Spaghettieis

Spaghettieis

Henning Thorben Glückskind


EUR 24,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 166
ISBN: 978-3-99146-433-4
Erscheinungsdatum: 25.10.2023
Ein arbeitsloser Studienabbrecher radelt an einem sonnigen Samstag durch Köln, um sich ein Spaghettieis zu genehmigen. Was banal klingt, entpuppt sich als moderne, mit philosophischen Betrachtungen und einer großzügigen Portion Ironie garnierte Heldenreise.
Kapitel 1 - Aufbruch


Kaum aufgestanden, merke ich schon, das wird heute mein Tag. Das im Angebot gekaufte, ein Kilo schwere Nutellaglas ist noch fast voll und nur wenig verschmiert. Selbst der Toast scheint noch haltbar zu sein, obwohl ich dies mangels Verschlussclip, auf dem in aller Regel das Mindesthaltbarkeitsdatum gedruckt ist, nur oberflächlich einschätzen kann. Ich decke noch etwas verschlafen, aber mehr als gut gelaunt meinen kleinen Küchentisch mit dem geerbten Geschirr meiner Oma Thea, erwärme die gerade vorgestern erst abgelaufene haltbare Milch für eine schöne Tasse Frühstückskakao und stecke im launebedingten Überschwang gleich zwei Scheiben Toast in den Toaster. Wenig später sitze ich in der Unterhose von gestern und meinem Lieblingsschlaf-T-Shirt am Tisch und schaue die Kakaotasse haltend durch das Küchenfenster in den blauen morgendlichen Sommerhimmel. Draußen ist schon einiges los. Diverse Menschen gehen mit ihren Einkaufstüten vom nahe gelegenen Edeka-Markt nach Hause, Fahrradfahrer radeln auf ihren sauber geputzten Rädern gen irgendwo, Familienväter tragen prall gefüllte Frühstücksbrötchentüten heim und Jogger gehen bereits leicht angeschwitzt ihrem lebensverlängernden Hobby nach. Während ich all jene und mehrere direkt vor dem Haus spielende Kinder beobachte, schweift mein Blick auf meinen rechten Fuß, der lässig auf dem freien zweiten Küchenstuhl liegt, und ich stelle unvermittelt Optimierungspotenzial fest. Nach der Länge der Nägel zu urteilen waren sicherlich bereits einige Monate vergangen, seit ich das letzte Mal so ganz ordentlich Pediküre gemacht hatte. Ich komme wohl nicht umhin, die unansehnlich langen Nägel unverzüglich zu kürzen, will ich nachher mit Flip-Flops aus dem Haus. Zwar ist heute Samstag und draußen scheint die Sonne. Aber wie ich von meiner Mutter gelernt habe, gehört die regelmäßige Fußpflege einfach zum Erwachsensein dazu, auch wenn sie nicht unerheblich viel Zeit beansprucht; die Fußpflege natürlich und nicht meine Mutter. Obwohl? Eigentlich beides.

Ich werfe kurzerhand meine unterbewussten Bedenken, was die Arbeit an meinen Zehennägeln anbelangt, über Bord und widme mich mit in Akribie ausartender Genauigkeit der Hornschnittkunst. Nach einigen schweißtreibenden Momenten komme ich mit der Selbstbeschneidung zu einem Ende, das sich wahrlich sehen lassen kann: Flip-Flop-Tag eins des Sommers kann mithin eingeläutet werden. Ich überlege kurz, ob ich auch noch duschen sollte, wo ich doch ohnehin schon fast den halben Tag mit meiner Körperpflege verbracht habe, verwerfe jedoch diesen Gedanken und erkläre mich für rein genug, um mit lässiger Jeans, raffiniertem T-Shirt, einigermaßen vorzeigbaren Flip-Flops und sonnenbebrillt in Richtung menschenbelebter Innenstadt zu ziehen, wo ich durchaus eigennützig in einem überaus sorgsam ausgewählten Eiscafé die Schlacht mit einem schönen, von mir innig geliebten Spaghettieis anzutreten gedenke.

