Galerie der Schöpfung

Galerie der Schöpfung

Markus Naumann


EUR 16,90
EUR 10,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 234
ISBN: 978-3-95840-216-4
Erscheinungsdatum: 20.10.2016
Krispin lebt zwischen Wirklichkeit und Vision. Bald bricht ein furchtbarer, unermüdlicher Kampf zwischen beiden aus, der ihm seine Aufgabe offenbart. Familienvater Kopp deckt eine erschreckende Verschwörung auf und stellt sich einem verborgenen Feind ...
Tanzende Figuren

„Meine Damen und Herren, ich heiße Sie recht herzlich Willkommen an diesem wundervollen Abend. Ich begrüße auch unsere Zuschauer, die von zu Hause aus zusehen. Wir haben wie immer etwas ganz Besonderes für Sie!“
Der Moderator, gekleidet in ein violett-golden gestreiftes Jackett, steigt aus einer Tür und tritt die Stufen hinab auf die Bühne. Es ist die Sorte Moderator, die mit theatralisch-überspitzter Stimme und ausfallenden Gesten auftritt. Er ist sehr kräftig gebaut, hat keine Haare auf dem Kopf und erinnert irgendwie an einen Mönch. Eine sehr bizarre Erscheinung.
„Heute Abend schauen wir auf zwei Menschen, die auf der Suche nach der Liebe ihres Lebens sind. Und lassen Sie mich Ihnen noch Folgendes verraten: Sie sind auf ganz spezielle Weise eng verbunden.“ Und mit diesen Worten formt sich bei ihm ein dickes Grinsegesicht.
Jetzt weiß ich, woran er mich noch erinnert: an einen Clown. Er sieht wirklich aus wie ein moderner Clown, zuständig für die Belustigung der zeitgenössischen Gesellschaft. Aber etwas stimmt hier trotzdem nicht, etwas, dass die ganze Sache noch viel absonderlicher erscheinen lässt. Über seinen beiden Augen befindet sich in der Mitte eine auffällige Falte, umgeben von weiteren kleineren Falten. Eine Spalte, die sich vor sich selbst versteckt, als würde man vehement seine Lippen aufeinanderpressen oder mit aller Kraft ein Auge zukneifen. Es könnte auch zugenäht oder zusammengetackert worden sein, sieht irgendwie schmerzhaft aus. Zusammen mit seinen beiden Augen formt es ein nach oben gerichtetes Dreieck. Hatte er einmal drei Augen?
Mit offener Hand deutet er auf ein sich öffnendes Tor im Hintergrund, durch das die beiden Teilnehmer auf einer Plattform zur Bühne gefahren werden.
„Aber sehen Sie selbst: das wohl spannendste Blind-Date-Erlebnis aller Zeiten!“
Die beiden Teilnehmer sitzen auf Stühlen Rücken an Rücken. Das Wortspiel des Moderators hat deshalb für Beifall gesorgt, weil sie beide tatsächlich blind und verbunden sind, und zwar durch ein dickes Tuch an ihren Augen und Seile, die um ihre beiden Körper geschnallt sind. In was für einen schlechten Scherz bin ich denn hier herein geraten? Ich sehe, dass einer der beiden Teilnehmer ich selbst bin. Ich sehe mich selbst. Von dem armen, unschuldigen Mädchen, das direkt hinter mir sitzt, weiß ich nichts, außer dass es ihre Entscheidung vermutlich genauso bereut wie ich meine.
Die Lichter an unseren Stühlen gehen abwechselnd nacheinander an und wieder aus, sodass immer ein Stuhl leuchtet, während der andere dunkel bleibt. Jedes Aufleuchten wird von einem elektrisch erzeugten Ton begleitet, und die Töne werden jedes Mal höher, um die Spannung zu erhöhen. Schließlich bleibt das Licht irgendwann bei mir stehen und ich leuchte. Der Moderator ist wieder dran: „Ah! Wunderbar, die Entscheidung steht also fest: Der Junge darf anfangen.“
Ein Beifall tobt durch das Studio. Die Zuschauer sind wie in einer Symbiose mit dem Moderator, sie zehren von ihm.
