Nichts oder die Wege und Irrwege des Josef Czermak aus Wien

Nichts oder die Wege und Irrwege des Josef Czermak aus Wien

Gerhard Brenner


EUR 16,90
EUR 13,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 416
ISBN: 978-3-99131-577-3
Erscheinungsdatum: 06.03.2023
In seinem unvollendet gebliebenen Roman "Nichts" erkundet Gerhard Brenner in einem Labyrinth aus Erinnerungen das Leben des unscheinbaren, aber rätselhaften Josef Czermak aus Wien und führt uns so die Unergründlichkeit des Lebens vor Augen.
Also sei in aller Schnelligkeit gesagt, dass alles im Aufzug passierte, eigentlich, den Czermak allmorgendlich benützte, da sich die Spielzeugreparierabteilung im Dachgeschoss des stattlichen Gebäudes befand. Der Lastenaufzug des Hinterhauses stand dem Personal in der Früh zur Verfügung. Dirigiert wurde er von einem italienischen Schweizer, allerdings einem nur naturalisierten, Herrn Giulio, einem jungen Herrn, einem Burschen geradezu noch, nicht sehr viel über zwanzig und mit einer Art Kapitänsmütze, die er mit viel Esprit trug, wenn man bei der traditionellen Abneigung der Italiener den Franzosen gegenüber und umgekehrt hier, bei einem Italiener so sagen darf. Herr Giulio war nicht nur ein Mensch von nervöser Hagerkeit, der unvermutet oft mitten in einer Unterhaltung ins Pfeifen oder Singen eines Schlagers ausbrechen konnte, während der Fahrt plötzlich von seinem dreibeinigen Hocker aufspringend und schlenkernd am Ort tanzend, ja steppend, dazu mit den Fingern der rechte Hand schnippend; die Linke lag am Fahrthebel. Herr Giulio hatte Ehrgeiz. Nicht etwa, dass er unzufrieden gewesen wäre mit dem Stand und der Stelle, worauf ihn Fähigkeit und Begabung im Verein mit Schicksal gestellt hatten: Die, wenn man einstieg, rechte Seite der vier Mal zwei im Geviert messenden, von zwei vergitterten Birnen beleuchtete und mit Eisenblech beschlagene Lastenaufzugskabine, sieben bis halb fünf war die Zeit seines Wirkens, samstags bis zwei. Nein, Herr Giulio war der rechte Mann am rechten Platz, denn sein Ehrgeiz war es, ein guter, wo nicht der beste Aufzugsführer zu sein.
Der Hebel, den er zu bedienen hatte, schaltete Auf, Ab, Halten. Beim Halten bedurfte es eines ausgesprochenen Feingefühls, den Aufzugsboden mit dem Geschossniveau gleichzustellen, man vergegenwärtige sich allein nur die wechselnden Gewichtsunterschiede der transportierten Lasten, von denen die Verzögerungswerte beim Halten abhängen. Eine Toleranz plus/minus einem Zentimeter ist unter solchen Voraussetzungen schon eine Glanzleistung. Aber Herr Giulio wollte mehr. Er wollte eine mit normaler menschlicher Wahrnehmungsfähigkeit nicht mehr feststellbare Toleranz, also nahezu vollkommene Egalität zwischen Geschoss und Aufzug. Und die Egalität nicht durch Egalisieren, also durch Rucken auf oder ab nach schon stattgefundenem Halten. Das wäre Stümperei gewesen, ordinär, Aufzugführen, wie es jeder Crétin zuwege bringt. Beim Golfspiel ein Hole mit fünfzehn Schlägen. Nein. Die Kabine musste auf Anhieb sitzen, ob mit fünf, sieben, zwölf Personen, Möbeln oder Wattepaketen belegt, leer oder voll.
