Der Todseher

Der Todseher

Joseph Heiss


EUR 16,90
EUR 10,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 226
ISBN: 978-3-99038-931-7
Erscheinungsdatum: 08.05.2015
J. ist faktenorientiert. Er ist technischer Ingenieur. Plötzlich sieht er bizarre Totengesichter in Gesichtern von Menschen, die alle durch einen Unfall ums Leben kommen. Sehr spät bemerkt J., dass sich hinter dem „Totsehen“ ein System versteckt, dessen Ziel seine Familie ist.
Augenblicklich fiel J. die Ballade „Das Abendmahl des Leonardo da Vinci“ von Wolfgang Lunzer-Lindhausen ein.

Da ging er durch des Alltags Volksgewühl,
Und ließ sich von dem Strom der Straße treiben,
Da fasste ihn ein eigenes Gefühl,
Das ließ ihn plötzlich wartend stehen bleiben.
Da sah er endlich – und er irrte nicht –
Es dunkler werden in der dunklen Menge,
Da flammte düster aus des Markts Gedränge
Das eine große, teuflische Gesicht.

Mit „augenblicklich“ war genau jener Moment gemeint, in dem J. den Unbekannten in der Menge der flanierenden Einkaufsbummler, touristischen Stadtbesucher und vielen, aufs äußerst hastig und beschäftigt scheinenden Langsamläufern oder Schnellgehern, je nachdem, wie man es interpretiert, sah und dessen Gesicht sich in einer blitzartigen Art und Weise vom normalen menschlichen Durchschnittsgesicht in eine Totenmaske verwandelte. Blitzlichtartig, für Sekundenbruchteile nur „Totenmaske“ und wieder zurück. Eine Totenmaske oder ein „Totengesicht“, wie J. sie aus dem Fernseher oder aus Zeitschriften bei den für uns makabren Allerseelenfeiern aus Mexiko schon gesehen hat und die auch immer wieder auf Faschingsveranstaltungen getragen wurden. Sie sind nie „out“ oder „in“. Aber sie tauchen doch immer wieder auf. Totenmasken. J. glaubt, sich an einen Artikel aus der GEO-Zeitschrift über Feiern auf Friedhöfen in Mexiko zu erinnern. Die Menschen haben da auch Pappmasken getragen oder sich ihre Gesichter als Totengesichter angemalt. Totengesichter mit großen schwarzen Augen, einem dreieckigen schwarzen Nasenloch und den schrecklich groß aussehenden Zähnen und einem bizarren Grinsen. J. suchte aber weder ein teuflisches Gesicht noch eine Totenmaske. Kopfschüttelnd über diesen komischen Zusammenhang mit der Ballade und dem, was er glaubte, gesehen zu haben, ließ er sich durch die Menschenmenge treiben.
Er hatte kein spezielles Ziel und ging vergnüglich einer seiner Lieblingsbeschäftigungen nach, wann immer er einen Stadtbummel machte. Und die war, Leute anzusehen, zu beobachten und die Menschen nach ihrem Aussehen, ihrer Physiognomie, ihrer Kleidung, ja selbst ihren Bewegungen nach in Kategorien einzuteilen. Sich auszudenken, was sie sein könnten. Wie sie sein könnten und ob sie sympathisch, unsympathisch, anziehend, abstoßend oder neutral sind. Mit „neutral“ meinte J., dass man die Leute ganz einfach nicht einzuordnen wusste. Dass einem bei der Beobachtung und Beurteilung des Menschen nichts einfiel Es gab beinahe keine neutralen Menschen, hatte er in den vielen Jahren seiner Beobachtungsstudien festgestellt. Nichtssagend, ja. Platt, ja. Fad auch. Aber nicht neutral.
