Blitzschlag – Spuren der Zukunft
Hans-Dieter Betz
EUR 21,90
EUR 13,99
Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 422
ISBN: 978-3-903271-95-1
Erscheinungsdatum: 28.10.2020
1 Einschläge
Unter Beschuss
Tiefschwarze Nacht hatte sich über die weite Ebene gesenkt, der einsamsten Landschaft Kiralistans. Die hochgelegene Steppe war im Norden von wilden Bergmassiven begrenzt, im Osten und Westen von Höhenzügen umgeben, die sanft nach Süden ausliefen. Sengende Hitze und Dürre waren nicht ungewöhnlich, doch sie nahmen Jahr für Jahr zu und vernichteten immer mehr der ohnehin minimalen Landwirtschaft. Das sollte sich jetzt ändern, ein neues Projekt versprach Hoffnung.
Mit anbrechender Dunkelheit war es endlich angenehm kühl geworden. Wolkenbänder verdeckten die Sterne und den Neumond. In der gerade fertig gestellten Wohnanlage des modernen Agrarzentrums Kira-1 waren alle Lichter erloschen. Nur die heranfliegenden Drohnen konnten die Konturen der Gebäude mit empfindlichen Laserreflektoren ausmachen. Das Bauteam genoss im fertiggestellten Personalgebäude seinen verdienten Schlaf, ermüdet von einem langen Tag anstrengender Arbeiten unter glühender Sonne.
Plötzlich schrillte das Funkgerät am Nachtlager des Bauleiters, der den Anruf sofort annahm: „Höchste Alarmstufe! Dimitri, bringt euch alle sofort in Sicherheit“, brüllte Major Radani mit sich überschlagender Stimme aus der nächstgelegenen Garnison, „ein schwer bewaffneter Trupp und Kampfdrohnen rasen auf euer Gelände zu. Nehmt volle Deckung im Bunker, so schnell ihr könnt!“
Bevor Dimitri antworten oder nachfragen konnte, brach die Verbindung ab. Dimitri dachte sofort an den Überfall vor wenigen Monaten: Eine Miliz war mit geländegängigen Lastwagen in die Anlage eingedrungen, hatte den Bauleiter erschossen und die gesamte Hightech-Ausrüstung gestohlen. Stand die Wiederholung eines solchen Angriffs unmittelbar bevor? Diesmal auch mit Drohnen?
Schlaftrunken drückte er instinktiv den roten Knopf an der Wand neben seinem Bett, um die Notfall-Sirenen auszulösen. Augenblicklich erschallte auf dem ganzen Gelände ein durchdringendes Geheul; das musste jeden aufwecken. Er griff nach Funktionsgürtel und Lasergewehr, hastete zum Hinterausgang und steuerte in großen Sprüngen auf eine unterirdische Bunkeranlage zu. Diese schützte auch die Wasser- und Stromversorgung einschließlich der solar aufgeladenen Flüssig-Batterien. Die Sirenen verstummten. Plötzlich störte ein schwaches Brummen die Stille der Nacht. Dimitri dreht sich um und erkannte fahles Licht von Scheinwerfern einer Lastwagenkolonne. Die Motorengeräusche wurden langsam lauter. Bald würden die Angreifer hier sein. In diesem Moment detonierten Bomben. Das mussten militärische Kleindrohnen sein, die unmittelbar vor dem Hauptangriff als ferngesteuertes Vorauskommando eingesetzt wurden.
Dimitri erreichte die Eingangstreppe, die in den Bunker hinunterführte. Noch einmal blickte er kurz zurück und versuchte, die Gefahr einzuschätzen. Die Kampfdrohnen verrichteten hörbar ihr zerstörerisches Werk. Inzwischen ließ sich das Zischen der ersten Schüsse aus aufblitzenden Lasergewehren vernehmen, eine Explosion drohte sein Trommelfell zu zerreißen, weitere Detonationen folgten, Gebäude stürzten krachend in sich zusammen. Die große Lagerhalle fing Feuer, dessen Schein gespenstisch aufleuchtete. Bewaffnete Angreifer, aber auch seine in Todesangst flüchtenden Mitarbeiter in der durch Trümmer verstaubten Luft ließen sich schemenhaft erahnen.
Widerstand schien aussichtslos. Es war zu spät, irgendeine Verteidigung zu organisieren. Ohne nachzudenken stieg Dimitri in den gut getarnten Schutzraum; er hielt die schwere Eisentüre noch einen Spalt offen und hoffte, dass sich seine Leute hierher flüchten würden. Sie kannten alle den Sicherheitsbunker, aber seltsamerweise kam niemand. Also verriegelte er die schwere Tür und lauschte. Die Zerstörung der Anlagen schien ihren Lauf zu nehmen. Nach schier endlos empfundener Zeit verebbten Schüsse und Detonationen, nur das Knistern der Feuer war zu vernehmen. Motorenlärm ertönte, der bald leiser wurde; die Angreifer schienen sich zu entfernen. Vorsichtig öffnete Dimitri die Tür und schaute die Stufen hinauf, überall rot-schwarz gefärbte Feuerschwaden und unerträglicher Gestank. Langsam stieg er hoch, niemand war zu sehen oder zu hören. Nun wurde ihm das ganze Desaster bewußt: Soweit er blicken konnte, waren die Gebäude zerstört, das Werk eines Jahres vernichtet. Nur die etwas entfernt installierten Solarpaneele schienen noch intakt zu sein. Er rief laut in die Nacht hinaus, aber keine Antwort kam zurück. Feuer und Hitze verboten es, sich den Gebäuden zu nähern, um nach Überlebenden zu suchen. Allem Anschein nach war er der Einzige, der es geschafft hatte.