„Junge, erzähl ihr und uns von dir. Möglicherweise könntest du der Partner ihrer Träume sein.“ Er hält mir das Mikrofon hin. Jetzt bin ich an der Reihe.
„Also, mein Name ist Krispin. Aber ich bevorzuge Kris, so nennen mich auch alle. Zu meinem Aussehen: ich habe braunes, lockiges Haar und grüne Augen. Ich bin eins achtzig groß, bin 25 und … ich habe Visionen.“
Der Moderator zieht das Mikrofon zu sich, um hineinzulachen. Und mit ihm beginnt auch das Publikum in Gelächter auszubrechen. Daraufhin hält er mir wieder das Mikrofon hin. Durch die Nase lasse ich etwas heraus, das wohl eine Mischung aus Lachen und Ausatmen ist. Ich spiele mit.
„Ja ehrlich, ich meine es ernst. Ich habe Visionen. Ich habe Albträume, finde so gut wie keinen ruhigen Schlaf. Ich hasse die Belanglosigkeit des Alltags, ich bin oft verwirrt, und manchmal glaube ich, dass die ganze Welt nur aus Spielfiguren besteht und ich der einzige menschliche Spieler bin. Außerdem esse ich keine Gurken.“
Wieder Gelächter. Das Publikum fühlt sich amüsiert und unterhalten, gut für sie. „In den guten Träumen wird dieser grauen Welt ein bisschen Sinn verliehen. Die sind zwar selten, aber diese Vorstellungen machen mir dann sogar Spaß.“
Der Moderator sagt: „Oh, wir haben es also mit einem erwachsenen Kind zu tun. Ich bin gespannt, was unsere weibliche Teilnehmerin dazu zu sagen hat.“

Ich öffne wieder die Augen und bringe damit diesen grässlichen Moderator und sein grauenhaftes Publikum zum Schweigen. Und dass, obwohl auch mich sehr interessiert hätte, was das Mädchen dazu gesagt hätte. Aber sie hätte wohl nur den Text gesprochen, den ich ihr in meiner Vorstellung zu Verfügung gestellt ?hätte, oder?
„Auf Wiedersehen!“, sagt eine weibliche Stimme irgendwo hinter mir. Das wäre also die Antwort? Hat ihr denn nichts an mir gefallen? Sitze ich vielleicht wirklich Rücken an Rücken an ein fremdes Mädchen gebunden? Ich drehe mich um. Und tatsächlich sitzt dort ein Mädchen, aber es verabschiedet sich nicht von mir, sondern von seinem Gesprächspartner, der jetzt aus dem Bus aussteigt, und den es im selben Moment noch durch einen MP3-Player ersetzt. Ich drehe mich wieder zurück.
Tagträume können einen wirklich aus der Realität holen. Ich reibe mir noch einmal meine Augen und reiße sie wieder auf. Jetzt bin ich wieder in der echten Welt und nur noch eine Bushaltestelle von meinem Zielort entfernt, die in weniger als drei Minuten erreicht ist. Der Bus hält am Rande des Stadtparks und ich steige aus.
Nachdem ich die nächste Häuserecke passiert habe, sehe ich unfreiwillig einen merkwürdigen Typen, der mich irgendwie an den Moderator von eben erinnert, aus einer öffentlichen Toilette kommen. Er hat ein schmerzverzerrtes Gesicht, als würde er sich vor sich selbst ekeln. Aber wenn er sich bereits vor sich selbst ekelt, wie sehr muss sich dann der Nächste, der da rein will, vor dem ekeln, was der da drinnen fabriziert hat? Und wie sehr muss sich das, was er fabriziert hat, vor ihm geekelt haben, dass es unbedingt aus ihm heraus wollte? Na ja, das ist zumindest für mich im Augenblick irrelevant. Ich gehe weiter Richtung Marktplatz.