Da es ein sonniger Tag war, die Straßen der Stadt sich bereits aufgeheizt hatten und daher eine unangenehme Wärme ausstrahlten, wie J. es von überhitzten Bodenheizungen kannte, setzte er sich einfach in den nächsten der zahlreichen Schanigärten, die auf den Gehsteigen längs der Straßenbahn, die durch die Hauptgeschäftsstraße führte, wie Perlen auf einer Schnur aufgefädelt ihre Tische und Stühle zum entspannten Faulenzen und zu einem kühlen Bier einluden. Er bestellte ein kleines Bier. Die Kellnerin, ein noch junges Mädchen mit glatten blonden Haaren und einer modernen Brille, die ihre hellen Augen dezent hervorhoben, tippte die Bestellung freundlich lächelnd in ihr elektronisches Kästchen ein. Ihre weiße, kurzärmelige Bluse stand ihr ausgezeichnet und auch die dunkelrote Schürze, die alle in diesem Lokal Angestellten trugen, brachte ihre junge ausgewogene Figur sehr gut zur Geltung. J. erfreute sich daran. Sehr sympathisch, dachte er.
In letzter Zeit bevorzugte J. die kleinere Variante und nicht mehr die übliche Halbe Bier. Zum einen weil er das Bier liebend gerne sehr kalt trank und bei einer Halben das Restbier sich nach dem ersten Schluck, besonders an so herrlichen Sonnentagen, zu sehr erwärmte und er es dann nicht mehr mochte. Zum anderen aber des Bierglases wegen. Seit der Kultivierung des Biertrinkens durch Weglassen des klobigen Krügerls wurden immer elegantere und wirklich attraktiv gestaltete neue Biergläser angeboten. Das Bier schmeckte dadurch ganz einfach besser, fand J. Man bekam einfach Lust, daraus zu trinken. Ein leicht gebogenes elegantes Glas, das in der kleinen Variante um vieles eleganter wirkte als das große Glas, hatte es ihm besonders angetan, und meist suchte er sich den Gastgarten, der eben dieses Bierglas in seinem Sortiment hatte, aus. Ein weiterer, nicht unwesentlicher Grund war gänzlich nüchtern. Geiz. Weil er das Bier bezahlen musste, wollte er den Rest nicht stehen lassen und so musste er ein warmes, ungeliebtes Bier trinken. Das war der weiterer Beweggrund, auf ein kleines Bier umzuschwenken. Das Problem war nur, dass er mit einem kleinen Bier nicht genug hatte und ein zweites bestellen musste. Das war aber zusammen mehr als eine Halbe. Er musste daher in den sauren Apfel beißen und zwei kleine Bier trinken. Ja, manchmal verlangt einem das Leben wirklich sehr schwere Entscheidungen ab, dachte er amüsiert, als ein schrecklich schrilles, grelles Geräusch den gleichförmigen Lärmpegel angenehmer Gastgartendiskussionen und hektischen Großstadtlärms mit einem Schlag wegfegte und ein Ungeheuer, das dem Ohr und dem ganzen Körper Schmerz bereitete, den gesamten unmittelbaren Stadtabschnitt vereinnahmte. In Bruchteilen von Sekunden zerlegte es den gewohnten Geräuschpegel. Grässlich grüne Schallwellen prallten, die glatten Fassaden der eng stehenden Gebäudeschlucht nutzend, etliche Male hin und her, um so das ohrenbetäubende Quietschen zu vervielfachen und dabei niemanden zu verschonen. Es war Lärmterror pur. Leute schrien erschrocken, einige riss es förmlich von den Sitzen, andere erstarrten, Lots Salzsäulen gleich. Das Herz pumpte und der Herzschlag stieg plötzlich rasant. Flüchten oder sich verstecken. So plötzlich, wie das Geräusch aus heiterem Himmel gekommen war, so plötzlich war es auch wieder weg, und eine kurze, aber ebenso intensive Stille blieb zurück. J. blieb sitzen, auch wenn das helle Kreischen seinen Ohren wehtat und er sich unwillkürlich in Richtung des Geräusches drehte. J. kannte das Geräusch von plötzlich blockierten stählernen Straßenbahnrädern, die ein kurzes Stück auf den Schienen dahinschleifen, bevor ein solches Tonnengefährt zum Stillstand kam Metall auf Metall.
Unerwartet, grell, schneidend, schrill.