Sollte er in den Bunker zurück? Nein, dort alleine eingeschlossen zu sein war ihm zuwider. Geschockt und erschöpft, ohne viel nachzudenken, suchte er in einiger Entfernung einen geschützten Platz hinter einem Gebüsch, wo die Luft einigermaßen erträglich und die Sicht nach oben durch dicke Blätter verdeckt war. Er wickelte sich in seine Infrarot abweisende Wärmedecke. So würden ihn Drohnen nicht so leicht entdecken – falls sie wiederkämen. Dies erschien ihm unwahrscheinlich, weil die Angreifer wissen mussten, dass Radani mit seiner Truppe bald eintreffen würde. Er kauerte sich erschöpft auf den Boden und nahm einen Schluck Wasser aus seiner Feldflasche. Dann schlief er ein.
Erst als die frühe Sonne hinter der nahen Bergkette emporstieg und ihre Strahlen die Nacht verdrängten, weckte ihn Motorenlärm. Major Radani kam mit großen, schwer gepanzerten Armeefahrzeugen und Sanitätseinheiten, um die Lage zu sondieren und Verletzte zu versorgen. Doch es gab keine Überlebenden. Die Feuer waren nahezu erloschen, aber die Luft war voll von Rauch. Dimitri schwenkte die Arme, um auf sich aufmerksam zu machen, so dass ein Rettungsfahrzeug vor ihm anhielt. Ein Sanitäter hüllte ihn in eine Wolldecke, führte ihn zu einer Steinbank in sicherer Entfernung von den qualmenden Ruinen und gab ihm heißen Tee zu trinken. Vor Kälte zitternd erzählte er, was er gesehen hatte.
Radani hörte sich den kurzen Bericht an und versuchte Dimitri zu beruhigen: „Es ist vorbei, die kommen nicht so schnell wieder. Ich kann mir denken, wer das war. Eine Söldnertruppe, die den Rebellen nahesteht und für erkleckliche Summen fast alles macht, was verlangt wird. Wir werden sie suchen und erwischen, das ist sicher.“ Einschränkend ergänzte er: „Wenn sie nicht zu schnell über die Grenze flüchten.“
„Verdammt, mir wäre die Gewissheit lieber, dass sie nie wiederkommen“, klagte Dimitri, „du erinnerst dich, das war schon die zweite Attacke auf Kira-1 innerhalb weniger Monate. Beim ersten Mal haben sie ‚nur‘ die Ausrüstung für Big Data Betrieb gestohlen, auch die neueste Generation unserer agrar-meteorologischen Drohnen. Was wollten sie denn diesmal erreichen, was gibt es für Gründe, harmlosen Pflanzenanbau zu bekämpfen? Wir müssen die Auftraggeber und ihre Motive für diese Angriffe finden.“
„Du hast recht, es ist nur zu verstehen, wenn wir als Urheber gut vernetzte Hintermänner annehmen“, antwortete Radani mit sorgenvoller Miene. „Höchstwahrscheinlich sind ausländische Interessengruppen verantwortlich, denen ihr mit eurer neuen Kornproduktion irgendwie in die Quere kommt. Ich kenne keine einzige Organisation in unserem Land, die ein Motiv hätte, die eigenen Ernährungsgrundlagen zu zerstören. Euer Getreideanbau wird ja auch den Einheimischen zum Vorteil gereichen, denn die Ernten werden nicht nur exportiert, ein Teil bleibt im Land und stabilisiert die Ernährung, jeder weiß das und hält es für fair. Auch wir fürchten die Welt-Ernährungskrise, und sind stolz darauf, einen Beitrag zur Bewältigung der existenziellen Nöte beizusteuern. Kurzum, wer all das so niederträchtig ignoriert, muss als sehr ernstzunehmender Gegner betrachtet werden.“
„Ich werde schleunigst die Zentrale der GenTra informieren und einen Bericht senden, sobald ich den entstandenen Schaden abgeschätzt habe. Ich möchte nicht in der Haut meines Chefs stecken. Er wird keine Wahl haben, schneller Wiederaufbau ist unumgänglich.“
„Allerdings erstaunt mich, dass der Angriff nicht mit vollautonomen Kampfdrohnen ohne aktive Truppen geführt wurde. Unser Glück im Unglück. Ich nehme an, sie hatten nur ältere Kleindrohnen mit kurzer Reichweite und mussten daher selbst ‚vorbeischauen‘. Doch zuerst geht es uns um die Toten, die Angehörigen und polizeiliche Aufarbeitung. Meine Leute stellten gerade fest, dass niemand außer dir den Angriff überlebt hat. Schockierend, zwei Dutzend unschuldige Menschen sinnlos zu töten. Solche Verbrechen sind für die Region und unser Land kein Aushängeschild. Wir werden nach besten Kräften versuchen, diesen Sumpf auszutrocknen.“
„Nötig wär’s. Hast du eine Idee, wie?“
„Am wichtigsten wäre die Kooperation mit lokalen Stämmen. Vielleicht können wir einen der am Angriff beteiligten Burschen aufgreifen und zum Reden bringen. Auf jeden Fall werde ich den Polizeipräsidenten drängen, die Vorgänge mit Priorität zu untersuchen und die Hilfe des Geheimdienstes anzufordern, der bei Verdacht auf ausländische Straftäter leichter über Grenzen hinweg ermitteln kann. Übrigens, all eure Fahrzeuge und Fluggeräte hier sind Schrott – was machst du denn jetzt? Kann ich dich irgendwo hinbringen?“
„Am südlichen Ende unseres Feldes, etwa zehn Kilometer von hier, haben wir eine Hütte für meteorologische Messungen. Dort habe ich einen Geländewagen geparkt, der genügt mir fürs Erste zum Weiterkommen – falls es ihn noch gibt.“
„Klar, ich lass’ dich sofort hinbringen.“
„Ich werde dann nach Hause fahren, einen ausführlichen Bericht senden und weitere Instruktionen abwarten. Wir müssen uns unbedingt etwas zur Absicherung einfallen lassen. Auf jeden Fall werde ich der Firma Vorschläge für den Wiederaufbau ausarbeiten.“
„Und ich werde schauen, wie wir die Angreifer ausfindig machen können. Da muss eine Art Getreidemafia am Werke sein. Ich bleibe dran.“
Dimitri dankte Radani überschwänglich und sie verabschiedeten sich mit verständnisvollem Schulterklopfen und Nicken. Doch beide teilten das beklemmende Gefühl, dass diesem Gegner nicht so leicht beizukommen sein würde.