Das machte die Angelegenheit sportlich, ja preiswürdig, aber auch hochproblematisch. Denn betrug die Niveaudifferenz mehr als zwei, drei, höchstens fünf Millimeter, so unterbrach Herr Giulio wild gestikulierend und sich die Mütze vom Kopf reißend sein eben gepfiffenes, gesungenes, getanztes „O sole mio“ oder sprang gegebenenfalls vom Dreibein auf, schüttelte sich vor Selbstekel und fluchte italienische Flüche. Seine vor Verzweiflung wirren Blicke flackerten über den oder die Aufzugsbenützer, er warf seinen Steuerhebel herum und fuhr Gott ob seiner Stupidität anklagend ins nächste Geschoss, auf oder ab, einerlei, um den ganzen Vorgang, damit die Bedingungen echt seien, von dorther zu wiederholen. Zu Herrn Giulios Ehre sei gesagt, dass dies nicht allzu oft vorkam, dass der Aufzug auf jeden Fall beim zweiten Halten auf Anhieb saß. War’s dann gelungen, so schwang Herr Giulio mit spielerischer Eleganz die Eisentüren auf, verneigte sich zum Publikum und liebte es, dazu frohgemut zu singen: „Miei signori, perdono, pietate!“ Er wäre ein vorzüglicher Rigoletto gewesen, stimmlich, wie er zweifellos einer der vorzüglichsten unter den Aufzugsführern, der Erste, war; oder vorsichtiger gesagt Europas. Nur einmal patzte er über Gebühr, durch eine unglückliche Verkettung von Umständen.
Und gerade dieses eine Mal war für Czermak sehr misslich, ja verhängnisvoll, denn er war heut’ früh besonders knapp dran, und der Leiter der Spielzeugreparierabteilung sah recht streng auf Pünktlichkeit in der Früh. Durch die Staffelung des Publikums in sozial-hierarchischer Hinsicht – was sich in der Stockwerkszugehörigkeit ausdrückte – und der Nicht-Egalität in zwei Stockwerken hintereinander – erster Stock, Direktionsgeschoss, retour Parterre, wo durch unglückseliges Zusteigen zweier Passagiere eine Niveaudifferenz nicht als reversiermäßig gleichgültig anerkannt werden konnte, sondern gleichfalls als Arbeitsversagen zu klassifizieren war: Daraus ergab sich, dass die Kabine auf einmal im Keller gelandet war. So unsicher wie heute, gleichzeitig so erregt hatte Herrn Giulio noch niemand gesehen. Schließlich heiratete er heute nachmittags, hatte sich aber nicht den ganzen Tag freinehmen wollen, damit seine Firma nicht einer pfuscherischen Ablöse ausgesetzt sei. Kurz und gut, wer weiß, was heut' noch alles mit dem Aufzug passieren konnte. Der Herr, der dem ersten Stock zugehörte, stieg aus. Empört. Direktoriumsmitglied. Zehn Minuten später allerdings lachte dieser Herr selber beim Erzählen der Anekdote, und so fiel Herr Giulio wieder unter die Toleranzgrenze. – Jedenfalls, als jener Herr ausstieg, schloss sich Czermak, der noch mehr Verspätung fürchtete, an, und beide strebten dem Personenaufzug zu. An sich zwar dem Personal untersagt, da er dem Publikum vorbehalten war.
Dieses Aussteigen im Keller zeitigte nun neben den hinter der inzwischen geschlossenen Eisentür verhallenden Verzweiflungsrufen des Herrn Giulio einen umso gegenwärtigeren Zornesaufschrei des Herrn Lodovico, ebenfalls italienischer Schweizer, dem es ganz gleichgültig war, dass er ein Direktoriumsmitglied samt dessen Aszendenten und Deszendenten verfluchte.