Wegen des plötzlich entstehenden Gedränges all der Leute, die mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und Behändigkeit auf den Unglückspunkt hin zusteuerten und es unglaublich rasch fertigbrachten, sich an einem bestimmten Punkt konzentrieren – der Befriedigung der Neugier wegen natürlich so nahe wie nur irgend möglich beim Unfallgeschehen –, konnte er nicht sehen, was da eigentlich passiert ist. Und er wollte es auch gar nicht. Blutverschmierte, zerrissene Leiber und abgetrennte, grässlich bleiche Leichenteile, so wie es seine Fantasie ihm bereits suggerierte, waren in natura nicht gerade seins. Außerdem hasste J. offen gezeigte Neugier. Wann immer etwas Unvorhergesehenes, Aufregendes, nie Dagewesenes oder in ähnliche Kategorien Fallendes in seiner unmittelbaren Nähe stattfand, ignorierte er es. J. blieb nach kurzem Registrieren solcher Ereignisse nie stehen, um zu gaffen. Nie. Da hielt er es mit der englischen Art. Noblesse oblige.
J. konnte sich noch gut an seine Kindheit erinnern, wobei ihm eine Episode noch sehr gut im Gedächtnis haftete J. ging damals als Kind mit seiner Mutter in die Stadt. Eine durchschnittliche provinzielle Kleinstadt. Beinahe ein Vorbild einer provinziellen Kleinstand. Und da stand am Gehsteig der Straße, die in die Stadtmitte führte, tatsächlich ein originaler roter Ferrari. Aus Italien. Flach. Rot. Elegant. Rar. Und um den Ferrari herum Dutzende junge und ältere Erwachsene, die sich vollkommen aufgeregt jedes Detail des Ferraris ansahen. Ihn berührten. Sich fachmännisch gaben oder ganz einfach nur fasziniert schauten. Auch J. wollte sich das rasante Gefährt näher ansehen. Aber da packte ihn seine Mutter fest an der Hand und zischte: „Untersteh dich! Bleib da! Das sieht ja aus, als könnten wir uns das nicht leisten!“ Mit diesen Worten schleifte sie ihn an der erregten Menge vorbei und warf dabei keinen einzigen Blick auf das elegante rote Gefährt. J.’s Vater war ein gewöhnlicher Eisenbahner, also ein Angestellter der Österreichischen Bundesbahn, und wir waren fünf Kinder. Wir besaßen ein Damenfahrrad der Marke Puch, ein Herrenfahrrad der Marke Puch, einen Tretroller und ein Motorrad. Eine 125er-Puch. Ähnliche Vorfälle und Erlebnisse lehrten J., seine Neugier öffentlich nie zu zeigen, was schließlich sein Markenzeichen wurde, das er künftig als englische Lebensart des Understatements lebte.
Die Sirene einer Ambulanz, die nur wenigen Minuten nach dem kreischenden Stillstand der Straßenbahn aufheulte – wahrscheinlich das Rote Kreuz, dachte J. – ließ ihn vermuten, dass ein Unfall geschehen war/sein musste. Unfälle passierten nun mal eben, Leute waren unvorsichtig, dumm und rücksichtslos. Wahrscheinlich war so ein Idiot oder ein Besoffener oder einer, der unter Drogen stand, von denen es immer wieder welche gab, zu jeder Tages-, Nacht- und Jahreszeit, in den Fahrbereich der Straßenbahn geraten und niedergefahren worden. Oder irgendein ausgeflippter Psychopath hatte jemanden vor die herannahende Straßenbahn gestoßen. In letzter Zeit hatte J. immer wieder solche oder ähnliche Szenarien in der Zeitung gelesen. Erst letzten Sonntag, nach der Kirche, hatte ihm eine Frau erzählt, dass ein übler Typ eine bereits bejahrte Frau vor ihren eigenen Augen brutal aus der Straßenbahn geschubst hatte. Die Frau war sehr unglücklich gefallen, hatte geblutet und musste vom Roten Kreuz versorgt werden. Die Polizei war natürlich auch gekommen, wie üblich zu spät. J. musste über dieses Klischee lachen. Typen gibt es, die gibt es nicht. Auch diese Gedankenassoziation amüsierte J. Typen gibt es, die gibt es nicht!