Aus heiterem Himmel
Er hatte es fast geschafft.
Klar, noch war nicht alles überstanden, neue Gegner waren aufgetaucht. Doch er besaß einen einzigartigen Schlüssel zur Lösung des Problems.
Er genoss den Weg durch den Park und sortierte seine Gedanken. Um ihn herum herrschte Ruhe, nur Vögel zwitscherten vereinzelt, und eine nahe Paketdrohne surrte leise. Die Dämmerung war hereingebrochen, noch war es angenehm warm. Letzte Sonnenstrahlen tauchten ferne Wölkchen in warmes Licht.
Peter atmete tief die frische Luft ein. Schon konnte er sein Haus sehen. In voller Vorfreude, Constanze von den neuen Entwicklungen zu berichten, warf er das Jackett über die Schulter und beschleunigte seine Schritte. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Sein Gesicht zerriss.
Ein grelles Licht, wie eine tödliche Waffe, blendete ihn, ein Krampf lähmte seine Brust, ein betäubender Donnerschlag zerschmetterte sein Bewusstsein. Seine Hand klammerte sich um den Griff der Aktentasche. Das Sicherheitsarmband wurde glühend heiß, ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Körper. Die Augen fielen zu, das Herz flatterte, der Körper vibrierte. Es ging zu schnell, um noch einen klaren Gedanken zu fassen oder gar zu schreien. Er taumelte, verlor die Besinnung und fiel zuckend zu Boden.
Constanze wusste genau, wann ihr Mann eintreffen würde. Als sie das grelle Licht sah und den Donnerschlag hörte, dachte sie, ein Blitz hätte ins Haus eingeschlagen. Aber nichts Ungewöhnliches geschah im Haus, kein Stromausfall, kein Brandgeruch. Sie öffnete die Haustüre, schaute hinaus. Alles war ruhig, kein Wind, kein Regen, kein Donnergrollen, nichts. Peter musste jeden Moment eintreffen. Sie blickte in Richtung Haltestelle. Plötzlich glaubte sie etwa 100 Meter entfernt auf dem Weg zur Straße, halb verdeckt durch dunkles Grün, eine Gestalt am Boden liegen zu sehen. Eine schreckliche Ahnung erfasste sie, sie rannte hinaus, den Weg entlang, so schnell sie konnte, jedwede Gefahr durch weitere Blitze war ihr vollkommen egal, ihr Herz raste wie wild. Sie erreichte die Stelle, sah einen Mann gekrümmt am Boden liegen, bewegungslos, warf sich verzweifelt über ihn, und schrie: „Peter, Peter … “
Ein klarer Fall
Die Stadt mit zwei Millionen Einwohnern profitierte enorm von der neu entwickelten Tec-Demokratie, bei deren Einführung das Ministerium Technik und Vorsorge als ideale zusätzliche Säule eingerichtet wurde. Damit gewannen die Menschen mehr Freiheit, Ruhe, Planungssicherheit und Vertrauen in die Zukunft. Der Erfolg verdankte sich entscheidend der Jugend. Sie wollte so einiges nicht länger hinnehmen: weltweit grassierende staatliche Konzeptionsmängel, übermächtige KI, fatale Einzelentscheidungen mächtiger Politiker und trickreiche Manipulationen und Gier in der Wirtschaft, alles zu Lasten von Freiheit, Lebensqualität und Umwelt. Die hochmoderne Wirtschaft funktionierte zunehmend nachhaltig, ohne Materialverschwendung und Naturzerstörung, trotz beachtlichen Aufwands für Instandhaltung und zeitnahe Modernisierung. Da es inzwischen auch gelang, die Bevölkerungszahl der Stadt und des Landes stabil zu halten, bedurfte es keiner zusätzlichen Bodenflächen für Baumaßnahmen.
Alle wichtigen öffentlichen Einrichtungen und die für Menschen unabdingbaren Basissysteme wurden der Obhut einer ständigen Kommission in dem neu gegründeten Ministerium unterstellt. Demokratisch gewählt und mit unabhängigen Fachleuten besetzt. Die Vorgaben der Kommission an die Politik wurden eingehalten, obgleich die international nötige Harmonisierung der Standards ein schwieriges Dauerthema blieb. Das neue Ministerium gewährleistete bei gesichertem Budget, dass alle öffentlichen technischen Installationen im Land permanent instand gehalten wurden, und zwar unabhängig vom Wechsel führender politischer Gruppen und der jeweiligen Finanz-Haushalte. Das betraf das gesamte Straßennetz, Bahnstrecken und notwendige Nebeneinrichtungen. Seitdem gab es weder Reparaturstau noch überalterte, fehleranfällige Einrichtungen. Die Industrie boomte, weil für die zahlreichen Aufgaben Unmengen an Aufträgen vergeben wurden, oft mit technisch anspruchsvollem Innovations- und Modernisierungsbedarf, aber auch bewusst mit Arbeiten für weniger ausgebildete Menschen. Natürlich beschäftigte der Schutz gegen Cyber-Attacken eine Heerschar an Experten. Diese Arbeitsgruppe stand auf Basis klarer Regeln mit der Polizei und, aufgrund ständig gefährlicher werdender internationaler Datenspionage, mit dem Geheimdienst in engem Austausch.
