Der Steinmann

Der Steinmann

Ein Alpenkrimi

Remy Gubler


EUR 11,90
EUR 7,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 208
ISBN: 978-3-99048-558-3
Erscheinungsdatum: 16.06.2016
Im Domleschg wird eine schöne Finanzspezialisten erschossen, doch das ist erst der Anfang einer Spirale der Gewalt. Kriminalpolizist Reto Caviezel kämpft gegen einen übermächtigen, kaum fassbaren Gegner. Stück für Stück enthüllt sich ein mörderischer Deal …
Prolog

Regula starrt kurz auf das Kuvert, das ihr der Italiener, wenn er einer ist, sie wechseln schließlich keine Worte, in die Hand drückt. Es wirkt unauffällig, wiegt aber schwer, die Adresse fehlt, sie kennt sie schon. Trotzdem fühlt es sich weich an. Es ist wohl gepolstert und der Inhalt muss aus Metall sein. Sicher enthält es verbotene Ware, sonst wäre es mit der Post verschickt worden.
Der Mann entfernt sich grußlos, die Transaktion hat nur kurz gedauert. Hier, in diesem Gewühl, ist sie wohl unbemerkt geblieben. Er hat ja nicht mal angehalten, die Menschen links und rechts beugen sich immer noch über die Marktstände und feilschen. Sie reagieren nicht auf das, was gerade passiert. Sie dreht sich ab, wie um sich seitwärts durch das Gedränge zu schieben, und lässt den Umschlag unauffällig in ihre Handtasche gleiten. Was ist wohl drin? Niemand hat sie aufgeklärt, nur die Kennzeichen des Boten sind ihr genau beschrieben worden, sie vermutet aber Gefährliches oder Abhörelektronik, eine Waffe vielleicht sogar.
Sie biegt in eine Nebengasse ein, um zum Parkplatz zu gelangen. Hinter ihr erklingen Schritte. Sie sieht sich nicht um, lauscht aber wachsam. Auf dem engen und gewundenen Sträßchen kommt ihr niemand entgegen, nur dieses harte Klacken der Schuhe, das verklingt nicht. Im Rückspiegel eines abgestellten Motorrads kann sie einen kurzen Blick auf den Verfolger werfen. Ihr Herz schlägt schneller, sie fühlt Schweiß auf der Haut. Ihr folgt definitiv nicht der Überbringer, nur liefert ihr der flüchtige Blick wenig, bloß das Rot des Hemdes fällt ihr auf, sie weiß aber nicht, ob es einem Freund, Feind oder Unbeteiligten gehört.
Unbehelligt erreicht sie die belebtere Straße und sieht vor sich den Parkplatz. Bevor sie die Fahrbahnen überquert, um zu ihrem Wagen zu eilen, lässt sie den Blick um sich schweifen. So, als würde sie eine Lücke im Verkehr suchen. Einer in rotem Hemd ist nicht zu übersehen, kehrt ihr aber den Rücken zu, und auch die Farbnuance stimmt nicht. Doch sie zweifelt, wegen dem hier viel helleren Licht. Bevor der Typ in ihre Richtung schaut, huscht sie über die Straße und verschwindet zwischen den geparkten Automobilen.
Während sie aus der Stadt hinausmanövriert, kann sie es nicht lassen, immer wieder den Rückspiegel zu konsultieren, und bald fällt ihr ein blauer Toyota auf, nur drei Wagen hinter ihr. Er lässt sich nicht abschütteln und folgt ihr auch über den Alpenpass. Sie verspürt den irren Impuls, die geballte Kraft ihres Motors einzusetzen, redet sich aber ein, damit nur ihre Verstrickung zu verraten.
Nach der Passhöhe verliert sie den Wagen aus den Augen, er taucht nicht mehr auf. Unsicherheit befällt sie, doch dann entscheidet sie sich, dem Plan zu folgen. In St. Moritz steckt sie die empfangene Ware wie verlangt in ein Schließfach, der Code stimmt, dann fährt sie müde heim.

Am Morgen loggt sie in ihren Computer und dann in ihren Account ein. Die 7000 Franken sind über Nacht gutgeschrieben worden. Merkwürdig, der Empfänger muss sie überwacht, die Ware sofort geprüft und unmittelbar danach die Zahlung ausgelöst haben. Die Spannung lässt nach. Sie kann sie nicht abstreiten, diese Liebe zum Geld. Sie klickt weiter, zur risikoreichen und doch so lukrativen Transaktion, deren Auftraggeber sie zu diesem Botengang überredet hat. Wenn sie sich verschätzt, kann das ihm Millionen kosten, wenn nicht, ein Vielfaches davon bringen. Und sie selbst hängt mit dem größeren Teil ihres Kapitals mit drin.
Sie arbeitet fiebrig, erteilt Auftrag um Auftrag in dieser geschachtelten Konstruktion, bringt den Prozess zum Laufen. Sie fühlt, sie hat die Sache im Griff, sie wird massiven Gewinn einstreichen!


