Ostdeutsche Geschichte(n)

Ostdeutsche Geschichte(n)

Neue Enthüllungen über ein Land vor unserer Zeit

Andreas Staeck


EUR 11,90
EUR 7,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 168
ISBN: 978-3-99048-402-9
Erscheinungsdatum: 29.03.2016
Kommen Sie mit auf eine unterhaltsame Pendeltour zwischen den beiden deutschen Staatsbürgerschaften! An Bord verwöhnt Sie ein Insider mit guter Laune und sensationellen Enthüllungen über das gescheiterte deutsche Sozialismus-Experiment.
Volkswagen
Automobilität zwischen Traum und Trauma

„Das Kind im Manne hat vier Räder.“
(Manfred Hinrich)


Die Masse meiner westdeutschen Brüder und Schwestern müsste meine emotionale Bindung an den untergegangenen Arbeiter- und Bauern-Staat eigentlich verstehen. Denn wer sein Herz bis zum Lebensende nicht gerade einem Fußball-Verein verschrieben hat, schwört mindestens auf (s)eine Automarke. Oder eine bestimmte Partei.
All das kann mit familiärer Tradition zu tun haben. Oder auch mit dem Mainstream. Der für den einen „Volkswagen“ heißt, für einen anderen „deutscher Rekordmeister“. Ein Dritter hält es vielleicht mit der FDP. Nach diesem Muster hängt jeder an irgendetwas, wo er sich „dahoam“ fühlt. Obwohl selbst der FC Bayern manchmal verliert. Wie auch die liberalen Mehrheitsbeschaffer immer wieder mal mit politischer Bedeutungslosigkeit abgestraft werden. Gar nicht zu reden vom Abgas-Skandal bei Volkswagen. Aber trotz höchster deutscher Ingenieurskunst werden auch künftig Autos mit VW-Logo am Straßenrand stehen, deren Insassen auf einen rettenden Gelben Engel warten.
Was dann aber besonders schlimm ist. Denn der große Emil Zatopek formulierte einmal unvollendet: Vogel fliegt, Fisch schwimmt, Mensch läuft. An dieser Stelle lässt sich nun trefflich ergänzen: Deutscher? Fährt! Die Buchstaben A und O umrahmen gebührend das, was als Allerheiligstes unserer deutschen Heiligtümer schon unsere Kleinsten prägt. Einem deutschen Jungen, der sich nicht für Autos interessiert, ist jedenfalls eine XXL-Portion Misstrauen sicher.
Auch mein Interesse an Autos erwachte vergleichsweise spät. Das lag wieder mal am Vorstand unserer Familie, der in Personalunion zugleich Direktor einer Polytechnischen Oberschule war. Womit nicht nur alle West-Kontakte ein Tabu waren. Sondern auch Matchbox-Autos in meinem Kinderzimmer. Dadurch dauerte es, bis ich mir meine Traumlimousinen selbst zusammenbauen konnte. Wobei natürlich LEGO-Steine genauso unerreichbar waren wie die weich gefederten Matchbox-Modelle. Die Alternative waren deutsche demokratische Steckbausteine namens PEBE. Was nach deren Zusammenbau herauskam, entsprach ziemlich genau dem, was massenhaft über deutsche demokratische Straßen rollte. Nicht nur mit Blick auf die Federung. Sondern auch die Karosserieform.
Nun sind wir Menschenkinder aber alle durch eines verbunden: dass unsere Mobilität auf Rädern eher bescheidene Wurzeln hat. Falls sich noch jemand an meinen Kinderwagen erinnert, möchte ich mich trotzdem noch einmal entschuldigen. Denn auf Farbe und Ausstattung hatte ich damals wirklich keinen Einfluss. Während ich mich auf meinen ersten vier Rädern durch die Welt schieben ließ, wurde in der DDR der Trabant 601 vorgestellt. Böse Zungen deuten den Kosenamen „Trabbi“ ja so, dass dessen Höchstgeschwindigkeit einem Traber gleiche. Gemessen daran, ritt mein Vater damals auf einem „Galoppi“ durchs Land. Sein Wartburg 311 war ein Produkt Made in GDR, das bei seiner Premiere durchaus noch internationales Format hatte. In diesem blauen Gefährt mit Zweitaktmotor begann für mich das Autofahren. Und zwar so wie für viele Politiker die große Karriere: als unscheinbarer Hinterbänkler.