Hier wartet Erik schon auf mich. Man könnte sagen, Erik ist mein bester Kumpel, obwohl wir uns noch gar nicht so lange kennen. Genau gesagt kennen wir uns erst seit zweieinhalb Jahren, aber wir verbringen viel Zeit miteinander. Es ist so ein Ding, wo sich die Freundeskreise im Verborgenen überschneiden, und zwar durch eine Person, die niemand kennt oder die jeder längst vergessen hat, ohne es zu merken. Und ehe man sich versieht, sitzt man des Öfteren in großer Runde am Tisch und leert Gläser, bis es einem nicht mehr gut geht. Erik ist in gewisser Hinsicht das Gegenteil von mir. Er hat schwarzes, kurzes Haar, ist größer als ich und wirkt irgendwie stabiler. Er ist konzentriert und klar bei Verstand, obwohl er immer die verrücktesten Theorien aufstellt. Und jedes Mal aufs Neue rätsele ich darüber, wie ernst er diese meint, denn häufig wanken sie am Rande jeglicher Absurdität.
Wir laufen auf der von einer kleinen Menschenmasse gepflasterten Straße. Der Weg führt uns immer tiefer in die Stadt hinein. Es ist eine mittelgroße Stadt. Nicht so klein, dass hier nichts los wäre, aber es ist auch nicht so viel los, dass man noch nie auf den Gedanken gekommen wäre, sie irgendwann zu verlassen. Heute findet hier ein Fest statt. Es ist eine Art Erntefest, aber immer mit der unterschwelligen Botschaft: Esst mehr Obst und Gemüse! Hört auf, die Tiere zu schlachten und ihr mit Stresshormonen übersätes Fleisch zu verspeisen! Wir sind aber nicht hier, um billig Gemüse einzukaufen. Wir sind hier, weil es Freitag ist und uns nichts Besseres einfällt.
Die alljährlichen Markt- und Straßenfeste. Eine beherzte Stimmung liegt in der Luft, und alle scheinen ihren Stress auf der Arbeit und daheim gelassen zu haben, um woanders neuen zu produzieren. Überall rechts und links die überdachten Stände. Überall diese Menschen, die einem ständig etwas aufquatschen wollen, für irgendeine gute Sache werbend. Überall die Standmieter, Obst und Gemüse verkaufend.
Aber nicht, dass es nicht auch einen Stand geben würde, an dem wir halt machen würden: „Obstwein und verschiedene Obstschnäpse.“ Das ist doch schon eher unser Ding. Hier stehen wir also jetzt, an diesem Tisch, und trinken einen Wein, der sowohl an Erdbeere als auch ein wenig an Himbeere erinnert, aber ebenso eine leichte Spur Zitrone durchschmecken lässt. Als ob jemand einfach irgendwelche beliebigen Früchte miteinander vermengt und einen Wein daraus gemacht hätte.
„Hey, sieh mal!“, kichert Erik. „Da drüben steht eine übergroße Tomate! Hahaha.“
Und da steht sie wirklich. Eine Tomate. Irgendwer steht dort auf der anderen Seite der Straße in einem viel zu großen Tomatenkostüm, um auf den Verkauf leckerer Obst- und Gemüsesorten aufmerksam zu machen. Jetzt dreht sie sich zu uns, mit einem breiten, gestellten Grinsen, während man sich nur allzu gut vorstellen kann, welchen Gesichtsausdruck im selben Moment die Person darunter wohl haben muss. Nicht einmal der anspruchsloseste und am leichtesten zu überzeugende Zuschauer da draußen hätte einem Schauspieler dieses falsche Grinsen abgekauft. Das erinnert mich an etwas. Die Menschen, Bürger, Kunden, Wähler, Zuschauer und Leser unterschätzen systematisch ihre eigene Rolle. Man kann nur etwas Beeindruckendes machen, wenn sich auch genug Leute davon beeindrucken lassen.