Herr Lodovico war das Faktotum des Kellers, der Kellerhalle hier eigentlich, die als Pack-, Lade- und Expedithalle diente, in der die ausgehenden Waren verpackt, verladen und expediert wurden. Das machte im Lauf eines Tages natürlich viel Schmutz, und Herr Lodovico, der Kehrer, kehrte. Zu dem Behuf streute er allmorgendlich feuchte Sägespäne auf – ein Kübel Sägespäne, zwei Tassen Wasser, am Vortag präpariert, das war Herrn Lodovicos Geheimrezept – und gab sodann das Zeichen der Erstarrung. Das heißt, auf seinen heiseren Schrei „Bricconi, Birbanti! Fermi tutti! Niun si muova!“, auf das hatte bei sonstiger Verfluchung des Erstarrungsbrechers samt Aszendenz und Deszendenz alles Geschehen im Keller möglichst zu unterbleiben. Reine Ladetätigkeit auf den Lastautos oder das Packen seitens der Packerinnen wurde gerade noch geduldet. Nach einer Käsebrotlänge, wobei während des Verzehrs die Augen scharf jede Bewegung in der Halle überwachten, nachdem die Sägespäne also gewirkt hatten, griff Herr Lodovico zum Besen und schritt, ihn künstlerisch herumwirbelnd in der Art wie die chinesischen Speertänzer ihre Speernummer absolvieren, an die Arbeit. Besser gesagt an das Werk.
Herrn Lodovicos Aufschrei bei des Direktoriumsmitgliedes und Czermaks Aussteigen aus dem Aufzug hatte zwar nicht „Noli turbare circulos meos“ gelautet, doch wäre dieses Zitat angemessen gewesen, denn Herr Lodovico hatte eine einzigartige Methode entwickelt, den brutalen Vorgang des Schmutzfegens zu einem Kunstwerk zu adeln. Er fing nicht blindwütig und stupide zu kehren an, sondern ging nach tiefempfundenem Gefühl und strengem wie weisem Kanon vor. Am Montag, dem mürrischen Tag der Arbeitsunlust, kehrte Herr Lodovico oft in Zackenlinien, meistens aber gleich, ohne sich ein Blatt vor den Mund zu nehmen und seine Meinung zu verhehlen, viereckig. Entweder in der Mitte beginnend, nach außen zu jeweils um eine Besenbreite weiter schreitend, oder, an besonders argen Montagen, umgekehrt, außen beginnend, nach innen zu schreitend. Dienstag, Tag der Fassung. Spirale von außen nach innen. Mittwoch, Tag der Erhebung, Spirale von innen nach außen. Der Tag der Auflehnung, der Donnerstag, stand im Zeichen des Gitters: zuerst eine Besenbreite Längsstreifen, eine Besenbreite Spänebelassung und so fort. Hierauf ebenso Querstreifen. Zuletzt wurden die stehengebliebenen Quadrate dieses expressiven, ja schier expressionistischen, abstrakten Stimmungsrasters der Längsrichtung des Kellers nach zusammengekehrt. Freitag, Tag der Hoffnung: Harmonische Wellen umgeben von friedlich ineinander liegenden Ellipsen. Und am Befreiungstag, dem Samstag, wurde die große Blume gestaltet, fiel der Samstag mit dem Urlaubsbeginn zusammen, kam die bacchantische Girlande hinzu. Diese Kunsttradition wurde schon seit Jahren eingehalten, Herr Lodovico war ein Künstler, der sein Mäntelchen nicht nach einer gerade herrschenden Mode hängte. Im Abgehen wirbelte er strahlend seinen Besen, wenn der Chor der Packerinnen ihn akklamierte, und er neigte sich leicht in Richtung des Applauses: „Bravo, Lodovico!“ oder: „Che bellezza!“ Nur der finsterstolze Spaniole, wie ihn Herrn Lodovico verächtlich nannte, blickte verächtlich aus seinem Papierzusammenstampfraum auf den die etwa zehn Mal dreißig Meter im Geviert messende Kellerhalle durchschreitenden Italiener heraus und zuckte die Achseln. Verächtlich spuckte Herr Lodovico auf den frischgekehrten Boden. Verächtlich spuckte Herr Zaragoza oder Zamazallo oder wie er hieß in die Papierpresse. Beiden stand es sich nicht dafür.