Nachdem ich mich noch etwas verschlafen angezogen und Morgentoilette betrieben habe, stellt sich die Frage, wie ich zu meiner Eisdiele gelangen soll. Nehme ich den Bus? Gehe ich zu Fuß? Kurzerhand entscheide ich mich für das Fahrrad, das wohl die mit Abstand perfekteste Kombination aus Bus und Fußgängertum ist, gerade an schönen Sommertagen, nicht dagegen an Starkregentagen. Nicht ganz regelkonform werde ich heute indes auf meinen Fahrradhelm verzichten. Es gilt zwar: „Wer Hirn hat, schützt’s“, aber da meine Frisur noch wirklich herzeigbar ist, möchte ich sie ungern mit meinem alten Helm zerdrücken und mich optisch selbst degradieren. Was sollen denn die Leute denken, wenn so ein cooler Typ wie ich mit frisch geschnittenen Fußnägeln durch die Stadt radelt und dabei einen ollen Fahrradhelm von 2007 trägt, der wirklich schon bessere Tage erlebt hat und der zudem meine Haare in die Form der Frisur eines mittelalterlichen Priesters aus der „Name der Rose“ presst.

Den Frühstückstisch lasse ich unabgeräumt zurück, verlasse im Laufschritt meine Wohnung, nachdem ich sie ordnungsgemäß verschlossen habe, und suche im Hinterhof nach meinem Fahrrad. Nachdem ich es endlich zwischen oder vielmehr unter mehreren anderen Rädern meiner Hausgenossen gefunden und die Sicherheitsschlösser aufgeschlossen habe, wird umgehend mit einem Lächeln im Gesicht losgeradelt. Erst als ich schon eine recht beachtliche Strecke von mehreren hundert Metern zurückgelegt habe, bemerke ich, dass ich in meiner von Sommerfrische geprägten Leichtigkeit sowohl die Unterhose als auch die Socken vergessen habe, fühle mich indessen – auch vor dem Hintergrund der drohenden Spaghettieis-Planverzögerung im Falle der Andersentscheidung – frei genug, meinen Ausflug ohne Unterhose fortzusetzen. Bei den Socken zögere ich ein wenig, mache mir aber mein eigenes Laisser-faire zunutze und übersehe schlicht die nackten Füße, die zwar frisch pedikürt, keineswegs jedoch gänzlich gesäubert oder gar glatt gehobelt wären. Letztendlich ist mir die Sauberkeit meiner Füße aber egal, zumal nackte Füße an Flip-Flops in deutschen Innenstädten ohnehin nicht lange sauber bleiben bei all dem Dreck und Staub, der überall herumliegt oder durch den Wind, Autos oder sonst wie umhergewirbelt wird. Außerdem würde es bestimmt gute zwanzig Minuten dauern, wenn ich jetzt wieder zurückradeln, mein Fahrrad sicher abschließen und in meiner Wohnung nach sauberen Socken suchen würde. Deshalb denke ich mir ganz im Sinne eines auf seine Aufgabe fokussierten britischen James-Bond-Helden „Spaghetti Ice counts“ und radele behänd weiter in Richtung Stadtkerngebiet, wozu ich mein meiner Laune entsprechendes Lieblingslied „Froh zu sein bedarf es wenig, doch wer froh ist, ist ein König“ nicht ganz taktsicher pfeife.