Die Worte hat Erik mir einmal gepredigt, an einem dieser langen Abende am Tisch. Und er hat recht. Ohne das Einverständnis der Mehrheit, und wenn es nur ein passives ist, geht gar nichts. Jede Theateraufführung funktioniert nur, wenn der Zuschauer den Schauspielern seine Vorstellungskraft leiht und sich von der Geschichte entführen lässt.
Dann sehen wir zwei halbstarke Jugendliche in Richtung der Tomate gehen, mit demselben Ausdruck in ihren Gesichtern wie dem, den man der Tomate wohl aufgemalt hatte. Nur hinter ihrem Grinsen steckt eine völlig andere Absicht.
Sobald sie vor ihr stehen, zwickt einer von ihnen heftig in die Seite ihres Kostüms, während der andere ein paar Birnen aus der Kiste daneben greift. Beide rennen sie sofort los, und die Tomate, die beinahe umgefallen wäre, rennt ihnen hinterher, als sie den Diebstahl bemerkt. Was für ein Anblick, eine fette, grinsende Tomate verfolgt zwei Jugendliche. Dann verschwinden sie irgendwo hinter einer Ecke aus unserem Sichtfeld. Ein sehr belustigendes Schauspiel.
Ich wende mich nun wieder Erik zu: „Kennst du das, wenn man das Gefühl hat, als würden alle einen verarschen, als wären alle nur gute Schauspieler und du eine Art Versuchsaffe? Stell dir doch mal vor, alle gaukeln sie die nur etwas vor. Oh Mann, das würde so vieles erklären. Manchmal warte ich wirklich nur noch darauf, dass sich jeder Teilnehmer dieser riesigen Vorstellung der Reihe nach mit wirklichem Namen vorstellt und dankend verbeugt, wie am Ende einer Aufführung oder beim Abspann nach einem Film.“
Mit scharfem Blick schaue ich Erik an, um genau seine Reaktion aufzunehmen. Möglicherweise gesteht er mir ja jetzt, dass alles nur Teil einer riesigen Verschwörung ist und ich mich nicht länger damit auseinandersetzen muss, was mit dieser Welt nicht stimmt. Vielleicht hat dieser ganze Zirkus ja endlich ein Ende.
„Und dann denke ich wieder, dass ich das nie herausfinden würde, wenn sie gut aufeinander abgestimmt wären. Also alles Gedankenverschwendung. Das Einzige, was ich dabei immer noch im Hinterkopf behalte, ist das Wissen darüber, dass ich dieses Versteckspiel wenigstens in Betracht gezogen habe. Wenn ich also doch letzten Endes recht behalten sollte und sie sich irgendwann dazu bekennen sollten, dann könnten sie sich nicht mehr einbilden, sie hätten mich damit völlig überrascht.“
„Also ich habe nichts mit einer solchen Verschwörung zu tun, das kann ich dir versichern. Das würde dir wahrscheinlich jeder, der sich gegen dich verschworen hat, auch sagen, aber mir kannst du’s glauben. Wenn, dann verarschen sie uns beide und wir werden nie dahinterkommen. Für die Ewigkeit verarscht, aber wenigstens nicht allein.“
„Wenn einer hört, was wir hier so reden, der muss uns für krank halten.“
„Na ja, nach deiner Theorie wären wir doch die einzig Gesunden.“
„Mann, du musst aber auch immer auf alles noch eine schlagfertige Antwort geben, oder? Du kannst es nicht einmal aushalten, einfach etwas stehen zu lassen, ohne dich dabei zu profilieren.“
Zuerst senkt er seinen Kopf, aber dann sieht er mich schweigend an, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Und allmählich gehen seine Gesichtszüge in ein hämisches Lächeln über. Und dann wird es auch mir klar. Es ist einfach nicht zu fassen! Sogar jetzt behält er seine Schlagfertigkeit, nämlich indem er den Mund hält.