Und nun waren während der Käsebrotlänge das Direktoriumsmitglied und Czermak Herrn Lodovico in die große Blume gestiegen, ekle Stapfen zurücklassend. Derbste italienische Verfluchungen, wie gesagt, Aszendenten und Deszendenten inkludierend. Auch darüber schmunzelte das Direktoriumsmitglied später, im Moment aber ergriff er Czermak instinktiv am Oberarm, sagte „Kommen Sie“ und zog ihn mit sich. Dabei erregte er sich über die Eigenwilligkeit und Idiotien dieser sozial Niedriggestellten, deren Frechheiten und Exzesse immer mehr und mehr überhandnähmen. So ging es an den Packerinnen vorbei, die heimlich über das alles lachten, mit Ausnahme der Vorarbeiterin, die mit großen, gleichsam hieratischen Gesten ihre Pakete packte oder das Ankommende mit salbungsvoller Gebärde an die übrigen Packerinnen verteilte. Sie ließ sich nicht beirren, Ernst stand in ihrem Gesicht geschrieben. Alle die Packerinnen waren um einen großen Tisch herum platziert, dessen Schmalseite an die Wand anschloss, aus der die Mündung jener eisenbeschlagenen Rutsche kam, welche das ganze Haus von oben bis hierher durchwendelte. In jedem Stockwerk befand sich eine Schiebetür, in Kniehöhe etwa, in welche man kofferartige Pressspanbehältnisse einschieben konnte, die dann mitsamt den ihnen anvertrauten Versandgütern polternd den finsteren Eisenwendel hinabschossen. Um eben hier zu landen, wo die Güter entladen, verpackt, mit den beigegebenen Adressen versehen, geladen und expediert wurden. Eine Hübsche stand dabei, recht jung noch, anmutiges Gesicht mit rosa Backen, rundlich, sauberer Kittel, hellblondes Haar einfach geschnitten. Auch diese Junge lachte nicht, sie schaute neugierig auf die beiden vorbeiziehenden Herren, von denen der eine, der Ältere, im Reden herumfuchtelte, der andere, der Jüngere, mit verschlafener Neugier herübergaffte.
Hernach, im Personenaufzug, entschuldigte sich das Direktoriumsmitglied bei Czermak für seine spontane Reaktion. „Ich habe Sie instinktiv mitgezogen. Man soll das Ganze gar nicht ernst nehmen. Es ist lächerlich. Wo arbeiten Sie denn?“ Als Czermak die Frage höflich beantwortet hatte, sagte der Herr, schon im Aussteigen: „Kommen Sie einmal zu mir. Um zehne ist Kaffee. Wölfi, Zimmer achtzehn. Aber sicher. Sie sind ein Lustiger.“
„Eine solche Einladung müssen Sie unbedingt aufgreifen“, sagte ein Herr in grauem Anzug, der mit Czermak in der Kabine verblieben war. „Herr Wölfi ist ein wichtiger Mann im Haus, und er meint es wirklich. Wenn ich mich vorstellen darf: Spatzir. Ja, das ist mein Name.“ Czermak revanchierte sich mit dem seinen. „Mit TZ“, fuhr Herr Spatzir fort. Und Czermak parierte mit seinem CZ. „Aber hinten schreibe ich mich einfach mit I, ohne Dehnungs-e.“ Das konnte Czermak mit seinem K, ohne CK, begleichen.
„Sie müssen wissen“, sagte der andere Herr, „ich bin der Detektiv, ich sollte direkt eifersüchtig auf Sie sein, mich hat der Wölfi noch nicht eingeladen. Sie sind neu bei uns.“
„Ja.“
„Schweizer?“
„Nein.“ Czermak legte Bedauern in sein Mienenspiel.