Unser Vater verstand sich auch ohne Tempomat darauf, zuverlässig sein „Urlaubstempo“ zu halten. Während er genüsslich an seiner stinkenden Zigarre zog. Der allgemeine Zigarrenverbrauch des Herrn Schuldirektors ließ vermuten, dass er sich die wirtschaftliche Rettung Kubas im Alleingang auf die Fahnen geschrieben hatte. Was ihm trotz tief greifender amerikanischer Handelssanktionen aus heutiger Perspektive geglückt scheint.
So wurde der revolutionäre Weltprozess zum Schuldigen daran, dass ich chronisch reisekrank wurde. Während mein väterlicher Chauffeur mit dem Studium des Knospensprungs am Straßenrand sein botanisches Wissen weitete, profilierte ich mich zum Gastroenterologen. Der seiner Mutter bunt gefüllte Tüten auf den Beifahrersitz reichte. In der ich Proben meines Mageninhalts sammelte. In unkalkulierbaren Zyklen und sofern ich diese überhaupt noch einfangen konnte. An dieser Stelle fügt es sich für Sie nun prima, dass die DDR den weltzivilisatorischen Fortschritt vier Jahrzehnte lang erfolgreich ausgebremst hat. Sodass man Büchern auch heute noch keine Geruchsproben beilegen kann.
Bei Zollkontrollen musste ich mich in der Regel erst einmal ausgraben. Aus Bergen von Plastiktüten, die mich präventiv umhüllten. Mehr, als in einer durchschnittlichen deutschen Küche lagern. Für den nächsten Vulkanausbruch meines Verdauungstrakts. Der für jede längere Ausfahrt in unserer Familienkutsche für mich so selbstverständlich war, wie es noch heute in jedem klassisch ostdeutschen Haushalt eine große Plastiktüte voller kleiner Plastiktüten gibt.
Irgendwann waren die 38 Wartburg-PS verschwunden. Für die unser Vater von einem Autofreak noch ein bisschen Geld bekam. Dem das edle Teil zunächst etwas mehr als nur ein bisschen Geld einbrachte. Später dann auch noch eine mehrjährige Haftstrafe. Während die sozialistische Wartezeit auf einen Neuwagen unseren Vater zum vorübergehenden Verzicht auf seine automobile Freiheit verurteilte. Um auf den Trabant P 603 zu warten. Der aber 1967 samt Viertaktmotor und revolutionärem Vollheck erst einmal wieder in den volkseigenen Panzerschränken verschwand.
War es Zufall, dass direkt hinter der deutschen Mauer der Volkswagen-Konzern sein Produkt-Portfolio ein paar Jahre später mit dem „Golf“ auffrischte? Einem Modell, das nicht nur zu einer Erfolgsstory wurde. Sondern auch der P 603-Studie verblüffend ähnelte.
Während dann eines Tages statt eines P 603 doch nur ein nagelneuer Trabant des Fabrikats 601 vor unserer Haustür stand. Natürlich in Himmelblau. Da war es nun: das Auto, das gern als rollender Widerspruch bezeichnet wird. Einerseits sehr wartungsfreundlich. Zu den nachhaltigsten Lyrics aus den Zirkeln schreibender Arbeiter zählt noch heute: „Haste Hammer, Zange, Draht – kommste bis nach Leningrad!“ Andererseits war der 27 PS-Motor der Arbeiter- und Bauern-Kutsche aber sehr verschleißanfällig. Das etwa 150 mal 600 km große Hauptverkehrsgebiet sorgte jedoch dafür, dass sich die Laufleistung in Grenzen hielt.
In einem automobilen Zeitalter, bei dem man die Tageskilometer noch im Kopf ausrechnen musste. Der Bordcomputer reduzierte sich dabei auf eine technische Konstruktion, an der man durch das Drehen kleiner Rädchen einen abgelesenen Kilometerstand festhalten konnte. Dieses Hightech-Memory-Gerät wurde von einem Magneten am Cockpit gehalten. Im Trabanten muss also tatsächlich irgendwo Metall verbaut gewesen sein.