Verdrossen saß J. in der Straßenbahn. Er mochte es nicht wenn er mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren musste. Aber jeden Freitag benötigte seine Frau das Auto, um die notwendigen Einkäufe für das Wochenende und die kommende Woche zu machen. Und ein zweites Auto kam für J., besonders aber für seine Frau R. ganz einfach nicht infrage. Nicht so sehr des Geldes wegen, sondern wegen der Umwelt. R. war eine sehr umweltbewusste Frau und sehr penibel, auch im Bereich der Mülltrennung und beim Einkaufen vernünftiger Lebensmittel. J. liebte das sehr, da R. nicht nur ausgesuchte Lebensmittel einkaufte, sondern auch sehr schmackhaft zu kochen verstand. Eine Küche, die J. liebte. Aus diesem Grund kostete es ihm nicht wirkliche Überwindung, das Auto an jedem Freitag R. zu überlassen und mit dem Bus und der Straßenbahn zur Arbeit zu fahren. Trotzdem war er verdrossen. Denn die Mühlviertler Benützer öffentlicher Verkehrsmittel, in diesem Falle ein gewöhnlicher Autobus, waren so richtige Muffel. Besonders am frühen Morgen. Jeder saß auf einem Sitz, der am Gang lag, und legte sein Gepäck vorsorglich am Fenstersitz ab. Man musste daher immer wieder störend nach dem Sitzplatz fragen. Die meisten Jugendlichen erschwerten die Sitznachfrage noch dadurch, dass sie vorgaben zu schlafen und ihre Gesichter tief in Mützen, Hauben oder Parka-Kapuzen verbargen, um so hoffentlich der Frage nach dem Freimachen des Fenstersitzes zu entgehen. Warum jeder Mühlviertler glaubte, Anrecht auf zwei freie Sitzplätze in einem am frühen Morgen meist gerammelt vollen Bus zu haben, war J. ein Rätsel. Wahrscheinlich, weil er kein Mühlviertler war. J. war sehr froh, nicht tagtäglich auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen zu sein.
Sein mürrischer Blick, der sich inzwischen neugierig auf die paar wenigen Menschen auf den Gehsteigen der Stadt richtete, die wahrscheinlich ebenfalls schon in aller Frühe zur Arbeit eilten, wurde abrupt abgelenkt, als er ein Déjà-vu des Ereignisses jenes Tages hatte, an dem in der Stadt jemand von der Straßenbahn erfasst und überfahren worden war. Kurz zuvor hatte er ein ähnliches Erlebnis gehabt, als er blitzartig im Wechsel ein Gesicht in der Menschenmenge als Totenmaske sah. Er erinnerte sich deshalb, weil ihm sogleich wieder diese Ballade einfiel. Die vorbeieilende Frau mit dem nichtssagenden, eher blassen Gesicht, den ins rechte Auge fallenden hässlich hellgrün gefärbten Haarsträhnen und dem sogar ein wenig erotischen, aber doch gerade um diese Tageszeit um eine Nuance zu grell geschminkten, sinnlichen Mund wechselte ihr Gesicht wie damals das Gesicht jenes Mannes innerhalb von Sekundenbruchteilen in jene Totenmaske, die komisch grotesk ein bizarr lächelndes Totengesicht darstellte. J. drehte seinen Kopf schnell herum, um nach der Frau zu sehen, aber ihre raschen Schritte und das Tempo der Straßenbahn verhinderten einen zweiten Blick auf das Gesicht der Frau.
Dafür fielen ihm die Verse der Ballade wieder ein.