„Österreicher?“
„Ja.“
„Aber das macht ja nichts.“ Herr Spatzir lächelte freundlich.
„Sie sind Wiener. Ist das richtig?“
„Ja.“
„Ich habe mir es gleich gedacht. Sie haben sich nämlich durch Ihren Akzent verraten. Wie lang schon, haben Sie gesagt, sind Sie bei uns?“
„Zwei Monate.“
„Sie haben es noch nicht gesagt. Wir haben nur gesprochen, dass Sie neu bei uns sind. Ja, bei mit heißt es aufpassen. Das ist mein Geschäft. Sie bleiben nur den Winter hier.“
Czermak, ein wenig verwirrt, erwiderte, dass er für immer hierzubleiben beabsichtige.
„Sie müssen nicht verlegen werden. Mir können Sie ruhig sagen, wenn Sie bald wieder weggehen wollen.“
„Nein.“
„Aber Sie wollen sich nicht sesshaft machen in der Schweiz.“
Czermak meinte, dass er das schon gern wolle.
„Dann sind Sie nicht so unsicher. Ich habe mir ja gleich gedacht, dass Sie sich hier ansiedeln wollen, darum habe ich Sie gefragt.“ Herr Spatzir lächelte geheimnisvoll in sich hinein. „Obwohl Sie nicht ausschauen wie ein Sesshafter. Ist das richtig? Ein Sesshafter wäre nämlich schon in Wien geblieben. Aber das ist privat. Also, ich muss jetzt aussteigen, ich habe Inspektion im Dachraum und auf den Terrassen, aber die letzten zwei Stockwerke gehe ich zu Fuß. Wenn Sie wollen, kommen Sie einmal mit mir. Ich werde Sie einfach verhaften.“ Herr Spatzir lachte. „Aber im Ernst, ich kenne Ihren Chef. Rufen Sie mich an, Klappe 74, ja? Ab halb neun. In der Früh habe ich immer Inspektion. Vielleicht kann ich Ihnen lustige Sachen zeigen.“ Er zwinkerte. „Aber ich muss wirklich aussteigen, wir besetzen schon so lang den Aufzug. Sie kommen also.“
„Gern“, sagte Czermak.
„Sie können mir auch manchmal etwas helfen.“
Czermak sagte: „Gern. Selbstverständlich.“
„Also!“
Und Czermak fuhr weiter, stieg aus. Seufzte in Gedanken. Es war fast schon zu viel für einen Tag gewesen. Und so verkroch er sich in eine kleine Spielzeuglokomotive, indem er sie – was an sich gar nicht notwendig gewesen wäre, da nur die Graphitkollektoren zu ersetzen gewesen wären – gänzlich zerlegte. Gottlob war der Chef gnädig gewesen, so musste man den Kohlenanhänger nicht auch noch zerlegen. Czermak hatte sich darauf ausgeredet, von Herrn Spatzir, den er, der Chef, ja kenne, aufgehalten worden zu sein. „Ist gut, aber gern seh ich das nicht“, hatte der Chef gesagt. „Ja, natürlich“, hatte Czermak gesagt. Er zerlegte also und überlegte, ob man dem kleinen Crétin, dem diese Lokomotive gehörte, nicht etwas einbauen könne, was nach, sagen wir, drei Wochen wirksam würde. Dass die Lokomotive dann, sagen wir, im Walzertakt über die Geleise ruckte. Oder, sagen wir, nach vier Monaten Wasser zu lassen begänne. Allerdings Unmengen. Wie aber die unterbringen? Leider. Ein sich zersetzender Pfropfen. Ein Stück Kampfer vielleicht, der das Ventil fixiert. Naphthalin. Überhaupt: Gas? Schwefelwasserstoff. Überhaupt Fäulnisgase. Kann man Fäulnisgase verflüssigen und in kleine Behälter füllen? Aber die Lokomotiven dürfen