Neben etwas Feinmotorik erforderte dann die Ermittlung der zwischenzeitlich gefahrenen Kilometer lediglich ein paar Mathe-Kenntnisse, die das deutsche demokratische Bildungssystem vermittelte. Während es den Frust der Schüler in Grenzen hielt. Zumindest so weit, dass niemand von Autobahnbrücken Steine, schwere Holzklötze oder gar Gullydeckel auf darunter fahrende himmelblaue Trabbis werfen musste. Obwohl deren Verkehrsgeschwindigkeit eine ausgezeichnete Trefferquote versprochen hätte.
Mit 15 Jahren waren die polytechnisch gebildeten Jugendlichen dann fit genug für die eigene Motorisierung. Nun verfügte zwar auch ich nach meiner Jugendweihe über die finanziellen Mittel für die Anschaffung eines Kleinkraftrads. Inmitten der vielen Geldpräsente war aber das wichtigste Geschenk untergegangen. Das nicht nur kostenlos erhältlich war, sondern auch unansehnlich sein durfte: eine vergilbte Anmeldung für den Bezug eines S 50-Mokicks. Mit solchen Anmeldungen war es wie mit Brennholz, Wein, Büchern oder Freundschaft: Je betagter, desto besser wäre sie gewesen.
Deshalb musste ich mich zunächst mit Vaters blauer „Schwalbe“ begnügen. Fortan bekamen die Gemeinde-Krankenschwester und der Abschnittsbevollmächtigte auf der Dorfstraße echte Konkurrenz. Erst später chauffierte ich dann als stolzer „Summi“-Fahrer so manche Sozia über die Straßen. Der neongelbe Farbton meines neuen Gefährts war damals recht gewöhnungsbedürftig. Aber offensichtlich bilanziellen Überschüssen im laufenden Fünfjahrplan geschuldet.
Diese fehlende farbliche Auswahlmöglichkeit hielt mich bis 1990 davon ab, mir ein eigenes Auto anzuschaffen. Trotz der nötigen Fahrerlaubnis, die ich für 65 Mark bei der Gesellschaft für Sport und Technik erworben hatte. Das fehlende Mitspracherecht bei der Farbe meines Kinderwagens hatte irreparable Schäden hinterlassen.
Hinzu kam, dass die Ost-Autos etwas träge waren. Deshalb erstand ich von einem Rentner eine rassige MZ. Die verfügte zwar statt einer Rennverkleidung nur über zwei unsportliche Knieschoner. Zu denen mir der ebenso betagte wie besorgte Verkäufer als Draufgabe auch noch eine ähnlich sportive Decke gönnte. Bevor er mir als Halbschale seinen weißen Senioren-Helm präsentierte. Aber dafür war ich auf meiner 150er ES flinker unterwegs als das Licht. Das war möglich, weil der Lenker in den starren Scheinwerfer eingebaut war. Dadurch war man immer schneller um die Kurve, als das Scheinwerferlicht folgen konnte. Es waren gewiss einstige ES-Piloten, die an der Entwicklung des adaptiven Kurvenlichts beteiligt waren.
Natürlich war auch in der DDR das Auto ein Statussymbol. Aber noch wertvoller waren Beziehungen, auf die ich in einer anderen Geschichte noch ausführlicher eingehen werde. Zumal man diese dringend brauchte, wenn man ein Auto besaß. Der Mangel an Werkstattterminen und Dienstleistungskultur war schon schlimm genug. Noch dramatischer war aber der Mangel an Ersatzteilen. Der für mich als motorisierten Zweiradfahrer vor allem Kickstartergummis und Tachowellen betraf. Deren Lebenserwartung einer Eintagsfliege ähnelte.
Dieser Mangel an passenden Ersatzteilen offenbarte sich auf deutschen demokratischen Straßen in einer ganz typischen optischen Erscheinung: dem Patchwork-Auto. Womit hier nicht etwa der himmelblaue Trabant gemeint ist, der bei Auslieferung neben verchromten „de luxe“-Stoßfängern auch ein schmuckes weißes Dach haben konnte. Sondern ein vielen DDR-Trabbi-Piloten bekanntes Gefühl: wenn sich mitten auf der Fernverkehrsstraße urplötzlich die Motorhaube vor der Frontscheibe aufbäumte. Weil man sie an der Tankstelle nicht korrekt geschlossen hatte. Falls man sich bei diesem Albtraum nicht gerade in einem Überholvorgang befand, reduzierte sich das Schadensbild auf einen charakteristischen Riss in der Motorhaube.