Da sah er endlich – und er irrte nicht –
Es dunkler werden in der dunklen Menge,
Da flammte düster aus des Markts Gedränge
Das eine große, teuflische Gesicht.

J. war bei Gedichten, die sich reimten, ein sehr geschickter Nachreimer, und so änderte er die letzten beiden Zeilen in:

Da blitzte komisch aus der morgenmüden Menge
Das grinsend groteske Totengesicht.

Bei der nächsten Haltestelle war der Vorfall bereits vergessen, denn die vielen neuen Gesichter, die es zu beobachten, katalogisieren und einzuschätzen galt, verlangten wieder seine ganze Konzentration. Die Menschentraube, die sich innerhalb kurzer Zeit ums Eck jener Straße gebildet hatte, in die die Frau eingebogen war – eine an einem so frühen Morgen beinahe menschenleere Straße –, konnte J. schon nicht mehr sehen. Und auch das heulend herannahende Rettungsauto konnte J. nicht mehr vernehmen, da die Straßenbahn gerade in den Bereich einfuhr, der unter die Straße führte.

Verblüfft kippte J. den gesamten restlichen Inhalt seines Weinglases im Foyer des Theaters in seine Kehle, wobei er sich hustend verschluckte. Nicht dass der Grüne Veltliner zu herb gewesen wäre – für ihn als gestandener Österreicher und Steirer der am liebsten getrunkene weiße Wein mit einem ausgezeichneten Pfefferl –, aber wenige Meter vor ihm wechselte das Gesicht der aparten und trotz ihres fortgeschrittenen Alters attraktiven Frau in Sekundenbruchteilen in das J. bereits bekannte Totengesicht mit dem bizarren Grinsen und wieder zurück. Ein Wimpernschlag nur und die grau melierten Haare, die buschigen, wenn auch gut gepflegten Augenbrauen, die gerade Nase mit der eleganten Brille, deren Glas die ausdrucksvollen Augen noch dunkler und größer erscheinen ließen, als sie tatsächlich waren, und ihr dezent geschminkter roter Mund sahen direkt in seine Richtung. Wobei ein leicht verhaltenes Grinsen indirekt erkennen ließ, dass sie sein Husten und seine wahrscheinlich weit aufgerissenen Augen belustigte. Das Läuten der Theaterglocke kündigte das Ende der Pause an und J. ging mit seiner Frau rasch über die Stufen hinauf zum ersten Rang, wo sie ihre abonnierten Sitzplätze mit sehr guter Sicht auf die Bühne hatten. J. wollte bereits auf seinem Platz sitzen, bevor die Leute die Reihe füllten. Er hasste es, durch die Reihen zu gehen und andere Theaterbesucher von ihren Sitzen aufstehen und ihn vorbeigehen zu lassen, wenn er etwas zu spät kam. Umgekehrt war es ihm lieber.
J. wunderte sich ein wenig, als er bemerkte, dass einige Sitzplätze unten im Parkett nicht mehr belegt waren und die Leute, die dort beim ersten Akt noch gesessen hatten, nicht erschienen waren. Besonders weil es eine ausgezeichnete Vorstellung war. Leute gingen gewöhnlich dann nach dem ersten Akt, wenn die Vorstellung nicht ihrem Geschmack entsprach oder wenn eine Inszenierung etwas schräg oder zu modern ausgelegt wurde. Erst später, als die düstere Musik Rigolettos ihn fesselte, dachte er kurz an den makabren Totengesichtswechsel der Frau. Und sogleich fielen ihm dazu neue Endzeilen ein.