Mittlerweile lebten die Menschen nach einer schwierigen Übergangszeit in einer Art Mobilitäts-Paradies. Komfortable U-Bahnen und Busse versorgten störungsfrei und in kurzem Takt die ganze Stadt mit Außenbezirken. Überregionale Hochgeschwindigkeitszüge bedienten Flughäfen und Fernverkehr. Vor allem standen autonome, emissionsfreie Fahrzeuge in reichlicher Menge öffentlich zur Verfügung, überwiegend mit Wasserstoff-Technologie betrieben, und konnten per Anforderung in Minutenschnelle zu jedem angegebenen Standort zur sofortigen Benutzung bestellt werden. Kinder, Kranke, Behinderte, alte Leute, Besucher, Firmen – jeder konnte diesen Service in Anspruch nehmen, sofern bei der Verkehrszentrale eine Registrierung vorlag. Lufttaxis gehörten trotz ungünstiger Ökobilanz, Wetterabhängigkeit und Wartungsaufwand im Außenbereich zum Bestand, nicht aber für Massentransport, schon gar nicht im städtischen Innenbereich, wo es reichlich Alternativen gab. Connected Mobility in Perfektion.
Den Durchbruch hatten vor allem zwei standardisierte Kommunikationskanäle ermöglicht. Zum einen zwischen Fahrzeug und Zentrale: Die Wagen senden nur Position und Ziel an die Zentrale, und diese gibt übergeordnete zwingende Fahranweisungen zurück, wie Route, Fahrbahn und Geschwindigkeit. Diese kleinen Informationspakete sind mühelos in einfachsten Netzen zu übertragen. Zum anderen verbinden sich alle Fahrzeuge innerhalb eines kleinen Umkreises miteinander über Kurzstreckenfunk, schon lange unter dem Stichwort „talking cars“ bekannt, ideal für sichere lokale Feinabstimmung, vorneweg Abstands-, Vorfahrts- und Notfall-Management. Dies erfordert zwar die Bearbeitung sehr großer Datenmengen, besonders für Bildanalysen. Dennoch problemlos, weil Sensoren und Algorithmen autonomer Fahrzeuge schon seit vielen Jahrzehnten immer weiter optimiert worden waren und in jedem Fahrzeug leistungsstarke Kompakt-Quantenrechner zur Verfügung standen, nur im kleinen Kern tiefgekühlt, ohne externe Rechenpower der Hyperscaler zu benötigen. Alle wesentlichen Fragen waren gelöst worden: Datensicherheit, Mindestanforderungen an die Module, Leitzentralen, rechtlicher Rahmen, internationaler Standard der Genfer UN-ECE Gremien für autonomes Fahren und mehr …
Als überaus erfolgreich erwies sich die Leitzentrale für autonomen Verkehr. Sie war unabdingbar, weil ein Wagen nur dann in minimaler Zeit quer durch die Stadt oder über längere Strecken fahren konnte, wenn die steuernde Zentrale die komplette Lage in ihrem gesamten Überwachungsbereich kannte und allen Fahrzeugen gleichzeitig optimale Vorgaben machte. Natürlich verblieben Zonen, in welchen eine Steuerung durch menschliche Fahrer sinnvoll und zulässig war; dies betraf Lieferverkehr an Be- und Entladestationen, Baustellenbetrieb, Service Fahrzeuge aller Art, private Areale und verkehrsarme Gebiete.
***
Weniger als vier Minuten nach Peters seltsamem Unfall traf der medizinische Notdienst unter Sirenengeheul und blinkenden Rotlichtern mit einem großen Funktionswagen ein, der voller modernster medizinischer Technik steckte und nicht weit entfernt unterwegs gewesen sein musste. Die Rettungszentrale hatte ein schwerwiegendes Ereignis angenommen und dem Einsatzteam als wahrscheinlichste Ursache eine Explosion am Zielort angegeben, möglicherweise mit Feuer. Wenige Sekunden später erschienen auf dem Infoschirm die medizinisch relevanten Daten eines Herrn Freudberg, der die Unfallmeldung ausgelöst hatte und höchstwahrscheinlich betroffen war. Gleichzeitig wurde eine Erkundungsdrohne entsandt, um das sichtbare Ausmaß des Vorfalls zu prüfen und aufzuzeichnen. Als das Rettungsfahrzeug den Zielort erreicht hatte, einen Fußweg, der in einer Parkanlage zu Wohnhäusern führte, war weit und breit nichts von Unfall, Explosion oder Feuer zu sehen.
„Da hat man uns eine völlig falsche Position gegeben“, wunderte sich der Ältere der beiden Sanitäter. In diesem Moment sahen sie die Drohne heranfliegen. Diese bestätigte die Beobachtung der Sanitäter, meldete jedoch die Anwesenheit von zwei Personen am hypothetischen Unfallort, eine sitzend, die andere liegend.
„Ja, dort“, rief der jüngere Sanitäter plötzlich erregt, „schau, da liegt einer, und jemand sitzt auf dem Boden, los geht’s.“ Die beiden sprangen aus dem Fahrzeug.
Constanze saß weinend neben ihrem wie leblos daliegenden Mann und hoffte, dass es sich nur um eine Ohnmacht handeln würde. Die beiden Sanitäter leiteten sofort Wiederbelebungsversuche ein, aber sie zeigten nicht den geringsten Erfolg. Kein Puls, keine Atmung – kein sichtbares Lebenszeichen.
„Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen und weiter reanimieren“, wandte sich der leitende Sanitäter an Constanze, die aber nicht reagierte, sie hatte offenbar einen Schock erlitten. „Gleich kommt noch ein Rettungswagen, man wird sich schnellstens auch um Sie kümmern“, rief er ihr zu. Ohne Zeit zu verlieren, legten sie Peter vorsichtig auf eine Trage, rollten diese zum Fahrzeug und schoben ihn hinein.
In diesem Moment traf ein Streifenwagen der Polizei ein. Die beiden Beamten hatten von der Zentrale für den Grund des Einsatzes die gleichen Stichworte erhalten sowie den Namen des möglicherweise Betroffenen.
Sie rannten zu den Sanitätern: „Was ist passiert?“ Aber die beiden riefen nur: „Wir müssen los“ und brausten davon. Einer der Polizisten ging auf die am Boden sitzende Frau zu und sprach sie an. Sie musste ja wissen, was sich ereignet hatte. Aber sie weinte bitterlich und reagierte nicht.