Durch den großen Bedarf an Ersatz kamen die Zwickauer Trabant-Werker offensichtlich nicht mit der Lackierung nach. Unlackiert war die Pappe aber braun wie das Zwickauer Terror-Trio. Man konnte sich dann entscheiden, ob man entgegen der antifaschistischen Staatsdoktrin dieses Braun für den Rest des Lebens als beständige Mahnung für alle anderen Trabbi-Kollegen vor sich herfahren wollte. Oder bei Verfügbarkeit eines Lackierers einen Farbton akzeptieren würde, der mit etwas Phantasie dem Himmelblau nahekam.
Schon um heutige ostdeutsche Klischees bedienen zu können, beließen es viele bei der braunen Variante. Dann machte es erfahrungsgemäß auch nichts mehr aus, wenn ein später beschädigter Kot- oder Heckflügel in den Farben Rot oder Gelb ersetzt wurde.
Zumal die Optik der DDR-Fahrzeuge zur Nebensache wurde, als Anfang der 1990er Jahre wieder riesige Deutschland-Schilder am Heck klebten. Damit verwandelte sich selbst die schäbigste Zwickauer Pappe in den Augen ihres Besitzers in eine „D“-Klasse. Parallel begann man sich bei Volkswagen zu erinnern, wie ausgezeichnet das mit dem Golf funktioniert hatte. Der inzwischen einer ganzen Generation seinen Namen gab. Und so wurde schließlich auch das deutsche demokratische Patchwork-Auto zu einer marktwirtschaftlichen Steilvorlage. Heraus kam der bunte Polo Harlekin. Der nach offizieller Darstellung das Produkt eines VW-Azubi-Projekts sein soll. Manchmal zahlt es sich eben doch aus, im geschichtlichen Müll nach Perlen zu tauchen.



Wunderkugel
Aus-Wärts-Sieg!

„Fußball ist Kriegserklärung mit glimpflichem Ausgang.“
(Erhard Blanck)

Außerhalb der römisch-katholischen Kirche geschehen Wunder eher selten. Eine Ausnahme ist vielleicht der deutsche Fußball. Angefangen beim Wunder von Bern. Das den gesamten deutschen Sport auf sehr nachhaltige Weise an die Weltspitze führte. Denn es war maßgeblich der bundesdeutsche Fußball-Weltmeistertitel des Jahres 1954, der die ostdeutsche Arbeiter- und Bauern-Macht zum Ausbau ihrer Sportförderung trieb. Um fortan mit sportlichen Erfolgen die Überlegenheit des Sozialismus zu demonstrieren.
An der Spitze dieser Bewegung stand der Genosse Ulbricht. Seiner Sportbegeisterung verdankt die Stadt Leipzig, in der im Jahr 1900 der Deutsche Fußballbund gegründet wurde, noch heute ihr Zentralstadion. Die Rechnung des sächselnden Spitzbarts ging bekanntlich auf: Vermutlich hätte die alte Bundesrepublik in den olympischen Medaillenwertungen die DDR selbst dann nicht erreicht, wenn sie beim Deutschland-Achter oder ähnlich personalintensiven Teamwettbewerben jede einzelne mitgebrachte Medaille gezählt hätte. Wäre alles in der DDR so gut ausgegangen wie das Sport-Projekt, wäre sie vermutlich heute noch da.
Nun hat jeder Erfolg eine unvermeidliche Begleiterscheinung: die verdrehte Anerkennung, die sich als Neid im Schatten des Erfolgs sonnt. Dabei wäre man klug beraten gewesen, dem DDR-Sport nach dem Einholen der letzten Sieger-Flagge keine ideologisch aufgeladene Doping-Diskussion anzuhängen. Um sich in deren Verlängerung ein spektakuläres deutsches Eigentor zu schießen.