Da verunstaltete in der Theaterbesuchermenge
Das schrille Totengrinsen ein wohlgestaltetes Frauengesicht.

J. ging in den Kontrollraum der Roheisenstation. Hier wurde über eine Fernbedienstelle mit Joystickbedienung das flüssige Roheisen aus runden zylindrischen riesigen Röhren, die mit feuerfestem Material ausgekleidet waren und bis zu 300 Tonnen flüssiges Eisen mit einer Temperatur von 1350 °C transportieren konnten, durch Drehen der Röhren das flüssige Roheisen vom Hochofen in einen darunter befindlichen Behälter, Pfanne genannt, der ebenfalls mit feuerfesten Steinen ausgemauert war, geleert. Circa 120 Tonnen pro Pfanne. Die fünf Personen erledigten ihre Arbeit simpel und ruhig im Kontrollraum des sehr futuristisch aussehenden Raumes mit all den Knöpfen der Bedienpulte, den vielen Monitoren, wo über Beobachtungskameras die Bilder zur Kontrolle in den Leitstand übertragen wurden, und den Computern, die im ganzen Raum verteilt waren. J. war jedes Mal, wenn er diesen Raum betrat, enttäuscht, nicht Menschen im Science-Fiction-Look anzutreffen, sondern Arbeiter in der gängigen schlichten Arbeiterkluft, bei der Blau dominierte und einige gelbe Streifen über der rechten Schulter ihre Zugehörigkeit zu dieser Abteilung zeigten. J. kannte die Mitarbeiter schon seit Jahren und gewöhnlich lief ein kurzer Schmäh, sozusagen als Entree, in diesem Raum. Als Produktionsingenieur im Stahlwerk und in dieser Woche als diensthabender Ingenieur machte J. jeden Tag zweimal den Rundgang durch das Stahlwerk und lief die einzelnen Abteilungen des Stahlwerkes ab, um sich über Zustand und Situation zu informieren und ein wenig mit den Mitarbeitern zu plaudern Viel Fachsimpelei, aber auch nur Quatschen und auch Blödeln waren immer drin. Wie üblich machte J., meist nach Rangordnung der Besatzung, die Runde und begrüßte jeden Einzelnen im Raum mit Handschlag. Das war so gängig seit J. in diesem Stahlwerk arbeitete. Auf Außenstehende wirkte das immer ein wenig grotesk, für Insider war es normal. Beim Begrüßen des Mannes, der den zweiten Entschwefelungs- und Abschlackstand bediente, stutzte J. Das Gesicht des Mannes, den er nun doch schon seit sicherlich zehn Jahren kannte, ein breites grobes Gesicht mit dem breitem Mund mit fleischigen Lippen und einer dicken Brille auf der ebenfalls dicken Nase, wurde plötzlich zu einem Totengesicht. Sekundenbruchteile verharrte J.’s Hand, die er bereits ausgestreckt hatte, auf halbem Weg und zögernd streckte er sie weiter aus, als einen Wimpernschlag später das normale Gesicht erschien und die großen Augen hinter den Brillengläsern ihn ansahen. Der Mitarbeiter schien die kurze Erschrockenheit von J. nicht bemerkt zu haben. Da J. wusste, dass bei einem Arbeitsunfall ein Auge dieses Mannes so sehr verletzt wurde, dass er darauf erblindete und daher nicht ganz gut sah, dachte er sich, dass er sein kurzes Zögern gar nicht bemerkt hatte.
Während J. in seinem Büro an einer Auswertung arbeitete, bemerkte er ein wenig Hektik im Gang vor seinem Büro. J.’s Bürotür blieb immer offen – eine der wenigen in diesem riesigen Bürotrakt, wo sich die Ingenieure und Betriebsleiter eher in ihren Büros verbargen und die langen Gänge Spitalscharakter annahmen und nicht das hektische Leben von Stahlwerksaktivitäten widerspiegelten. Einige Leute hasteten auf und ab und riefen sich in einer komisch gedämpften Weise Satzfetzen zu. Wahrscheinlich sprachen sie normal, J. erfasste im Büro allerdings nur Sprachfetzen.
„Roheisenumleergrube“ fing er noch auf und die Neugier trieb ihn doch, aufzustehen und nachzusehen, was draußen im Gang los war. Als er den Sicherheitsbeauftragten der Abteilung mit dem Chef des Stahlwerkes rasch über den gläsernen Übergang vom Büro zum Stahlwerk hasten sah, fragte er den Nächststehenden, was da eigentlich los sei. Der wusste auch nichts Genaueres, außer, dass anscheinend jemand in eine Grube gefallen sei. J. ging sinnend in sein Büro, er musste an den Unfall vor beinahe einem Jahr denken, bei dem ein junger Mann durch eine Aneinanderreihung von unglaublich dummen Zufällen in eine Roheisenumleergrube gefallen war. Immerhin aus circa sieben Meter Höhe auf Beton. Die Statur und Elastizität des gut trainierten jugendlichen, gedrungenen Körpers bewahrten den Verunfallten vor dem Tode. Aber gebrochene Rippen und schreckliche Prellungen trug er dennoch davon.
Ein über Bedienknöpfen manipulierbares Gitter wurde seinerzeit als Lösung vor ähnlichen Unfällen installiert, wusste J. noch. Als sein Bürokollege mit sorgenvoller Miene ins Zimmer kam, er war zuständig für die Sicherheitsaspekte im Stahlwerk, musste J. ganz einfach fragen, was passiert war. Der Kollege konnte nur sagen, dass man nun die Decke über den Verunfallten gelegt hatte. Den Verunfallten, der durch genau dieselbe Öffnung in die Roheisenumleergrube gefallen war wie seinerzeit der junge Mitarbeiter.
5 Sterne
Aussergewõhnlich - 08.08.2021
Fritz Schlagbauer