1

Wer von Cazis aus Richtung Rhein spaziert, findet am Weg unter einem wilden Kirschbaum eine Sitzbank. Wer dann von dort aus die Augen über die Felsabbrüche des Domleschg schweifen lässt, dem zeigt sich, wenn sie oder er den phantásischen Blick besitzt, der Steinmann. Das runde Gesicht, die grobe Nase und ein Auge zeichnen sich im Felsen ab, das andere muss man erahnen.
Und vielleicht, wenn Sie Glück haben, sehen Sie dort Maria, Caflisch mit Nachnamen. Aber nicht jeden Tag, denn sie arbeitet als Verkäuferin für ein Modegeschäft in Thusis. Wenn Umstände und Wetter es zulassen, dann pendelt sie nicht mit dem Zug, sondern benutzt das Fahrrad. Und viel lieber als auf der Hauptstraße radelt sie über Nebenwege, obwohl das einen Umweg bedeutet. Da sie Bäume liebt, hält sie beim Kirschbaum regelmäßig an und betrachtet die Landschaft.
Gestatten Sie mir an dieser Stelle, sie etwas näher zu beschreiben. Sie ist neunundvierzig Jahre alt, groß gewachsen, schlank, mit Haaren, die einmal prächtig blond gewesen sind, nun aber zunehmend ins Silber tendieren. Da ihr Gesicht jene herbe Schönheit blonder Frauen besitzt, die dem Alter lange widersteht, sieht mancher in ihr eine nordische Königinnengestalt, wie sie eigentlich gar nicht in die Gegend passt. Unterstrichen wird dieser Eindruck noch durch die aufrechte Haltung und eine Bestimmtheit der Bewegungen, sicher, ja, elegant.
An dem Tag nun, da diese Geschichte beginnt, sieht sie den Steinmann. Kommen Sie mir nun nicht mit der Behauptung, sie sei für einen Moment, müde von der Arbeit, eingeduselt. So ist es nicht, denn diesmal ist es Sonntag. Sie sitzt da, entspannt, wach, allenfalls ziehen einige Gedanken durch sie hindurch. Und da erscheint ihr, als Teil der Felswände über dem Domleschg, zwischen Almens und Scharans, hoch oben, das Gesicht.
Das muss ja an und für sich nicht als Wunder angesehen werden. Gesteinsformationen, Wolken, Blättergewirr, Wasserwellen bilden ja, wie jeder weiß, oft solche Formen. Wahrhaft seltsam ist hingegen, dass das Gesicht, der Steinmann, ihr zublinzelt. Es gibt ihr einen Schock. Es verändert ihre innere Welt. Ich will es nicht verschweigen, Maria liest, wie viele, esoterische Bücher, wichtiger noch, sie glaubt an mehr als die platte Realität, an Sinn und Ziel des menschlichen Daseins, und denkt immer wieder darüber nach. Doch jetzt erlebt sie, dass all das Lesen nichts ist angesichts eines eigenen unzweifelhaften Erlebens.
Wie seltsam, so etwas zu sehen. Sie bildet sich das ja nicht ein, sie ist sich klar bewusst und hat nichts dergleichen herbeigewünscht.
Sie guckt hoch. Da sind Felsen, ein bisschen wie ein Gesicht, aber nur die Gesteinsformation, wie immer. Sie horcht in sich hinein. Sie fühlt, dass da etwas ist. Ein Steinmann, wie sonst könnte sie ihn denn nennen? Was hat das Erlebnis nur zu sagen?
Sie bekommt keine Antwort. Sie steht auf, schwingt sich in den Sattel und fährt heimwärts.