„Offensichtlich unter Schockwirkung“, meinte er, „wir beobachten sie und warten, bis die zweite Ambulanz eintreffen wird.“
Unter Beschuss
Tiefschwarze Nacht hatte sich über die weite Ebene gesenkt, der einsamsten Landschaft Kiralistans. Die hochgelegene Steppe war im Norden von wilden Bergmassiven begrenzt, im Osten und Westen von Höhenzügen umgeben, die sanft nach Süden ausliefen. Sengende Hitze und Dürre waren nicht ungewöhnlich, doch sie nahmen Jahr für Jahr zu und vernichteten immer mehr der ohnehin minimalen Landwirtschaft. Das sollte sich jetzt ändern, ein neues Projekt versprach Hoffnung.
Mit anbrechender Dunkelheit war es endlich angenehm kühl geworden. Wolkenbänder verdeckten die Sterne und den Neumond. In der gerade fertig gestellten Wohnanlage des modernen Agrarzentrums Kira-1 waren alle Lichter erloschen. Nur die heranfliegenden Drohnen konnten die Konturen der Gebäude mit empfindlichen Laserreflektoren ausmachen. Das Bauteam genoss im fertiggestellten Personalgebäude seinen verdienten Schlaf, ermüdet von einem langen Tag anstrengender Arbeiten unter glühender Sonne.
Plötzlich schrillte das Funkgerät am Nachtlager des Bauleiters, der den Anruf sofort annahm: „Höchste Alarmstufe! Dimitri, bringt euch alle sofort in Sicherheit“, brüllte Major Radani mit sich überschlagender Stimme aus der nächstgelegenen Garnison, „ein schwer bewaffneter Trupp und Kampfdrohnen rasen auf euer Gelände zu. Nehmt volle Deckung im Bunker, so schnell ihr könnt!“
Bevor Dimitri antworten oder nachfragen konnte, brach die Verbindung ab. Dimitri dachte sofort an den Überfall vor wenigen Monaten: Eine Miliz war mit geländegängigen Lastwagen in die Anlage eingedrungen, hatte den Bauleiter erschossen und die gesamte Hightech-Ausrüstung gestohlen. Stand die Wiederholung eines solchen Angriffs unmittelbar bevor? Diesmal auch mit Drohnen?
Schlaftrunken drückte er instinktiv den roten Knopf an der Wand neben seinem Bett, um die Notfall-Sirenen auszulösen. Augenblicklich erschallte auf dem ganzen Gelände ein durchdringendes Geheul; das musste jeden aufwecken. Er griff nach Funktionsgürtel und Lasergewehr, hastete zum Hinterausgang und steuerte in großen Sprüngen auf eine unterirdische Bunkeranlage zu. Diese schützte auch die Wasser- und Stromversorgung einschließlich der solar aufgeladenen Flüssig-Batterien. Die Sirenen verstummten. Plötzlich störte ein schwaches Brummen die Stille der Nacht. Dimitri dreht sich um und erkannte fahles Licht von Scheinwerfern einer Lastwagenkolonne. Die Motorengeräusche wurden langsam lauter. Bald würden die Angreifer hier sein. In diesem Moment detonierten Bomben. Das mussten militärische Kleindrohnen sein, die unmittelbar vor dem Hauptangriff als ferngesteuertes Vorauskommando eingesetzt wurden.
Dimitri erreichte die Eingangstreppe, die in den Bunker hinunterführte. Noch einmal blickte er kurz zurück und versuchte, die Gefahr einzuschätzen. Die Kampfdrohnen verrichteten hörbar ihr zerstörerisches Werk. Inzwischen ließ sich das Zischen der ersten Schüsse aus aufblitzenden Lasergewehren vernehmen, eine Explosion drohte sein Trommelfell zu zerreißen, weitere Detonationen folgten, Gebäude stürzten krachend in sich zusammen. Die große Lagerhalle fing Feuer, dessen Schein gespenstisch aufleuchtete. Bewaffnete Angreifer, aber auch seine in Todesangst flüchtenden Mitarbeiter in der durch Trümmer verstaubten Luft ließen sich schemenhaft erahnen.
Widerstand schien aussichtslos. Es war zu spät, irgendeine Verteidigung zu organisieren. Ohne nachzudenken stieg Dimitri in den gut getarnten Schutzraum; er hielt die schwere Eisentüre noch einen Spalt offen und hoffte, dass sich seine Leute hierher flüchten würden. Sie kannten alle den Sicherheitsbunker, aber seltsamerweise kam niemand. Also verriegelte er die schwere Tür und lauschte. Die Zerstörung der Anlagen schien ihren Lauf zu nehmen. Nach schier endlos empfundener Zeit verebbten Schüsse und Detonationen, nur das Knistern der Feuer war zu vernehmen. Motorenlärm ertönte, der bald leiser wurde; die Angreifer schienen sich zu entfernen. Vorsichtig öffnete Dimitri die Tür und schaute die Stufen hinauf, überall rot-schwarz gefärbte Feuerschwaden und unerträglicher Gestank. Langsam stieg er hoch, niemand war zu sehen oder zu hören. Nun wurde ihm das ganze Desaster bewußt: Soweit er blicken konnte, waren die Gebäude zerstört, das Werk eines Jahres vernichtet. Nur die etwas entfernt installierten Solarpaneele schienen noch intakt zu sein. Er rief laut in die Nacht hinaus, aber keine Antwort kam zurück. Feuer und Hitze verboten es, sich den Gebäuden zu nähern, um nach Überlebenden zu suchen. Allem Anschein nach war er der Einzige, der es geschafft hatte.
Sollte er in den Bunker zurück? Nein, dort alleine eingeschlossen zu sein war ihm zuwider. Geschockt und erschöpft, ohne viel nachzudenken, suchte er in einiger Entfernung einen geschützten Platz hinter einem Gebüsch, wo die Luft einigermaßen erträglich und die Sicht nach oben durch dicke Blätter verdeckt war. Er wickelte sich in seine Infrarot abweisende Wärmedecke. So würden ihn Drohnen nicht so leicht entdecken – falls sie wiederkämen. Dies erschien ihm unwahrscheinlich, weil die Angreifer wissen mussten, dass Radani mit seiner Truppe bald eintreffen würde. Er kauerte sich erschöpft auf den Boden und nahm einen Schluck Wasser aus seiner Feldflasche. Dann schlief er ein.