Einen weiteren Becher Wein später gehen wir weiter in Richtung des Flusses, der durch unsere Stadt fließt. Kurze Zeit später gelangen wir an das ruhige Gewässer, und hinter uns steht ein penetrant hoch und breit gebautes Hotel in einem sehr merkwürdigen Stil. Alles daran ist komisch geformt und bunt bemalt, mit Farben aus einer anderen Welt. Die oberen Etagen ragen über den Fluss hinweg, während die unteren Etagen weiter hinten gelegen sind. Es scheint, als ob das Gebäude einen Oberkörper besitzt, der sich nach vorne lehnt, um nach etwas zu greifen, was der Unterkörper gar nicht braucht.
Als wir einen entspannten Platz gefunden haben und uns hinsetzen, sagt Erik sofort: „Ich hatte auf den Straßen hierher eben so viel Blicksex, dass ich erst einmal eine rauchen muss.“ Also zieht er etwas hervor, das sich als Joint entpuppt, und steckt es sich an.
Erik sagt: „Das mit nächster Woche steht noch, ja? Da ist der Tag der offenen Tür am Institut für Philosophie, und du wolltest mitkommen, weißt du noch?“
„Ja“, sage ich.
„Also?“
„Also was?“
„Also kommst du mit? Sag mal, was ist denn mit dir los?“
Beim Blick auf den Fluss war ich wieder einmal völlig in Gedanken versunken und habe ihm nicht zugehört. Aber ich kann nie genau sagen, was ich eigentlich gedacht habe, es passiert einfach.
„Ach so, klar bin ich dabei. Kann ich mir allerdings immer noch schwierig vorstellen“, sage ich. „Du als Philosoph und Entdecker des Sinnes des Lebens.“
„Aber ich entdecke doch nicht den Sinn des Lebens. Das haben irgendwelche anderen klugen Leute schon gemacht, und ich lerne von ihnen.“
Alles klar, ich selber habe also noch keine Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen soll, aber ich geh erst mal mit zu irgend so einer Veranstaltung von Philosophen. Mal ehrlich, ich habe keine Pläne, obwohl ich mir immer so einen Kopf mache. Ich bin am Arsch. Oh man, wenn ich nicht bald mal eine zündende Idee für meinen Lebensentwurf habe, bin ich voll am Arsch.
„Du bist im Arsch“, sagt Erik. „Wenn du das hier rauchst, bist du völlig im Arsch.“ Mit diesen Worten entlässt er den restlichen Rauch aus seiner Lunge und reicht mir den Stängel.
„Das bringt dich mal ein bisschen runter“, fügt er hinzu.
„Ich rauche kein Gras, und du solltest auch mal langsam damit aufhören. Immerhin studierst du ja bald.“
„Man, die rauchen da alle, das sind Philosophiestudenten. Denkst du, die Geheimnisse der Welt offenbaren sich einem, wenn man nüchtern ist? Komm schon! Du gehörst wohl auch zu den Leuten, die glauben, Rotkäppchen bringt ihrer Großmutter einen Korb voll Wein und Kuchen, oder? Mann, diese ganzen Märchen sind eine Lüge, die haben sich den Scheiß von morgens bis abends hinter gepfiffen.“
Ich nehme auch einen Zug, einen zweiten, einen dritten – und gebe ihn wieder zurück. Aber merken tue ich davon nicht viel.
Etwas später sitzen wir mit dem Gesicht zu diesem scheußlich aussehenden Gebäude. Unten in der Lounge scheint irgendeine Feier stattzufinden. Elektronische Musik, laute Beats, viele Farben und betrunkene Menschen, viel zu gut gekleidet für diesen Anlass. Ehrlich gesagt sind derartige Feierlichkeiten für mich nur sehr schwer zu ertragen. Aber glücklicherweise wurde ich dazu nicht eingeladen. Und ich will diese Stimme in meinem Kopf ausschalten, die die ganze Zeit über so laut ist, dass ich mit meiner echten Stimme gar nicht mehr weiß, was ich sagen soll. Jetzt bin ich hier, nur hier.