Regula Ambach bleibt stehen und schaut zurück auf die nachtdunkle Wiese hinter ihr. Bis nach Almens sieht sie nicht. Ihr fehlt die nötige Ausbildung, sonst wäre sie zehn Meter weiter in den Wald hineingegangen und dann umgekehrt, um in Deckung zwischen den Bäumen zurückzuhuschen. So drückt sie sich nur zur Seite, in der irrigen Meinung, das sei ein ausreichender Schutz. Sie sucht das Gelände bis zur Bodenwelle hin ab, es ist nichts zu erkennen. Vor allem die Gestalt nicht, die sich im Moment ihres Zögerns blitzschnell niederkauert und nun, keine hundert Meter hinter ihr, eine Nummer ins Handy tippt, einige hastige Worte raunt, die Verbindung kappt und das Gerät lautlos einsteckt. Und dann ruhig wartet, bis die Frau unter den Bäumen sich erneut umdreht und verschwindet. Der Mann folgt ihr nicht.
Seinen Anruf nimmt ein Autofahrer entgegen, dabei seinen Wagen virtuos und einhändig von Fürstenaubruck nach Scharans hinauf steuernd. Die schweizerische Gesetzgebung bezüglich diesbezüglicher Tätigkeiten am Steuer scheint ihn wenig zu kümmern. Er schaltet das Funktelefon aus, gerade rechtzeitig, um den Smart herumzureißen und rechts Richtung des Behindertenheimes hinaufzudirigieren.
Er tastet nach dem Gewehr, seinem Revolver an Reichweite überlegen. Wie gut, dass er es schon gestern entwendet und noch in der Nacht im Wald einige Schüsse abgegeben hat, um sich an die Waffe zu gewöhnen. Dieser schnelle Entscheid verwischt sicher ihre Spuren. Ansonsten stuft er die Aktion als Fehlschlag ein. Das Versteck dieses Gian enthielt nur Plunder, kein belastendes Material. Nicht einmal Briefe von dieser Regula und auch keine anderen Hinweise einer Verbindung zu ihr.

Von Zeit zu Zeit bleibt sie stehen und lauscht. Sie atmet jetzt schwer, Ängste plagen sie. Sie hasst es, sich das einzugestehen, aber Furcht bedrückt sie. Wäre sie nur schon mit Gian zusammen! Auch wenn er kaum viel Schutz bietet, sie würde sich doch besser fühlen. Denn da stimmt Verschiedenes nicht, schon seit dem ersten Anruf.
„Prepare you!“ Das hat ihr die Stimme in orientalisch eingefärbtem Englisch befohlen.
„Bring it to the Two when asked. Prepare you to go to Italy, Tirana, you know. Be careful, there is danger.“
Kurz darauf kam die Anweisung zu warten, der Empfänger könne noch nicht kommen. Sie war ja nur Aushilfe, aber dieses Hin und Her dünkte sie bedrohlich. Es musste Feinde geben, und die könnten ihnen inzwischen auf die Spur kommen.
Gestern dann endlich: „The Two is carefully moving to Tirana, bring it tomorrow.“
Sie hat jedes Mal die Nummer auf ihrem Mobiltelefon kontrolliert, es ist die richtige gewesen. Also hat sie gehandelt und die nötigen Vorbereitungen getroffen.
Und heute der letzte Anruf, auf die Almenser Nummer Marthas. „He is ready; he cannot wait any longer. Bring it to the Two. Bring it carefully to Tirana! Early!“
Höchst dringlich, aber sonst hat es wie immer geklungen, orientalisch gefärbt wie gewohnt, die Schlüsselworte „the Two“, „Tirana“ und „carefully“ sind da gewesen, nur die Nummer des Anrufers hat sich auf diesem alten Apparat nicht überprüfen lassen. Sie steht still und runzelt die Stirn. Sie zweifelt plötzlich. Stimmen klingen nicht immer gleich, doch die Ähnlichkeit hat sie überzeugt. Aber ist es wirklich die richtige Stimme gewesen? Oder redete da ein anderer, ein Feind, und der treibt sie jetzt in den Wald hinein? Denn erst jetzt wird ihr schlagartig klar: Der Kontaktmann sollte sie nicht über das Festnetz anrufen. Hatte er keine Verbindung zu ihrem Handy bekommen? Aber sonst klappte es doch immer.
Sie hat keine Wahl, nur den Auftrag, sie geht weiter. Sie muss die Verträge aus dem Versteck holen und dann Gian treffen, der auf sie wartet und sie weiter befördern wird. Sie wünscht, sie hätte ihn an den Ort hinbestellt, doch das wäre falsch gewesen. Dort, wo die Papiere sind, darf nichts Auffälliges passieren. Die dritte Kuh, dieses Stichwort fällt ihr ein. Sie fühlt sich besser und lächelt ein wenig. Wer errät da den dritten Baum?

