Katharina – Zwischen Kilos und Klettern

Katharina – Zwischen Kilos und Klettern

Ina Tamago


EUR 17,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 110
ISBN: 978-3-99146-530-0
Erscheinungsdatum: 03.01.2024
Damit Katharina rechtzeitig zum nächsten Sommer wieder mit ihrem Onkel klettern gehen kann, stellt sie sich wöchentlichen Aufgaben, um Gewicht zu verlieren. Das stellt ihr Leben gehörig auf den Kopf. Mit viel Humor trotzt sie allen Herausforderungen.
I

Ich hätte wissen müssen, dass heute einer dieser besonders beschissenen Tage wird, als ich vor dem Schild stand. „Aufzug wird gewartet.“ Eigentlich würde ich in dieser Situation auf den zweiten Aufzug warten, der warum auch immer gerade beharrlich in der zwölften Etage steckte. Aber dann läuft Emma aus der Buchhaltung, die so schlank ist wie die Ziffern, die sie in ihre kleinkarierten Kästchen schreibt, an mir vorbei, in ihren neuesten Yoga-Klamotten natürlich und wirft mir einen derart mitleidigen Blick zu, dass mir ganz übel wird. Und dann tippelt die ganz elegant mit ihrem schmalen Arsch die Treppe hinauf in ihr Büro im zehnten Stock. Also, bis zum zehnten sehe ich sie natürlich nicht. Aber dieser mühelose Aufstieg bis zum ersten Treppenabsatz ist genau der Grund, warum ich mir denke, wenn die das bis zum zehnten Stock schafft, krieg ich ja wohl mein Büro im vierten hin und stürme ihr hinterher. In Gedanken. Ehrlicherweise lässt mein Tempo nach, sobald ich außer Sicht des Foyers bin. Und im zweiten Stock spiele ich kurz mit dem Gedanken, ein Sauerstoffzelt bei Amazon zu ordern. Ab da quäle ich mich irgendwie Stufe um Stufe nach oben, immer meine Cola light vor Augen, die in der Personalküche auf mich wartet. Als ich schließlich nach hartem Kampf im vierten Stock ankomme, würde ich das Sauerstoffzelt gerne gegen ein Handtuch eintauschen … oder eine Dusche, wobei … Conny und Sabrina aus der Werbeabteilung biegen gerade in den Gang vorm Treppenhaus ein, also Rücken gerade, Kopf hoch, Haltung.
„Alles in Ordnung mit dir?“, fragt mich Sabrina natürlich prompt, wobei sie mich von oben bis unten mustert, als wüsste sie, dass ich gestern Abend doch noch das Stück Kuchen aus dem Kühlschrank genascht habe und würde jetzt dessen Verbleib analysieren.
„Ja“, antworte ich und versuche, dabei nicht zu röcheln wie Darth Vader im Raucherzimmer. Für Conny und Sabrina scheint es zu reichen, denn die beiden setzen ihren Weg durch den Gang ungebremst fort. Gut. Ich sacke ein bisschen in mich zusammen. Für die ganzen zwei Sekunden, die ich brauche, um daran zu denken, dass mich die Treppenaktion deutlich zu viel kostbare Zeit gekostet hat. Also gehe ich nicht in mein Büro, fahre nicht meinen Computer hoch, sondern ziehe sofort in die Personalküche, um meinem Chef den Kaffee genau so zu kochen, wie er ihn mag. Und mir endlich die verdiente Cola light zu gönnen.

Zum Glück ist gerade Sommer, da fällt es nicht so auf, dass ich noch schnell meine Handtasche neben den Schreibtisch fallen lasse, bevor ich die Tür zwischen unseren Zimmern mit dem frisch gebrühten Kaffee in der Hand öffne und ihn mit einem „Guten Morgen, Chef!“ anlächele. Das Lächeln fällt mir nicht schwer, denn mein Chef gehört beneidenswerterweise zu der Gruppe Menschen, die einfach gut aussieht, genau die richtige Figur hat … und das mit der entsprechend geschneiderten Garderobe auch noch betont. Außerdem ist er ein ganz akzeptabler Chef. Meistens. Heute folgt auf sein „Da sind Sie ja! Guten Morgen!“ eine ganze Liste von Aufträgen, die meinen Vormittag ziemlich gut füllen wird. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass manch einer sich alles hätte aufschreiben müssen, um nichts zu vergessen. Aber wofür bin ich denn erfahrene Sekretärin!
Bis ich Licht am Ende der Aufträge sehe, wird es Mittag. Gerade als der letzte Vormittagskunde mein Vorzimmerbüro durchquert und ich mir schon ausmale, was es zum Mittagessen geben könnte, steht mein Chef plötzlich mit einem Stapel Papiere vor mir.
„Können Sie mir die noch durchsehen, ich brauche Bennos Abrechnung von letzter Woche und die Kostenvoranschläge für die Sommerfeier!“
Benno ist unser Hausmeister … und ein bisschen Mädchen für alles. Bevor ich meinem Chef antworten kann, dass die Rechnung schon älter sein müsste – und warum er überhaupt die ganzen Rechnungen so zusammengeworfen hat –, hat er sich schon seinem Kunden zugewandt und schüttelt ihm die Hand, als probe er schon mal für den nächsten Präsidentenbesuch. Nicht, dass ich ihm tatsächlich so antworten würde. Also seufze ich einmal tief und suche mir mein Mittagessen aus meiner Geheimschublade im Schreibtisch. Ein paar Chips und Schokolade lächeln mir aus der Tiefe der Schublade entgegen. Und ich lächle zurück.