nicht selbst stinken, das heißt, es müssen die Tröpfchen Flüssiggases durch eine kleine Pipe auf den Boden oder sonstigen Unterbau tropfen. Damit die kleinen Crétins und ihre vertrottelten Eltern nicht wüssten, was stinke. Dazu eine mechanische Regelung, die nur von Zeit zu Zeit einen Tropfen austreten lässt. Ein kleines Zählwerk von, sagen wir, einem alten Magnetophon umbauen. Die Hunderterstellen geben den Austritt frei. Die erste Freigabe erst an einer Tausenderstelle. Das müsste gehen und auch genügenden Zeitabstand zur Reparatur ergeben. Denn es muss alles unverdächtig sein. Diese kleinen Crétins haben ohnedies keine Geduld zum Eisenbahnspielen, nach, sagen wir, zwei Stunden wird ihnen fad. Davon fährt die eine Lokomotive vielleicht eine Stunde. Ein Kind hat mindestens zwei Lokomotiven, eine billige und eine teure. Dreimal die Woche spielt es. Drei Stunden pro Lokomotive. Und eine vierte für die kretinösen Freunde am Sonntag. Vier Stunden. Eine Stunde Reserve: Fünf Stunden. Bei genügender Untersetzung müssten, legt man den Zählwerkstransport beim Magentophon zugrunde, 600 für eine Stunde ausreichen. Zehn Stunden: 6.000. Dann setzt der Mechanismus ein, der erste Tropfen fällt. Stinkt. Jetzt geht es weiter. Eine Zehn entspricht nach der einfachen Rechnung einer Minute. Also sagen wir: Nach jedem Hunderter ein Tropfen. Alle zehn Minuten reiner Laufzeit. Fünf Stunden Laufzeit die Woche, sechstausend sind zehn Stunden. Das ergibt etwa zwei Wochen, nach denen die Lokomotive alle zehn Minuten einen Schwefelwasserstofftropfen absetzt. Das müsste zum kontinuierlichen Stinken gerade recht sein, solange der Vorrat reicht. Na gut.
„Monsieur Garguely“, sagte Czermak leise.
Nichts rührte sich, man hörte nur leises Gurren.
„Monsieur Garguely“, wiederholte Czermak leise.
„Eh“, sagte Monsieur Garguely. „Que voulez-vous?“
„Ich bitt’ Sie“, sagte Czermak, „reden S’ deutsch, Sie tun Ihnen damit leichter wie ich mit Ihrer ekelhaften Sprach’.“ Er übertrieb seinen österreichischen Einschlag.
Herr Garguely blieb desungeachtet ernst. „Comme vous voulez“, sagte er. „Das heißt“, setzte er in schweizerisch gefärbtem geläufigem Deutsch fort: „auf Deutsch: Wie Sie wollen. Also was wollen Sie?“
Monsieur Garguely war Czermaks Kollege. Eigentlich Bildhauer, verdiente aber, zumindest vorläufig, noch nicht hinlänglich mit seinen Werken, und so arbeitete er hier fürs tägliche Brot. Fluchend. En français, aber auch auf Deutsch, Englisch, Italienisch. Eins nur tröstete Monsieur Garguely ein wenig über die Bitternis hinweg, und das war, dass er hier vieles in Wahrung seiner privaten Interessen erledigen konnte, wie ihm in der Spielwarenabteilung Lötzeug, Elektrobohrer, Drehbank, Gewindeschneider, Punktschweißer, Nahtschweißer und dergleichen zur Verfügung standen. Denn Monsieur Garguely war eigentlich kein Bildhauer im engeren Sinn, sondern, im weiteren Sinn genauer gesagt, ein Skulpteur. Ein Faktor. Schlechthin ein Faber.