Er fährt nicht nach links zum Behindertenheim, sondern geradeaus hoch, konzentriert, damit er nicht die Brücke vor dem Steinbruch verpasst. Er sieht sie rechtzeitig, die Holzkonstruktion rattert unter ihm, dann rollt er die Naturstraße entlang auf Scharans zu. Wahrscheinlich wird er gesehen, die Scheinwerfer seines Autos beleuchten kurz das erste Haus. Dort angekommen biegt er rechts ab, gegen den Wald hinauf. Er ist in Eile, aber er gibt eisern kein Gas. Er erreicht den Parkplatz. Er kalkuliert. Er ist spät. Also rollt er weiter, niedertourig, bis zum Wendeplatz. Trotz des leichten Nieselregens schaltet er das Licht aus. Die Scheibenwischer lässt er laufen. Hin und wieder rauschen Pflanzen an der rechten Autoseite. Der Kehrplatz! Er stoppt, zieht rasch den Zündschlüssel ab, holt das Gewehr aus dem Koffer und packt das Nachtsichtgerät aus, rennt um die Biegung und steigt links vom Weg hinab ins Gebüsch hinein.
Rechtzeitig. Es dauert nur einige Minuten, bis die Gestalt erscheint. Er konsultiert das Infrarotbild, das die Züge viel deutlicher zeigt, die warmen Lippen und die Partie um die Augen hell, die kühlere Nase ein dunkler Strich. Er versteht sich auf das Lesen solcher Bilder, es ist sie. Mit fließenden Bewegungen legt er den Apparat auf den Boden, hebt die Waffe und drückt ab.
„Ein Problem weniger in der Welt“, das ist alles, was er denkt. „Aber nur, wenn sie fündig werden“, ermahnt er sich innerlich.

Sie sprechen kein Wort. Der Schütze fischt den gestohlenen Schlüssel aus seiner Tasche, öffnet vorsichtig die Tür. Sie quietscht nur leise, die beiden huschen hinein. Sein Begleiter deckt mit der Hand seine Taschenlampe ab und knipst sie an. Das Licht reicht gerade, um Hindernisse zu sehen und drei Türen. Er deutet auf die hinten links, sie gehen zusammen, im Gleichschritt, und halten synchron an, als der alte Boden knarrt. Sehr vorsichtig tasten sie sich weiter bis zum Fuß der Treppe, die da hochführt, und schauen hinauf. Es bleibt ganz still im Haus. Also schleichen sie vorwärts, der Mörder drückt probehalber die Falle hinunter. Nicht geschlossen! Er nimmt das für ein schlechtes Zeichen. Sie treten ein.
Einiges an Licht sickert durch die beiden Fenster des Eckzimmers. Sie ziehen die Vorhänge, hoffend, niemand beobachte sie dabei. Dann beginnen sie mit der Suche, eine Art gespenstiger Tanz, denn sie belauern sich zugleich, damit ja der andere die Dokumente nicht ungesehen an sich nimmt. Die Lichtstäbe ihrer Lampen reißen immer wieder Details aus dem Dunklen. Aber nie das Gesuchte. Nach einer halben Stunde geben sie auf. Was sie wollen, das ist nicht da.
Im Flur leuchtet der eine nochmals umher, der andere schüttelt den Kopf. Den Rest des Hauses zu durchsuchen würde erfordern, sich dieser Lendi zu bemächtigen und sie am Schluss gar töten zu müssen. Nutzlos und gefährlich. So unbeachtet, wie sie kamen, verschwinden sie wieder, jeder mit seinem Wagen. Auf der Rheinbrücke bei der Station Rodels-Realta hält der eine kurz an und wirft die Tatwaffe in den Fluss. So, dass sie unter der Brücke liegen bleibt.
In Chur parken sie an verschiedenen Orten und in einiger Distanz zum Objekt; sie treffen sich unweit davon. Der Mörder versucht mit den geraubten Schlüsseln die Haustür zu öffnen, zum Glück geht schon der zweite, und sie fallen trotz des ärgerlichen automatischen Lichts nicht auf. Sie huschen hinein und eilen hinauf zur Wohnung, sie lässt sich wie die Eingangstür problemlos öffnen. Doch sie haben so wenig Erfolg wie zuvor, darum dringen sie in das Büro ein, hier mit dem vierten Schlüssel, in dem sie einige Unterlagen von mäßigem Interesse finden. „Willst du sie fotografieren“, fragt der Massige.
„Ich finde, wir sollten sie teilen“, meint der Komplize.
„Geht nicht, ich muss die wichtigeren Unterlagen mitnehmen und drüben abliefern.“
„Und ich brauche das Zeug hier, als Grundlage für weitere Ermittlungen.“
„Darum kannst du sie fotografieren.“
„Schlechte Qualität.“
„Ich nehme, was ich wirklich brauche und lasse dir den Rest. Von meinem fotografierst du, was du willst.“
Sie sortieren aus, der Schlanke knipst, was er will und nimmt, was übrig bleibt. Dann verlassen sie Büro und Wohnung, immer hinter sich abschließend, eilen das Treppenhaus hinunter und verschwinden. Der Komplize verlangt die Schlüssel: „Vielleicht gehe ich nochmals hinein, je nachdem, was ich in diesen Papieren für Hinweise finde.“
Der Angesprochene zuckt mit den Achseln, er gedachte, sie in den Koffer zu packen, obwohl er sie kaum nochmals brauchen wird.