Erst als die frühe Sonne hinter der nahen Bergkette emporstieg und ihre Strahlen die Nacht verdrängten, weckte ihn Motorenlärm. Major Radani kam mit großen, schwer gepanzerten Armeefahrzeugen und Sanitätseinheiten, um die Lage zu sondieren und Verletzte zu versorgen. Doch es gab keine Überlebenden. Die Feuer waren nahezu erloschen, aber die Luft war voll von Rauch. Dimitri schwenkte die Arme, um auf sich aufmerksam zu machen, so dass ein Rettungsfahrzeug vor ihm anhielt. Ein Sanitäter hüllte ihn in eine Wolldecke, führte ihn zu einer Steinbank in sicherer Entfernung von den qualmenden Ruinen und gab ihm heißen Tee zu trinken. Vor Kälte zitternd erzählte er, was er gesehen hatte.
Radani hörte sich den kurzen Bericht an und versuchte Dimitri zu beruhigen: „Es ist vorbei, die kommen nicht so schnell wieder. Ich kann mir denken, wer das war. Eine Söldnertruppe, die den Rebellen nahesteht und für erkleckliche Summen fast alles macht, was verlangt wird. Wir werden sie suchen und erwischen, das ist sicher.“ Einschränkend ergänzte er: „Wenn sie nicht zu schnell über die Grenze flüchten.“
„Verdammt, mir wäre die Gewissheit lieber, dass sie nie wiederkommen“, klagte Dimitri, „du erinnerst dich, das war schon die zweite Attacke auf Kira-1 innerhalb weniger Monate. Beim ersten Mal haben sie ‚nur‘ die Ausrüstung für Big Data Betrieb gestohlen, auch die neueste Generation unserer agrar-meteorologischen Drohnen. Was wollten sie denn diesmal erreichen, was gibt es für Gründe, harmlosen Pflanzenanbau zu bekämpfen? Wir müssen die Auftraggeber und ihre Motive für diese Angriffe finden.“
„Du hast recht, es ist nur zu verstehen, wenn wir als Urheber gut vernetzte Hintermänner annehmen“, antwortete Radani mit sorgenvoller Miene. „Höchstwahrscheinlich sind ausländische Interessengruppen verantwortlich, denen ihr mit eurer neuen Kornproduktion irgendwie in die Quere kommt. Ich kenne keine einzige Organisation in unserem Land, die ein Motiv hätte, die eigenen Ernährungsgrundlagen zu zerstören. Euer Getreideanbau wird ja auch den Einheimischen zum Vorteil gereichen, denn die Ernten werden nicht nur exportiert, ein Teil bleibt im Land und stabilisiert die Ernährung, jeder weiß das und hält es für fair. Auch wir fürchten die Welt-Ernährungskrise, und sind stolz darauf, einen Beitrag zur Bewältigung der existenziellen Nöte beizusteuern. Kurzum, wer all das so niederträchtig ignoriert, muss als sehr ernstzunehmender Gegner betrachtet werden.“
„Ich werde schleunigst die Zentrale der GenTra informieren und einen Bericht senden, sobald ich den entstandenen Schaden abgeschätzt habe. Ich möchte nicht in der Haut meines Chefs stecken. Er wird keine Wahl haben, schneller Wiederaufbau ist unumgänglich.“
„Allerdings erstaunt mich, dass der Angriff nicht mit vollautonomen Kampfdrohnen ohne aktive Truppen geführt wurde. Unser Glück im Unglück. Ich nehme an, sie hatten nur ältere Kleindrohnen mit kurzer Reichweite und mussten daher selbst ‚vorbeischauen‘. Doch zuerst geht es uns um die Toten, die Angehörigen und polizeiliche Aufarbeitung. Meine Leute stellten gerade fest, dass niemand außer dir den Angriff überlebt hat. Schockierend, zwei Dutzend unschuldige Menschen sinnlos zu töten. Solche Verbrechen sind für die Region und unser Land kein Aushängeschild. Wir werden nach besten Kräften versuchen, diesen Sumpf auszutrocknen.“
„Nötig wär’s. Hast du eine Idee, wie?“
„Am wichtigsten wäre die Kooperation mit lokalen Stämmen. Vielleicht können wir einen der am Angriff beteiligten Burschen aufgreifen und zum Reden bringen. Auf jeden Fall werde ich den Polizeipräsidenten drängen, die Vorgänge mit Priorität zu untersuchen und die Hilfe des Geheimdienstes anzufordern, der bei Verdacht auf ausländische Straftäter leichter über Grenzen hinweg ermitteln kann. Übrigens, all eure Fahrzeuge und Fluggeräte hier sind Schrott – was machst du denn jetzt? Kann ich dich irgendwo hinbringen?“
„Am südlichen Ende unseres Feldes, etwa zehn Kilometer von hier, haben wir eine Hütte für meteorologische Messungen. Dort habe ich einen Geländewagen geparkt, der genügt mir fürs Erste zum Weiterkommen – falls es ihn noch gibt.“
„Klar, ich lass’ dich sofort hinbringen.“
„Ich werde dann nach Hause fahren, einen ausführlichen Bericht senden und weitere Instruktionen abwarten. Wir müssen uns unbedingt etwas zur Absicherung einfallen lassen. Auf jeden Fall werde ich der Firma Vorschläge für den Wiederaufbau ausarbeiten.“
„Und ich werde schauen, wie wir die Angreifer ausfindig machen können. Da muss eine Art Getreidemafia am Werke sein. Ich bleibe dran.“
Dimitri dankte Radani überschwänglich und sie verabschiedeten sich mit verständnisvollem Schulterklopfen und Nicken. Doch beide teilten das beklemmende Gefühl, dass diesem Gegner nicht so leicht beizukommen sein würde.