Denn seit in Mitteleuropa die Waffen schweigen, scheint es doch für ein glückseliges Volk nur noch einen einzigen echten Indikator zu geben: die Fähigkeit seiner Elite, das Runde ohne Abseitsstellung, Hand- oder Foulspiel im Eckigen einer verfeindeten Nation zu versenken! Selbstverständlich mit allem, was zu einem ordentlichen Gefecht gehört: blitzartige Überfälle, Abwehrschlachten, ein explodierendes Mittelfeld, Attacken und Konter.
Womit wir mitten drin sind. In einem der finstersten Kapitel der DDR-Geschichte. Neben Mauer, Stacheldraht, SED-Diktatur und ihrem Staatssicherheitsdienst. Dessen Minister auch an dieser Stelle schwere Schuld trifft. Der Genosse Erich Mielke hätte nämlich schon aus ideologischen Gründen besser darauf verzichten sollen, sich mit dem BFC Dynamo einen Rekordmeister nach dem Vorbild des FC Bayern München zu basteln.
Nun bestätigt der Polo Harlekin aus der vorangegangenen Geschichte zwar die moderne asiatische Weisheit, nach der gutes Kopieren immer Aussicht auf Erfolg hat. Mielke hätte seinerzeit seinen Blick jedoch besser auf das eigene Haus richten sollen. Denn die weitaus bessere Vorlage für den DDR-Fußball wäre die deutsche demokratische Eishockey-Meisterschaft gewesen. Nach deren Erfolgsmuster es sich gelohnt hätte, auch die DDR-Fußballoberliga beizeiten auf zwei Dynamo-Teams gesundzuschrumpfen. Zumal mit den Dresdner Dynamos dem weinroten Tuch des DDR-Fußballs ein in Leistung wie Etikett ebenbürtiger Konkurrent zur Verfügung gestanden hätte.
Vermutlich wären wie bei den exklusiven Duellen um die DDR-Eishockey-Meisterschaft zwischen den beiden Dynamo-Teams aus Berlin und Weißwasser am Ende zwar auch immer die Hauptstädter Meister geworden. Weil eine Planwirtschaft nicht aus ihrer Haut kann. Aber dafür waren ausschließlich „Spitzenspiele“ garantiert.
Wenn der DDR-Fußball auf diese Weise nicht sogar westdeutsches Niveau erreicht hätte. Denn trotz der übersichtlichen DDR-Meisterschaft verband die beiden deutschen Eishockey-Nationalteams in der A-Gruppe ihrer Weltmeisterschaft regelmäßig der Abstiegskampf. Der weit mehr war als nur deutsch-deutscher Klassenkampf. Weil es am Ende auch um die Tordifferenzen gehen konnte. Da konnte sich die DDR dann stets auf die deutsch-sowjetische Freundschaft verlassen. Denn gegen den kleinen Bruder unterdrückten die sowjetischen Cracks gewöhnlich ihren Torhunger, um diesen dann gegen das bundesdeutsche Team umso exzessiver zu stillen.
Die Folgen des Altersstarrsinns des Stasi-Chefs sind bekannt: Der Fußball-Nationalmannschaft der DDR gelang nicht ein einziger Sprung zu einer Europameisterschaftsendrunde. Die gnädige Entscheidung der UEFA, die Endrunde ab 2016 mit 24 Teilnehmern auszurichten, kam für den DDR-Fußball leider etwas zu spät.
Wer nun aber im Staatsbürgerkunde-Unterricht beim Thema „Krise“ aufgepasst hat, findet auch in der DDR-Fußballgeschichte konjunkturelle Kapitel. Eine erste kleine Sternstunde war das Finale der Fußball-Weltmeisterschaft 1970. Das die Bundesdeutschen mit ihrer Halbfinal-Niederlage gegen Italien verpassten. Jenem legendären 3:4 nach Verlängerung im Aztekenstadion zu Mexiko-Stadt.
Ausgerechnet am 17. Juni 1970. Ein kleines Indiz, wie weit den nachgewachsenen Westdeutschen schon damals der Tag der deutschen Einheit am Allerwertesten vorbeiging? Wie Nationalstolz funktioniert, bewiesen dagegen Pelé und Co. Als die Brasilianer die Italiener im Finale mit 4:1 abschossen. Mittendrin stand als Retter der deutschen Ehre der DDR-Schiedsrichter Rudi Glöckner.