Was man hier auf dem Fahrradweg alles so entdecken kann: junge Fahrradfahrer, alte Fahrradfahrer, Fahrradfahrer mit sündteuren Rädern, hübsche Fahrradfahrerinnen, aber auch Fahrradfahrinnen mit dicken weißen Beinen und knubbeligen Knien, fahrradfahrende Kinder, Jogger, Seniorinnen auf Rollatoren sitzend, Senioren, den Rollator drückend, Kleinkinder auf einem Kettcar – dass es die Dinger überhaupt noch gibt, wusste ich gar nicht –, falsch parkende Autos, schnell laufende Briefträger und zahlreiche Hunde, die von ihren Herrchen und Frauchen ordnungsgemäß angeleint zu einem Morgenspaziergang ausgeführt werden. Wahnsinn, ein richtig schönes wildes Treiben, das ich komplett verpasst hätte, hätte ich den teuren Bus benutzt. Bei knubbeligen Knien muss ich spontan an meine ehemalige Klassenkameradin Esther denken, die eigentlich recht hübsch war, aber deren meines Erachtens deutlich zu umfangreich dimensionierte Beine, die sie uns beim Sportunterricht an sommerlichen Tagen auf der schuleigenen Tartanbahn präsentierte, keine erkennbaren Kniescheiben aufwiesen. Insgesamt waren die Beine dieser Esther für ihren eigentlich recht schlanken Körper objektiv viel zu mächtig, und weil sie sportlich eher inaktiv war, bereits im zarten Alter von sechzehn Jahren unansehnlich von der weiblichen Bindegewebsschwäche gezeichnet, wofür sie aber selbstredend nichts konnte. Es war am Ende des Tages nicht unbedingt schön, Esther beim Tausendmeterlauf zusehen zu müssen, den sie regelmäßig als Letzte beendete.
Ein ganz anderes Kaliber war meine hochverehrte damalige Klassenkameradin Nicole, der wir männlichen Sportkollegen bereits in der achten Klasse sehr gerne dabei zusahen, wenn sie beim Weitsprung, nachdem sie etwa zwanzig Minuten benötigte, bis sie endlich die richtige Anlauflänge gefunden und mit buntem Tesastreifen markiert hatte, zum notenentscheidenden Sprung anlief. Wir schauten Nicole nicht deshalb besonders interessiert zu, weil sie herausragend weit sprang oder überproportional schnell anlief. Allerdings war ihr Körper mit vielleicht vierzehn Jahren schon derart weiblich, dass beim Anlauf trotz sicherlich getragenen Sport-BHs einiges hüpfte, was uns Jungs einige Stunden später nicht einschlafen ließ. Zwar hat Nicole selbstverständlich niemals auch nur ein Wort mit mir geredet, aber vergessen habe ich sie und ihren mehr als beeindruckenden Anlauf zur Sprunggrube nie. Ob sie gelegentlich auch an mich denkt und sich ärgert, niemals mit mir im Kino gewesen zu sein? Mit ihr hätte ich mir gerne in der Vorweihnachtszeit in einem dieser kleinen Kinos einen der alten Weihnachtsklassiker wie etwa „Tatsächlich Liebe“ angeschaut und ihr sogar meine Nachos angeboten, von denen ich normalerweise niemanden probieren lasse. Anschließend hätten wir gut gelaunt und über den Film plaudernd über den Weihnachtsmarkt schlendern können. Sicherlich hätte sie sich, spätestens nachdem ich ihr an einem der zahlreichen Stände ganz romantisch ein Räuchermännchen aus dem Erzgebirge mit einem zart geraunten „Vielen Dank für den wunderschönen Abend …“ gekauft hätte, unsterblich in mich verliebt und könnte heute gemeinsam mit mir zur Eisdiele radeln, sofern sie mich seit dem Weihnachtsmarktbesuch gut bis sehr gut behandelt hätte. Hätte sie mich nicht mindestens gut behandelt, würde ich allein fahren, sodass Nicole in meiner Abwesenheit über ihr unangemessenes Verhalten nachdenken könnte. Man darf Frauen durchaus mal nachdenken lassen, gerade wenn man fest mit ihnen zusammen ist, zumindest habe ich das schon mal irgendwo gelesen.