Und dann fällt mir etwas Merkwürdiges auf. Im Erdgeschoss, gleich rechts neben der Lounge mit der Party, geht das Licht an. Es ist nicht nur irgendein Licht, es ist verschiedenfarbig. Durch das große Fenster sehe ich, dass ein Beamer all diese Farben links an die leere Wand projiziert. Tanzende Figuren von Licht bewegen sich auf der Leinwand, während langsam schreitend mehrere Personen den Raum betreten. Und wie sie angezogen sind, feiner als fein.
Diese Männer, die sich jetzt setzen, sehen verdammt reich und mächtig aus, und so ernst. Es ist, als ob sie die Oper betreten hätten, eine sehr bedrückende Vorführung. Der Projektor wirft die Lichter an die Wand. Der Rest des Raumes ist vollkommen dunkel. Kein Geräusch dringt aus diesem Raum zu uns. Vielleicht ist es auch vollkommen still da drinnen, so sieht es jedenfalls aus. Aber mit der Musik von nebenan, aus der Lounge, ergibt das Schauspiel eine noch merkwürdigere Situation. Alle starren nur wie gebannt auf die Wand. Verschiedene Muster ergeben sich durch das Licht. Sehr kunstvolle und aufwendige Formen, die unterschiedlichsten Farben schnell und unerwartet einander abwechselnd. Ihre ruckelnden Bewegungen, betont von den abgehackten Beats aus dem anderen Raum. Vermutlich irgendeine Form von abstrakter Kunst. Mit kritischem Blick schauen die Gäste aufmerksam zu, als ob sie anschließend dafür eine Bewertung abgeben müssten. Sie wirken so nachdenklich und gebannt. Wie hypnotisiert.
Und wir beide sind ebenfalls wie in einen Bann versetzt. Diese Leute dort, was sind das für welche? Menschen aus einer anderen Zeit? Aliens? Unter den Gästen, oder was auch immer die sind, ist einer dabei, der hervorsticht. Er hat einen Zylinder auf dem Kopf, einen großen schwarzen Zylinder. Eigentlich merkwürdig, dass niemand etwas sagt, denn mit seinem Haupt müsste er allen anderen die Sicht versperren. Und was dem Ganzen noch die Krone aufsetzt: Er dreht langsam seinen Kopf und starrt zu mir herüber. Als er in unsere Richtung guckt, bekomme ich eine Gänsehaut. Etwas furchterregend sieht der schon aus. Ich weiß nicht, ob es die Farben sind, aber sein Gesicht wirkt irgendwie leer. Jetzt nimmt er seinen Zylinder ab und verneigt ihn in meine Richtung, als ob er mich damit begrüßen will. Wer ist denn dieser Kerl – und was will der von mir?
„Was sind das denn für kranke Typen?“, sage ich. Daraufhin neigt der Mann seinen Kopf wieder zur Leinwand.
„Wieso?“, entgegnet Erik. „Lass die doch auch mal ihren Spaß haben. In dieser freien Welt darf jeder seine Fantasien ausleben, oder nicht?“
Dann scheint die ganze Sache also nur mir komisch vorzukommen, oder vielleicht liegt das auch an dem Gras. Meinetwegen sollen die doch alle machen, was sie wollen. Aber es ist etwas daran, dass mir trotzdem keine Ruhe lässt. Die Tatsache, dass dieser dunkel schimmernde Mann einer Figur ähnelt, die ich fast regelmäßig in meinen Träumen sehe, erschreckt mich irgendwie. Nur hatte diese Figur nie einen Zylinder – und sie hatte sich mir noch nie in der Wirklichkeit offenbart. Vielleicht wollte er sich mit dem Zylinder zuerst vor mir verstecken, um sich dann mit einem Gruß vor mir zu entpuppen. Was sollte dieser Gruß? Schauderhaft. Mich beschleicht der schreckliche Gedanke, dass er damit den Beginn von etwas einleiten wollte, was sich immer mehr in meinem Erleben bemerkbar macht. Das wahnsinnige Gefühl, nicht mehr unterscheiden zu können, was real ist und was fantasiert. Womöglich ist die Trennung zwischen Vorstellung und Wirklichkeit die eigentliche Illusion. Aber eins weiß ich mit Sicherheit: Die Grenzen werden durchlässiger.
