es Rangeleien. Da, eine ganze Gruppe asiatischer Frauen hatte sich vor Graciella gedrängelt. Allerdings hatten sie nicht mit seiner Frau gerechnet. „Würden Sie sich bitte hinten anstellen?“ Sie funkelte die Frauen an. „Ich stehe schon eine Ewigkeit hier und Sie können wohl dahinten noch Platz finden!“ Sie warf ihr Haar nach hinten und zeigte ins Unbestimmte. Bevor die Damen sich beschweren konnten, tauchte, wie auf Zuruf, ein Schiffsmitarbeiter auf. „Könnte ich Ihre Seepässe sehen?“, fragte er die Damen freundlich und schob sie dann, nachdem er einen Blick auf sie geworfen hatte, in Richtung der nächsten Gruppe.
„Zu dumm, um zu überleben!“ zischte Graciella.
„Sei ruhig, hier weiß man nie, wer einen versteht“, flüsterte Brilloux ihr zu. Auch er hatte keine Lust mehr, hier zu stehen. Aber Gott sei Dank fing es ja nun endlich an. Sie wurden in die bestehenden Sicherheitsvorschriften eingeweiht und wesentliche Verhaltensweisen im Katastrophenfall wurden ihnen erläutert. Als ob das im Zweifelsfall etwas ändern würde! Brilloux war sicher, dass er keine Chance gegenüber all den Menschen hätte, sollte sich ein Notfall ereignen. Asiatinnen in Panik wollte er nicht erleben, reiche Russinnen auch nicht. Chileninnen aber auch nicht, überhaupt Frauen in Panik! Schlimmeres gab es wohl kaum. Dann wäre ein schneller Tod wohl gnädiger.
Langsam löste sich die Versammlung auf. Nach einer gefühlten Ewigkeit und Ansprachen in allen Sprachen der Welt, wie man sich im Ernstfall zu verhalten habe, wurden sie endlich entlassen.
„Komm, wir warten, bis alle weg sind. Sonst gibt es wieder so ein Geschiebe.“ Er nahm Graciella am Arm. „Schauen wir uns ein wenig das Deck an.“ Sie schlenderten Arm in Arm umher. Eigentlich gab es nicht viel zu sehen. Die Reling, Deckplanken, Rettungsboote über ihnen, fest vertäut. Und Venedig vor ihnen. Das Deck hatte sich beinahe geleert, sodass Graciella zum Ausgang drängte.
„Schau mal, ein Sarg!“ Sie deutete auf eine Kiste neben dem Eingang ins Schiffsinnere.
„Das ist kein Sarg.“ Brilloux’ Stimme war belehrend. Manchmal war Graciella geradezu nervtötend! „Das ist eine Aufbewahrungskiste für Schwimmwesten.“ Er trat näher und hob den Deckel an. „Siehst du?“ Innen lagen, dicht an dicht, Schwimmwesten. „Eigentlich sollte hier wohl ein Schloss drauf sein. Na ja, komm, wir gehen.“ Er ließ den Deckel zufallen und zog Graciella ins Schiffsinnere, wo sie vor dem Aufzug stehen blieben.

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