Dass der legendäre schwarze Mann aus Markranstädt bei Leipzig an dieser Stelle zum Glückspilz wurde, war allerdings auch dem unglücklichen internationalen Agieren der DDR-Fußballer zu verdanken. Für Markus Merk, der zweifelsfrei auch zu den weltbesten Referees gehörte, reichte es unter den gegebenen Umständen indes „nur“ zum EM-Endspiel 2004. Trotz Promotion!
Die echte Blütezeit des DDR-Fußballs war kurz aber intensiv und lässt sich am Jahr 1974 festmachen. Alles begann damit, dass der 1. FC Magdeburg im Finale des Europapokals der Pokalsieger den AC Mailand in Rotterdam mit 2:0 vom Platz fegte. An diesem Maitag befreite sich der DDR-Fußball endlich von der Seuche des internationalen Misserfolgs. Woraufhin die ganze Republik fortan bis zu ihrem Ende jenen 8. Mai als Tag der Befreiung feierte.
Während mein Herz die Form eines blau-weißen Fußballs annahm. Nun verging kein Spieltag der DDR-Oberliga mehr, an dem ich nicht „Radio DDR“ anschaltete. Um – falls ich nicht gerade selbst im Magdeburger Ernst-Grube-Stadion saß – keine Live-Konferenz-Schaltung zur 2. Halbzeit der deutschen demokratischen Champions League zu verpassen. Wenn der 1. FC Union Berlin ein Heimspiel austrug, konnte man sich darauf verlassen, dass sich Heinz Florian Oertel aus dem Stadion an der Alten Försterei meldete. Es war denn, die Eisernen Berliner hatte es gerade mal wieder für eine Saison in die Staffel B der DDR-Liga verschlagen.
Inzwischen sammeln sich die einstigen DDR-Oberligisten in der 3. Fußball-Bundesliga. Mit einer bestechenden Logik. Weil das der wirtschaftlichen Leistungskraft des deutschen Ostens entspricht. Die nach der treuhänderischen Zerschlagung großindustrieller Strukturen und kompetenter Einschätzung irgendwo zwischen zwei Dritteln und drei Vierteln des Westens stagniert.
Die Fußball-Oberliga der DDR zeichnete eine Besonderheit aus: Abgesehen von der systematischen Aufrüstung des BFC Dynamo gab es kaum Vereinswechsel von Spielern. Unter den wenigen Ausnahmen ist mir selbstverständlich der Wechsel des einstigen Rostocker Goalgetters Achim Streich aus der Hansa-Kogge nach Magdeburg in besonders guter Erinnerung geblieben. Dennoch hätte EA-Sports mit seinen jährlichen FIFA20XX-Updates für die Spielkonsolen unter diesen Vorzeichen kein Geld verdienen können.
Dem Frühling des DDR-Fußballs folgte sein Sommermärchen: Die DDR-Nationalmannschaft war mehr als nur dabei, als sich zwanzig Jahre nach Bern ein zweites deutsches Fußball-Wunder ereignete. Das nicht etwa der neuerliche bundesdeutsche Fußball-Weltmeistertitel 1974 im eigenen Land war. Der damals vorher schon genauso feststand wie 2006. Mit dem Unterschied, dass 1974 die Rechnung noch aufging.
Das Wunder ereignete sich vielmehr an jenem denkwürdigen Tag, als sich zum ersten und einzigen Mal offiziell die Wege der beiden deutschen Fußball-Nationalmannschaften kreuzten. Dass sich die deutschen Teams in einer gemeinsamen Vorrundengruppe trafen, war natürlich alles andere als Zufall. Die Manipulation der Auslosung war für Mielkes Truppe selbst vor 800 Millionen Fernsehzuschauern ein Kinderspiel. Das damals noch nicht einmal einer korrupten FIFA bedurfte.