Ich kenne JH seit wir in Südafrika Freunde wurden. Seine besondere Fantasie hat mich immer fasziniert. Dieses Buch ist ein logischer Höhepunkt in seinem Leben. Gratulation!!!!!Fritz

5 Sterne
Packend - 14.05.2016
Reinhard Daniel

Gewaltige Bildsprache, eine sehr packende und ungewöhnliche Geschichte um den speziellen Charakter der Hauptperson. Das Buch fesselt und wirkt lange nach.

5 Sterne
Spannung, Angst, Verwunderung - 22.07.2015
David D.

Interessant, wenn man in einem Buch die Charaktere denkt zu kennen bzw. kennt und sich das Buch bis zum Schluss weder als Roman noch als Biografie eingliedern kann.Ich bin persönlich sehr glücklich über den Ausgang des Buches, da wir uns fast täglich in der Arbeit begegnen!Ich hoffe bald wieder ein so spannendes Buch von dir lesen zu dürfen.

5 Sterne
Der Todseher von Joseph Heiss - 12.06.2015
Claudia Karl

Ich habe das Buch wahrlich „verschlungen“, ich lese relativ viel Bücher, bei einigen komme ich irgendwie überhaupt nicht weiter oder sie sind extrem schwierig zu lesen, aber bei diesem Buch war es so, dass ich gar nicht aufhören wollte zu lesen, weil ich unbedingt wissen wollte, wie es weitergeht. Also einfach gut lesbar und auch sehr spannend geschrieben, aber auch lustig, und wenn man den Hauptdarsteller ein bisschen kennt und das Umfeld in der voest, macht es zusätzlich Spaß zu lesen.Also kurz gefasst, hoffentlich nicht das letzte Buch von Joseph Heiss.

5 Sterne
Mitreißend, in den Bann ziehend - 11.06.2015
Mayr Andrea

Toller Stil, spannend bis gruselig, man kann sich voll in den „Hauptdarsteller“ versetzen und wird in seinen Bann gezogen

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