Im Augenblick verfolgte er gerade konsequent seine Idee einer völlig neuen Kunstrichtung, die nicht nur Plastik und Musik revolutionierte, sondern auch völlig neue sensorische Voraussetzungen der Ästhetik schuf. Außerdem trug sie den Bedürfnissen des modernen Menschen, seiner von ihm geformten Gesellschaft, seinen und ihren psychischen Gegebenheiten Rechnung. Es war, wie er es nannte, die Kunst der Autotortur, und ihr Instrument waren die von ihm ersonnenen und penibel ausgeführten Selbstquälapparate.
Etwa ein Nasenstecher. Der Kunstfreund setzt einen aus Bändern, Drähten, Riemen und Schlaufen bestehenden Helm auf und schaltet mit dem in seiner Hand liegenden Selektionsschalter das Instrument an. Von oben klappt nun ein individuell justierter Hebel vors Gesicht, zwei aus diesem ragenden Ausleger befinden sich genau unter den Nasenlöchern. Auf diesen Auslegern rotieren mit etwa dreitausend Touren zwei Metallachsen, deren Spitzen aus feinem Karborund bestehen, sie bewegen sich langsam auf und ab, in die Nasenlöcher ein- und ausfahrend, die Schleimhäute schleifend. Ein kleiner Bausch reinigt die Karborundspitzen nach jeder Ausfahrt. Der Vorgang ist regelbar, sowohl die Geschwindigkeit des Hebens und Senkens der Stechachsen, als auch die Einfahrhöhe in die Nasenlöcher. Schon nach kurzer Übungszeit wird das Instrument virtuos beherrscht und spielt eine ganze Skala von Selbstqual ab. Nach etwa zweistündiger Betriebsdauer sind die Batterien des Antriebsmotors auszuwechseln, ansonsten läuft das Werk auf selbstschmierenden Graphitlagern völlig wartungsfrei. Es gibt dazu auswechselbare Gästeachsen.
Der Ohrenschriller. Als Kleinausführung für Solisten eine Haube mit Kopfhörern, in denen ein Frequenzgenerator einen regelbaren Ton erzeugt. Vom hochfrequenten Pfeifen mit niedrigerem Pegel bis zu sehr hohem Pegel, aber auch niederfrequentes Summen mit niedrigem Pegel bis zu hochpegeligem Wummern. Dieses besonders gelungene Werk hat einen Bereich von dreißig bis sechzehntausend Hertz. Die Tisch- oder Konsolenausführung ist hauptsächlich für gemeinsamen Kunstgenuss in Gesellschaft gedacht, wofür ein riesiger alter Grammophontrichter in Verbindung mit einem dynamischen Lautsprecher sorgt. Fünf Regelmanuale, von fünf Liebhabern unabhängig voneinander oder in quintettmäßigem Zusammenwirken gespielt, ergeben die verschiedensten Kombinationen aus dem Zwanzigwattlautsprecher. Wenn man die gemeinsame Selbstqual nicht vorzog, konnte man sich dem Werk in stiller, besinnlicher Stunde auch einsam hingeben. Der Ohrenschriller ging übrigens bereits auf eine Anregung Czermaks zurück.
5 Sterne
Einfach Genial - 22.03.2023
Bojan Schnabl

Einfach genial, eine Entdeckung! Liebevoller literarischer Dadaismus voller Wortschöpfungskraft in wechselvollen Episoden, wo keine Episode und kein Satz so enden, wie es man erwarten würde. Als Qualtinger und die Wiener Schule des fantastischen Realismus das Wien ihrer Zeit spiegelten, schuf der Autor Gerhard Brenner seine Welt wie ein Skurilitäten- und Spiegelkabinett des Wiener Praters und der einstigen Vorstätte und ihrer Bewohner*innen. Ein sprachliches Meisterwerk seiner Zeit, das den Leser und die Leserin in den Bann zieht und nicht mehr loslässt. Super lesenswert! Love it!!!!

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