2

Heinz Bärlocher joggt. Seit der Kündigung und dem anschließenden Umzug tut er das, immer früh am Morgen, nach einer Schale Müsli. Das hilft ihm, so glaubt er zumindest. Und es gibt ihm den Energieschub, den er braucht. Der Rest des Tages ist ausgefüllt, da sind die Bewerbungen, die er schreiben muss, Texte, die er verfasst und an alle nur denkbaren Adressaten verschickt. Oft vergebens, aber manchmal gibt es etwas Geld und, wichtiger noch, Genugtuung. Dann die Besuche beim RAV, die Dame dort ist wenigstens nett, nur machen Gerüchte die Runde, das gefalle denen weiter oben nicht und sie würde bald durch eine giftige Fachkraft ersetzt.
Er pflegt beim aktuellen politischen Klima keine Illusionen, für Arbeitslose ist sie ein Glücksfall. Er kann nur hoffen, dass sie bleibt. Auch wenn sie optisch nicht seinem Geschmack entspricht. Er zieht es schlanker vor, die typische Figur der Bündner Frauen. Und die hat diese Meier nicht.
Das Wetter ist nicht übel diesen Montag, der Himmel leicht überzogen, es hat ein wenig geregnet in der Nacht, feuchte Stellen verraten das, aber zu Pfützen reicht es nicht. Die Erde duftet. Er zieht locker am Schuppen linker Hand vorbei, wirft einen letzten Blick auf die Aussicht, sie ist eindrücklich hier oben, es gibt Tage, an denen er da stehen bleibt und über das Tal schaut. Die Schönheit der Landschaft tröstet ihn ein wenig in seiner misslichen Situation. Dann taucht er in den Wald ein, trabt am Trockenbach mit dem Holzfang vorbei und erreicht den Waldgarten, so nennt er ihn in Gedanken. Am Boden sind frische Radspuren.
Frische Radspuren? Er hält an, bückt sich. Ja! Und zwar doppelt, wie er an einer günstigen Stelle sieht. Jemand ist bis zum Kehrplatz gefahren und wieder zurück. Merkwürdig, steckt da eine Geschichte dahinter? Vielleicht sogar Journalistenfutter. Man soll ja die Hoffnung nie aufgeben. Er hält sich nun genau in der Mitte des Weges und läuft schneller.
Er stoppt. Vor ihm, am Ende der langen Geraden, da liegt ein Bündel auf dem Boden, wie ein Haufen Kleider. Woher aber soll der auf dem Höhenweg von Scharans nach Almens kommen? Er rennt los.
Sein Atem reicht nach dem Joggen nicht mehr für einen Spurt. Er kommt ins Keuchen und fällt wieder in den Trab zurück, die letzten Meter, er raucht halt zu viel. Er erkennt nun einen qualitativ hochwertigen Trainingsanzug und einen Körper darin. Nichts bewegt sich. Vom Gesicht ist nur wenig zu sehen, blutleere Haut, schon eingefallen. Natürlich weiß er, wie er sich zu verhalten hat. Ebenso natürlich, als Profi hat er eine seiner Digitalkameras mit sich. Mit Handys zu fotografieren, das hasst er. Er weiß, die Chance auf etwas zu stoßen, ist klein, aber diesmal kann er einen Volltreffer landen. Ziemlich sicher zumindest, denn die Frau ist tot.
Er knipst. Dann geht er vorsichtig näher und schießt weitere Bilder. Die Tote, die Umgebung, die blutbesudelte Hand auf der Brust, alles. Dabei gibt er sich Mühe, keine Spuren zu verwischen. Er tippt auf Mord. Er sieht die Schlagzeile vor sich. Riesengroß. Der „Blick“, das Boulevardblatt, das ist wahrscheinlich das Beste. Dann schaltet es in ihm und er erkennt sie plötzlich, sie muss es sein, die aus Almens, wie heißt sie schon wieder? Ambach, ja, so lautet ihr Name.

117 Polizei. Knacken, Dame vom Büro, Weiterleitung, Summton, eine Männer- und wenigstens keine Computerstimme von der Art:
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