Vorsicht, rote Fußgängerampel! Die Ampel hätte ich beinahe übersehen. Manchmal bin ich nicht ganz bei mir und passe nicht richtig auf, was gerade im Straßenverkehr und insbesondere beim Radfahren ohne Helm schnell gefährlich werden kann. Oft frage ich mich, wann es mit solchen – ja, wie kann man dieses Phänomen am besten bezeichnen: Gedankenabschweifereien – bei mir anfing. Jedenfalls ertappe ich mich gerade in letzter Zeit immer häufiger dabei, dass ich grundsätzlich abgelenkt bin, was daran liegen mag, dass mir neuerdings so einiges durch den Kopf geht. Insbesondere frage ich mich immer häufiger, was eigentlich aus mir werden soll, welchen Weg ich einschlagen und welchen Beruf ich in der Zukunft vielleicht mal ausüben werde. Bisher habe ich noch nicht gearbeitet, mich kurzzeitig auf mein Studium und langzeitig darauf konzentriert, wie ich den Abbruch des Studiums der Philosophie und Japanologie meinen Eltern verheimlichen kann, um das Durchtrennen des letzten zwischen uns noch bestehenden Beziehungsbandes und die Einstellung der monatlichen Unterstützungszahlungen etwas hinauszuzögern. Mit den von meinen Eltern neben der Warmmiete überwiesenen vierhundertfünfzig Euro Haushaltsgeld kam ich vor dem Ukrainekrieg wirklich gut aus, zumal ich nicht rauche und auch keine größeren Summen in sonstige Laster wie etwa Alkohol oder Frauen investieren muss, sodass ich ohne Arbeit als angeblicher Noch-Student relativ entspannt über die monatlichen Runden kam. Nur leider hat Herr Putin mein auf Ruhe und Entspanntheit angelegtes Leben nicht nur unerheblich verändert. Meine Eltern gestehen unumwunden ein, dass sie mir nicht mehr Geld pro Monat zukommen lassen können, weil auch sie unter Inflation und Energiekostensteigerung leiden und Papa bereits in Rente ist, was allzu große Gehaltserhöhungen für diesen älteren Herrn in Zukunft eher ausschließt. Fair enough! Dass ich neben dem abgebrochenen Studium jedoch auch arbeiten sollte, um mir etwas dazuzuverdienen, nur um die von Herrn Putin höchstpersönlich verursachte Krise finanziell auszubügeln, schließe ich dagegen kategorisch aus. Schließlich kann ich nichts für den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Und mich bei Mc Donalds oder Subway zu verdingen, nur um doch wieder Sprudel statt Leitungswasser trinken zu können, entspricht weder meinen eigenen Ansprüchen an mich selbst noch meinen Neigungen hinsichtlich meiner zukünftigen Karriere, müsste ich doch gerade einmal für den Mindestlohn nach nichts schmeckende Burger an den übergewichtigen Mann bringen. Vor diesem weltpolitisch recht komplex anmutenden Hintergrund habe ich mich dazu entschlossen, mein Kaufverhalten zu überdenken und gerade den Konsum von Gütern wie Kleidung, Technik oder auch Hygieneprodukten weitestgehend einzuschränken. Damit folge ich im Wesentlichen allen Nachhaltigkeitsgedanken der gegenwärtigen Fridays-for-Future-Bewegung, würde ich zumindest vermuten, hätte ich mich mit diesen Gedanken auch nur ansatzweise auseinandergesetzt. Deshalb reize ich nunmehr die Lebenszyklen meiner Jeans, Pullover und Winterjacken maximal aus, kaufe keine neuen Smartphones oder Tablets und benutze im Bereich der Hygiene ausschließlich die Eigenmarkenprodukte von DM oder Rossmann – und diese mengentechnisch auch sehr sorgsam – für meine Körperpflege. Ferner achte ich peinlich genau darauf, so wenig Strom und Gas wie nur irgend möglich zu verbrauchen. Vor diesem Hintergrund kuschele ich mich an Wintertagen auch auf der Couch lieber unter meine richtige Bettdecke, lasse so lange wie möglich morgens das Licht aus, wobei mir bei diesem Sparansatz mein Langschläfergen durchaus hilft, und verzichte recht häufig auf die Benutzung meines mindestens fünfzehn Jahre alten Fernsehers. All das hilft mir dabei, mit dem monatlichen Geld meiner Eltern auch ohne eigenen Zusatzverdienst trotz Inflation mein gewohntes Leben weiterleben zu können.