5 Sterne
Tiefsinnig und spannend - 31.01.2017
Anne Plüschke

In zwei sich abwechselnden Erzählsträngen führt der Autor Markus Naumann in seinem Debütroman „Galerie der Schöpfung“ seine Leser und Leserinnen in eine neue tiefsinnige Sichtweise des Lebens ein. In der einen Erzählung beschreibt Naumann als allwissender Erzähler die Geschehnisse rund um den Rechtsanwalt und Familienvater Kopp. Dieser verliert schlagartig bei einer Busexplosion seine Frau und seinen Sohn. Für Kopp steht von Anfang an fest: Es handelt sich um Mord. Um diesen aufzuklären und seinen Verlust zu rächen, wendet er sich von seinem bisherigen tristen Leben ab und verwandelt sich in eine Person, von der er bisher nicht wusste, dass diese in ihm steckte. Mit Hilfe dieser neuen Seite seiner Persönlichkeit ist es ihm vergönnt, die Organisation ausfindig zu machen, die für den Tod seiner Familie verantwortlich ist. Dabei offenbart sich ihm ein verstörender Einblick in die abgrundtiefen Machenschaften dieser Vereinigung, die direkt unter der Gesellschaft verweilt und diese mit körperlichen und psychischen Experimenten zu manipulieren versucht. Seinen Schmerz und seine Trauer richtet Kopp darauf die Organisation zu vernichten. Die zweite Erzählung, in der Ich-Form verfasst, handelt von Krispin, einem 25-Jährigen Jungspund, der seine Rolle im Leben immer noch nicht so ganz gefunden hat. Krispin, oder auch kurz Kris genannt, lebt in zwei verschiedenen Welten: der Realität und seinen Visionen. Immer häufiger merkt er, dass er in realen Situationen in seine Visionen „abtaucht“. Eines Tages hält auf einmal ein Bus neben ihm und die hübsche Milly lädt ihn zu einem Abenteuer ein, das ihn aus seinem bisherigen Alltag reißt. Während er sich dieser neuen Erfahrung hingibt und neben Milly die Bekanntschaft mit Henry, einem Mann mittleren Alters, und Marvin, einem eigensinnigen Jungen, macht, erfährt er zunehmend wie ihm die Unterscheidungskraft zwischen Realität und Vision entgleitet. Seine Alpträume verfolgen ihn nun nicht mehr nur im Schlaf, sondern auch am Tag und treiben ihn an den Rand des Wahnsinns. Henry wird auf seinen Zustand aufmerksam und ermöglicht Kris den ersten Schritt zur Lösung des Rätsels hinter seinen Horrorvisionen.Beide Geschichten sind auf kunstvolle und spannende Weise miteinander verknüpft und bieten einen Einblick in zwei verschiedene männliche Protagonisten, die mit ihren eigenen Herausforderungen zu kämpfen haben. Mit jedem weiteren gelesenen Kapitel kann man Zeuge des Schreibprozesses von Naumann werden. Wirken die ersten Dialoge noch etwas unreal, so keimen spätere Dialoge, vor allem in der Erzählung zu Krispin, voller Tiefgründigkeit, Realitätstreue und Charakterzüge der Dialogführenden auf. Rundum ein sehr empfehlenswertes Werk eines begabten Erstautors, das neben der spannenden Aufklärung des Mordes an Familie Kopp und der Horrorvisionen von Kris sehr tiefgreifende Fragen und den Umgang mit Emotionen, wie Liebe und Trauer, bereit hält.

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