Aus heiterem Himmel
Er hatte es fast geschafft.
Klar, noch war nicht alles überstanden, neue Gegner waren aufgetaucht. Doch er besaß einen einzigartigen Schlüssel zur Lösung des Problems.
Er genoss den Weg durch den Park und sortierte seine Gedanken. Um ihn herum herrschte Ruhe, nur Vögel zwitscherten vereinzelt, und eine nahe Paketdrohne surrte leise. Die Dämmerung war hereingebrochen, noch war es angenehm warm. Letzte Sonnenstrahlen tauchten ferne Wölkchen in warmes Licht.
Peter atmete tief die frische Luft ein. Schon konnte er sein Haus sehen. In voller Vorfreude, Constanze von den neuen Entwicklungen zu berichten, warf er das Jackett über die Schulter und beschleunigte seine Schritte. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Sein Gesicht zerriss.
Ein grelles Licht, wie eine tödliche Waffe, blendete ihn, ein Krampf lähmte seine Brust, ein betäubender Donnerschlag zerschmetterte sein Bewusstsein. Seine Hand klammerte sich um den Griff der Aktentasche. Das Sicherheitsarmband wurde glühend heiß, ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Körper. Die Augen fielen zu, das Herz flatterte, der Körper vibrierte. Es ging zu schnell, um noch einen klaren Gedanken zu fassen oder gar zu schreien. Er taumelte, verlor die Besinnung und fiel zuckend zu Boden.
Constanze wusste genau, wann ihr Mann eintreffen würde. Als sie das grelle Licht sah und den Donnerschlag hörte, dachte sie, ein Blitz hätte ins Haus eingeschlagen. Aber nichts Ungewöhnliches geschah im Haus, kein Stromausfall, kein Brandgeruch. Sie öffnete die Haustüre, schaute hinaus. Alles war ruhig, kein Wind, kein Regen, kein Donnergrollen, nichts. Peter musste jeden Moment eintreffen. Sie blickte in Richtung Haltestelle. Plötzlich glaubte sie etwa 100 Meter entfernt auf dem Weg zur Straße, halb verdeckt durch dunkles Grün, eine Gestalt am Boden liegen zu sehen. Eine schreckliche Ahnung erfasste sie, sie rannte hinaus, den Weg entlang, so schnell sie konnte, jedwede Gefahr durch weitere Blitze war ihr vollkommen egal, ihr Herz raste wie wild. Sie erreichte die Stelle, sah einen Mann gekrümmt am Boden liegen, bewegungslos, warf sich verzweifelt über ihn, und schrie: „Peter, Peter … “
Ein klarer Fall
Die Stadt mit zwei Millionen Einwohnern profitierte enorm von der neu entwickelten Tec-Demokratie, bei deren Einführung das Ministerium Technik und Vorsorge als ideale zusätzliche Säule eingerichtet wurde. Damit gewannen die Menschen mehr Freiheit, Ruhe, Planungssicherheit und Vertrauen in die Zukunft. Der Erfolg verdankte sich entscheidend der Jugend. Sie wollte so einiges nicht länger hinnehmen: weltweit grassierende staatliche Konzeptionsmängel, übermächtige KI, fatale Einzelentscheidungen mächtiger Politiker und trickreiche Manipulationen und Gier in der Wirtschaft, alles zu Lasten von Freiheit, Lebensqualität und Umwelt. Die hochmoderne Wirtschaft funktionierte zunehmend nachhaltig, ohne Materialverschwendung und Naturzerstörung, trotz beachtlichen Aufwands für Instandhaltung und zeitnahe Modernisierung. Da es inzwischen auch gelang, die Bevölkerungszahl der Stadt und des Landes stabil zu halten, bedurfte es keiner zusätzlichen Bodenflächen für Baumaßnahmen.
Alle wichtigen öffentlichen Einrichtungen und die für Menschen unabdingbaren Basissysteme wurden der Obhut einer ständigen Kommission in dem neu gegründeten Ministerium unterstellt. Demokratisch gewählt und mit unabhängigen Fachleuten besetzt. Die Vorgaben der Kommission an die Politik wurden eingehalten, obgleich die international nötige Harmonisierung der Standards ein schwieriges Dauerthema blieb. Das neue Ministerium gewährleistete bei gesichertem Budget, dass alle öffentlichen technischen Installationen im Land permanent instand gehalten wurden, und zwar unabhängig vom Wechsel führender politischer Gruppen und der jeweiligen Finanz-Haushalte. Das betraf das gesamte Straßennetz, Bahnstrecken und notwendige Nebeneinrichtungen. Seitdem gab es weder Reparaturstau noch überalterte, fehleranfällige Einrichtungen. Die Industrie boomte, weil für die zahlreichen Aufgaben Unmengen an Aufträgen vergeben wurden, oft mit technisch anspruchsvollem Innovations- und Modernisierungsbedarf, aber auch bewusst mit Arbeiten für weniger ausgebildete Menschen. Natürlich beschäftigte der Schutz gegen Cyber-Attacken eine Heerschar an Experten. Diese Arbeitsgruppe stand auf Basis klarer Regeln mit der Polizei und, aufgrund ständig gefährlicher werdender internationaler Datenspionage, mit dem Geheimdienst in engem Austausch.
Mittlerweile lebten die Menschen nach einer schwierigen Übergangszeit in einer Art Mobilitäts-Paradies. Komfortable U-Bahnen und Busse versorgten störungsfrei und in kurzem Takt die ganze Stadt mit Außenbezirken. Überregionale Hochgeschwindigkeitszüge bedienten Flughäfen und Fernverkehr. Vor allem standen autonome, emissionsfreie Fahrzeuge in reichlicher Menge öffentlich zur Verfügung, überwiegend mit Wasserstoff-Technologie betrieben, und konnten per Anforderung in Minutenschnelle zu jedem angegebenen Standort zur sofortigen Benutzung bestellt werden. Kinder, Kranke, Behinderte, alte Leute, Besucher, Firmen – jeder konnte diesen Service in Anspruch nehmen, sofern bei der Verkehrszentrale eine Registrierung vorlag. Lufttaxis gehörten trotz ungünstiger Ökobilanz, Wetterabhängigkeit und Wartungsaufwand im Außenbereich zum Bestand, nicht aber für Massentransport, schon gar nicht im städtischen Innenbereich, wo es reichlich Alternativen gab. Connected Mobility in Perfektion.