Gott sei Dank. Die Ampel vor mir schaltet endlich auf Grün, sodass ich nach kurzer Wartezeit weiterradeln kann. Was der nunmehr vor mir fahrende Herr wohl in der Stadt zu besorgen hat? Geldgeschäfte vielleicht oder geht es ihm eher wie mir um die reine Primärnahrungsaufnahme? So wie er aussieht, hat er möglicherweise auch nichts in der Stadt zu erledigen. Es läge durchaus im Bereich des Möglichen, dass er lediglich durch die Innenstadt fährt, schlicht um des Fahrradfahrens willen. Gelegentlich nennt man dergleichen Sport oder Hobby. Ich persönlich habe mich – mit Ausnahme einer kurzen Fitnessstudioperiode nach meinem achtzehnten Geburtstag – nie mit derlei sinnlosen Freizeitbeschäftigungen auch nur ansatzweise näher befasst. Wenn ich schon einmal frei und nichts zu tun habe, muss ich diesen gottgegebenen freien Zeitraum doch nicht mit etwas Sinnbefreitem zwangsweise ausfüllen. In meiner Freizeit mache ich deshalb konsequent nichts. Gar nichts, um genau zu sein. Das führt zwar meistens dazu, dass ich mich gerade während längerer Freizeitperioden unglaublich langweile. Allerdings genieße ich gleichsam den Gedanken, derart frei zu sein, dass ich potenziell alles machen könnte, was ich wollte, und nicht durch irgendwelche zeitlichen Verpflichtungen eines wie auch immer gearteten Hobbys oder regelmäßigen Zeitvertreibs eingeengt zu sein, meine absolute Freiheit spontan in jeder denkbaren Ausgestaltung auszuleben. Diesen Gedanken ausführend verbringe ich dann Stunde um Stunde auf meiner Couch, auf dem Rücken liegend und zumeist an die mehr oder weniger weiße Decke starrend. Ich könnte die Decke wirklich einmal wieder streichen, wobei gerade das Streichen von Decken über Kopf körperlich gesehen ganz schön anstrengend ist und es grundsätzlich erforderlich macht, vor dem Streichen sämtliche Möbel sauber abgedeckt zu haben. In diesen gedankenversunkenen, von Faulheit geprägten Freizeitperioden ist es nur absolut notwendigen Bedürfnissen erlaubt, mein freiheitliches Nichtstun zu unterbrechen, etwa der Bekämpfung aufkommenden Durstes durch wahlweise billiges Leitungswasser oder in finanziell besseren Zeiten eiskaltes Malzbier oder wohltemperierte Himbeerbrause in ausreichenden Mengen, oder Frau Gröper aus der Etage über mir. Die herzensgute alte Dame läutet in regelmäßigen Abständen bei mir durch, um sich zu erkundigen, wie es mir so ginge. Aufgemacht habe ich ihr allerdings noch nie. Ich habe lediglich über einen Bekannten eines Mitmieters erfahren, dass es wohl Frau Gröper sein könnte, die bei mir gelegentlich durchläute. Wer sollte es auch sonst sein? Ich kenne in diesem Haus, in dem ich erst seit etwas mehr als fünf Jahren wohne, ja noch kaum jemanden. Und Frau Gröper sieht genau so aus, als läute sie regelmäßig bei mir durch, um sich eben zu erkundigen, wie es mir so ginge. Manchmal steckt sie, nachdem sie bei mir durchgeläutet hat, auch irgendwelche DHL–Zettel in meinen Briefkasten. Was das nun zu bedeuten hat, weiß ich wiederum nicht. Jedenfalls, wenn Frau Gröper bei mir durchgeläutet hat, stehe ich in aller Regel von meiner Couch auf, gehe zur Tür und rufe, selbstverständlich ohne die Tür zu öffnen: „Sorry, augenblicklich gerade ein ganz klein wenig ungelegen. Später öffne ich Ihnen sicher gerne.“ Im Übrigen: Das mit den DHL-Zetteln habe ich auch noch nie verstanden. Wenn ich mal wieder aus einer Laune heraus Sinnlosestes im Internet bestellt habe, kommt wenig später nie das Bestellte selbst bei mir an, indes lediglich ein DHL-Zettel, der wohl von Frau Gröper eingeworfen wurde und mich zum Besuch einer DHL-Filiale auffordert. Noch nie habe ich einen derartigen Laden besucht. Man hört ja nichts Gutes über solch dubiose Läden. DHL könnte – vergleichbar mit den durch den kürzlich erfolgten Amoklauf in Verruf geratenen Zeugen Jehovas – vielleicht eine Sekte sein, die mich in der „Filiale“ bekehren will. Wofür steht DHL eigentlich? Die heiligen Leute? Möglicherweise wird man dort auch vom IS angeworben und muss anschließend in erdbebengefährdeten Regionen Syriens zum Kämpfer für den heiligen Krieg ausgebildet werden. Ich halte nichts von Ausbildungen, habe deshalb selbst auch nie eine gemacht. Auch Bildung an sich ohne „Aus“ halte ich für eine von der Obrigkeit aufoktroyierte Form der Freiheitsberaubung, weshalb ich bereits nach wenigen Monaten mein Studium aus eigenem Willen freiheraus beendet habe. Statt die Freizeit zu genießen, muss man um der Bildung Selbstzweck lernen. Und mal ehrlich: Das in der Schule vermittelte Wissen um den Aufbau der Korbblütler hilft nur sehr eingeschränkt bei a) der Beschaffung von Lebensmitteln gegen Entgelt oder b) der erfolgreichen Ansprache einer Tina, Tanja oder Doris zwecks intensiverer Kontaktaufnahme. Humanismus! Gefährlich und unnötig wie so ziemlich jeder „Ismus“. Natürlich habe ich auch eine Schule besucht, sogar recht lang. Und einen Schulabschluss habe ich selbstredend auch. Sogar den höchstmöglichen! Gemocht habe ich meine Schulzeit allerdings bis auf die Pausen und die Klassenfahrten nie so recht. Ständig forderte irgendein Lehrer dazu auf, Hausaufgaben zu machen und sich auf den nächsten Test oder GLN vorzubereiten. Mit welchem Recht eigentlich? Nur Herr Sackmann, unser allseits beliebter Religionslehrer in den Klassen sechs bis neun, war da ein anderes Kaliber, hat er uns doch regelmäßig einen Film schauen und dabei entspannen lassen. Sein Lieblingsfilm war übrigens „Ferdinand der Stier“, ein Comicfilm in Schwarz-weiß aus den Fünfzigerjahren, den wir bestimmt zehnmal schauen und spätestens nach dem dritten Mal dabei auch einschlafen durften. Heute schlafe ich besser bei einem „Drei Fragezeichen“-Hörspiel ein. Auf der Couch liegend höre ich mir irgendein Abenteuer aus Rocky Beach an, und spätestens, wenn Peter ruft „Den schnapp ich mir“, bin ich schon weggedöst. Herrlich, gerade an trüben Novembertagen. Das Einschlafen funktioniert bei mir übrigens zu TKKG-Hörspielen überhaupt nicht, was wohl an den Stimmfarben der Sprecher liegen mag, weshalb ich den Produzenten dieser Hörspielreihe dringend zu einer Neubesetzung raten würde.