Der Ausgang ist hinlänglich bekannt: An jenem legendären 22. Juni 1974 hatte der Sozialismus zwar noch nicht den Erdball im Griff. Dafür aber die zweitwichtigste Kugel der Welt. Als die DDR-Nationalelf im Hamburger Volksparkstadion die hoch favorisierten Männer um Sepp Maier, Franz Beckenbauer, Berti Vogts und Gerd Müller mit 1:0 bezwang. Der Magdeburger Jürgen Sparwasser hatte nicht nur spielentscheidend das Runde ins Eckige versenkt. Sondern im Land des Klassenfeinds einen riesigen Meilenstein für die Erfüllung der historischen Mission der Arbeiterklasse platziert.
Womit wir direkt zum nächsten Wunder kommen: dass der revolutionäre Weltprozess trotzdem in die Hose ging! Dieser interessanten Frage nahm sich nun ein amerikanisches Team von Wissenschaftlern an. Das an der Universität Harvard so lange am Wunder von Hamburg forschte, bis es die „Win-Win“-Situation entdeckte: Den kleinen, aber ideologisch wichtigen Sieg durfte die DDR in ihrem Ikarus-Bus mit nach Hause nehmen. Dem Gastgeber ebnete die Niederlage dafür maßgeblich den Weg zum zweiten Stern, den man der Nation versprochen hatte. Denn die nötigen Zwischenrunden-Siege gegen Jugoslawien, Schweden und Polen waren nur noch reine Formsache. Während dort auf die DDR das wartete, was sich auch heute noch zu einem fußballerischen Fegefeuer fügt: Brasilien, Argentinien und Holland!
Ob und wie viele Devisen im Rahmen dieser innerdeutschen Win-Win-Vereinbarung geflossen sind, wird dank tiefgründiger Aufarbeitung des Unrechtsstaates bis zum letzten Schnipsel eines Tages der Abschlussbericht zum DDR-Geschäftsbereich „Kommerzielle Koordinierung“ zeigen. Einstweilen bleibt es bei der tollen Story um Kaiser Franz, der nach der Niederlage gegen die DDR in der „Nacht von Malente“ das mannschaftliche Zepter in die Hand genommen hat.
Weil dieses Wunder von Hamburg nicht mehr zu toppen war, verzichtete das Fußball-Nationalteam der DDR auf weitere Teilnahmen an internationalen Meisterschafts-Endrunden. Bis es am 12. September 1990 in Anderlecht zu seinem letzten Länderspiel auflief. Mit einem 2:0-Auswärtssieg gegen Belgien verteidigte die DDR-Auswahl ihren Titel als „Freundschaftsspiel-Weltmeister“ bis zum Schluss.
An dem uns die Wunderkugel in Bezug auf die deutsche Geschichte einiges lehren kann. Weil es mit der DDR ähnlich ist wie mit dem Fußball. An der Spitze der heutigen Richter über den Arbeiter- und Bauern-Staat stehen die selbst ernannten Fußball-Experten. Die in den seltensten Fällen je in ein Regel- oder Taktik-Buch geschaut geschweige denn selbst mitgespielt haben. Aber trotzdem nach Abpfiff immer alles besser wissen.
Mein eigenes fußballerisches Können blieb übrigens ähnlich limitiert. Es endete in der Kreisklasse. Allerdings reichte es völlig aus, um im Sommer als Jungstar auf einer Huy-Neinstedter Schafskoppel die Mädchen aus dem nahen Ferienlager zu beeindrucken. Wenn wir Dorfjungen ein Freundschaftsspiel zwischen vier in die Wiese geschlagenen Holzpflöcken vereinbart hatten, um die arroganten Stadt-Schnösel zu demütigen.
So ähnlich wie beim gesamtdeutschen Sommermärchen des Jahres 1974. Von dem der DDR-Nationalmannschaft für die Ewigkeit auch der Titel des „Weltmeister-Bezwingers“ geblieben ist. Während sich in unseren Brüdern und Schwestern wegen der möglicherweise kommerziell koordinierten Schützenhilfe tiefe Schuldgefühle verfestigt haben. Die uns notleidenden Ostdeutschen schließlich den Beitritt in offene Arme ermöglichten. In deren herzlicher Geborgenheit wir noch heute diese unendliche Dankbarkeit spüren:
Danke, DDR! Es war wirklich nicht alles schlecht …

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