Den Durchbruch hatten vor allem zwei standardisierte Kommunikationskanäle ermöglicht. Zum einen zwischen Fahrzeug und Zentrale: Die Wagen senden nur Position und Ziel an die Zentrale, und diese gibt übergeordnete zwingende Fahranweisungen zurück, wie Route, Fahrbahn und Geschwindigkeit. Diese kleinen Informationspakete sind mühelos in einfachsten Netzen zu übertragen. Zum anderen verbinden sich alle Fahrzeuge innerhalb eines kleinen Umkreises miteinander über Kurzstreckenfunk, schon lange unter dem Stichwort „talking cars“ bekannt, ideal für sichere lokale Feinabstimmung, vorneweg Abstands-, Vorfahrts- und Notfall-Management. Dies erfordert zwar die Bearbeitung sehr großer Datenmengen, besonders für Bildanalysen. Dennoch problemlos, weil Sensoren und Algorithmen autonomer Fahrzeuge schon seit vielen Jahrzehnten immer weiter optimiert worden waren und in jedem Fahrzeug leistungsstarke Kompakt-Quantenrechner zur Verfügung standen, nur im kleinen Kern tiefgekühlt, ohne externe Rechenpower der Hyperscaler zu benötigen. Alle wesentlichen Fragen waren gelöst worden: Datensicherheit, Mindestanforderungen an die Module, Leitzentralen, rechtlicher Rahmen, internationaler Standard der Genfer UN-ECE Gremien für autonomes Fahren und mehr …
Als überaus erfolgreich erwies sich die Leitzentrale für autonomen Verkehr. Sie war unabdingbar, weil ein Wagen nur dann in minimaler Zeit quer durch die Stadt oder über längere Strecken fahren konnte, wenn die steuernde Zentrale die komplette Lage in ihrem gesamten Überwachungsbereich kannte und allen Fahrzeugen gleichzeitig optimale Vorgaben machte. Natürlich verblieben Zonen, in welchen eine Steuerung durch menschliche Fahrer sinnvoll und zulässig war; dies betraf Lieferverkehr an Be- und Entladestationen, Baustellenbetrieb, Service Fahrzeuge aller Art, private Areale und verkehrsarme Gebiete.
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Weniger als vier Minuten nach Peters seltsamem Unfall traf der medizinische Notdienst unter Sirenengeheul und blinkenden Rotlichtern mit einem großen Funktionswagen ein, der voller modernster medizinischer Technik steckte und nicht weit entfernt unterwegs gewesen sein musste. Die Rettungszentrale hatte ein schwerwiegendes Ereignis angenommen und dem Einsatzteam als wahrscheinlichste Ursache eine Explosion am Zielort angegeben, möglicherweise mit Feuer. Wenige Sekunden später erschienen auf dem Infoschirm die medizinisch relevanten Daten eines Herrn Freudberg, der die Unfallmeldung ausgelöst hatte und höchstwahrscheinlich betroffen war. Gleichzeitig wurde eine Erkundungsdrohne entsandt, um das sichtbare Ausmaß des Vorfalls zu prüfen und aufzuzeichnen. Als das Rettungsfahrzeug den Zielort erreicht hatte, einen Fußweg, der in einer Parkanlage zu Wohnhäusern führte, war weit und breit nichts von Unfall, Explosion oder Feuer zu sehen.
„Da hat man uns eine völlig falsche Position gegeben“, wunderte sich der Ältere der beiden Sanitäter. In diesem Moment sahen sie die Drohne heranfliegen. Diese bestätigte die Beobachtung der Sanitäter, meldete jedoch die Anwesenheit von zwei Personen am hypothetischen Unfallort, eine sitzend, die andere liegend.
„Ja, dort“, rief der jüngere Sanitäter plötzlich erregt, „schau, da liegt einer, und jemand sitzt auf dem Boden, los geht’s.“ Die beiden sprangen aus dem Fahrzeug.
Constanze saß weinend neben ihrem wie leblos daliegenden Mann und hoffte, dass es sich nur um eine Ohnmacht handeln würde. Die beiden Sanitäter leiteten sofort Wiederbelebungsversuche ein, aber sie zeigten nicht den geringsten Erfolg. Kein Puls, keine Atmung – kein sichtbares Lebenszeichen.
„Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen und weiter reanimieren“, wandte sich der leitende Sanitäter an Constanze, die aber nicht reagierte, sie hatte offenbar einen Schock erlitten. „Gleich kommt noch ein Rettungswagen, man wird sich schnellstens auch um Sie kümmern“, rief er ihr zu. Ohne Zeit zu verlieren, legten sie Peter vorsichtig auf eine Trage, rollten diese zum Fahrzeug und schoben ihn hinein.
In diesem Moment traf ein Streifenwagen der Polizei ein. Die beiden Beamten hatten von der Zentrale für den Grund des Einsatzes die gleichen Stichworte erhalten sowie den Namen des möglicherweise Betroffenen.
Sie rannten zu den Sanitätern: „Was ist passiert?“ Aber die beiden riefen nur: „Wir müssen los“ und brausten davon. Einer der Polizisten ging auf die am Boden sitzende Frau zu und sprach sie an. Sie musste ja wissen, was sich ereignet hatte. Aber sie weinte bitterlich und reagierte nicht.
„Offensichtlich unter Schockwirkung“, meinte er, „wir beobachten sie und warten, bis die zweite Ambulanz eintreffen wird.“