Was meiner Annahme, dass der vor mir fahrende Herr womöglich nur zu sportlichen Zwecken mit dem Fahrrad unterwegs ist, Nachdruck verleihen könnte, sind die beiden Umstände, dass er eines dieser modernen ultraleichten Trekking-Fahrräder mit Gangschaltung fährt und dass er schwitzt, wie Hochleistungssportler eben schwitzen, mächtig viel halt. Das gesamte von ihm getragene hellblaue Hemd einschließlich der farblich wenig abgestimmten Krawatte ist dunkel von der Feuchtigkeit des aus all seinen groben Hautporen rinnenden Schweißes eingefärbt. Auch die schicke graue Hose ist von ihrem ehemals trockenen Aggregatszustand bereits eine mittellange regnerische Schiffsreise an Deck verbracht entfernt, weshalb sich der ebenfalls feucht gewordene, sommerlich leichte Hosenstoff eng an die Haut des vor mir radelnden Sportskameraden schmiegt und man die mächtigen muskulösen Waden des geschätzt hundertfünfzig Kilo schweren Radfahrers erahnen kann. Weiterhin bullig und schwer atmend tritt er in die Pedale, auch während ich ihn problemlos auf meinem mehr als dreißig Jahre alten Hollandrad überhole. Ich denke, er wollte neben mir nicht angeben, nicht mit seinem Trainingsvorsprung prahlen, mir das Gefühl geben, dass ich mich auch zügig fortbewege. Deshalb unterlasse ich es auch, ihm zuzuwinken, was ich normalerweise meiner freundlichen Art geschuldet tue, wenn ich an einem anderen langsamen zweiradfahrenden Verkehrsteilnehmer vorbeifahre.
5 Sterne
Sehr lustig  - 06.11.2023
Julia krutisch

Das Buch ist sehr schön und lustig gestaltet.Sehr empfehlenswert!

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