Wenigstens ist heute Mittwoch. Ich fahre nach einem verspäteten Feierabend zu meiner Mutter. Normalerweise würden wir gemeinsam kochen, aber da ich noch einen Stapel Papiere durchwühlen durfte, hat sie schon angefangen, als ich die Wohnung betrete. Aus der Küche duftet es herrlich. Schmorbraten, Klöße und Kraut übersetzt mein Magen. Oder besser gesagt das schwarze Loch an seiner Stelle. Meine Mutter kommt aus der Küche, um mich zu begrüßen. „Da bist du ja!“, ruft sie freudig und breitet die Arme aus. Das sind Arme, in denen ich mich wohlfühle, vielleicht auch ein bisschen, weil ich mich darin noch klein und geborgen fühlen kann. Meine Mutter ist einen Kopf größer als ich und ein klarer Beweis für die genetische Vererbung von den Fettpölsterchen, die im Laufe meines Lebens auf meinen Hüften angekommen sind. Da brauche ich bei der Umarmung keine Angst zu haben, mich an Knochen zu stoßen. „Ach, Katharina, wie schön, dass du es rechtzeitig geschafft hast. Gut schaust du aus. Aber wahrscheinlich hast du heute wieder noch nichts zu essen bekommen. Ich kenne doch deinen Chef, diesen Sklaventreiber! Na, macht nichts! Mama kriegt das wieder hin.“ Damit läuft sie zurück in die Küche und zum Braten. „Rotwein?“, wirft sie im Gehen noch über die Schulter zurück.
„Ja, gern“, antworte ich und werfe meine Tasche über einen Garderobenhaken. „Wie war dein Arzttermin?“
Zuerst kommt nur etwas Unverständliches aus der Küche. Ich versuche noch zu enträtseln, ob das bedeutet, dass sie ihren Hausarzt für einen Quacksalber hält (wie die letzten Jahre auch schon) oder ob die Antwort vom Soßeabschmecken unterbrochen wurde (was wichtiger ist als jede Antwort), als es an der Tür hinter mir klingelt. Das ist ungewöhnlich, denn normalerweise ist Mittwoch Familienabend.
„Ach, das übliche Palaver“, grummelt es halblaut aus der Küche, „ich sollte abnehmen, die Knie, die Blutfette, der Bluthochdruck … Oh, und er hat ein neues Thema: Ich würde Zucker nicht mehr gut vertragen. Aber das würde ich ja wohl zuerst merken! Egal! Mach ruhig die Tür auf, das ist meine Überraschung heute: Ich habe Onkel Herrmann eingeladen. Für den hat ja schon lange keiner mehr gekocht, der fällt bald vom Fleisch!“

Das ist tatsächlich eine Überraschung, denn als meine Tante noch gelebt hat, hat man Onkel Herrmann kaum zu Gesicht bekommen. Er ist wohl das, was man einen „Un-Ruheständler“ nennt. Oder zumindest war er es. Wenn wir bei meiner Tante eingeladen waren, saß er kurz mit am Tisch – der Höflichkeit wegen –, aber nach dem ersten Stück Kuchen sprang er normalerweise auf und tat die unterschiedlichsten Dinge. Wenn wir im Garten waren, kümmerte er sich um die Gartenarbeit, wenn wir zu Hause bei meiner Tante waren, verließ er irgendwann die Wohnung, meistens mit seiner Sporttasche. Als ich älter wurde, fragte ich mich, ob die beiden überhaupt eine Beziehung hatten oder ob die nur funktionierte, wenn sie sich nicht sahen.
Vor zwei Jahren dann, als meine Tante gestorben ist, blieb mir im Gedächtnis, wie er als Letzter an ihrem Grab stand und weinte. Ein großer, drahtiger Mann, den ich immer nur mit einem Grinsen im Gesicht kannte, brach in die Knie und gab sich keine Mühe, seine Tränen zu verbergen. Meine Mutter hatte damals gemeint, es geschehe ihm ganz recht, wenn er nie zu Hause gewesen wäre, dass er nun merke, was ihm fehle. Aber in den nächsten Wochen verbrachte er viel Zeit in seinem Zuhause und das tat ihm nicht gut. Ich hatte ihn ein- oder zweimal besucht und da war er nur ein Häufchen Elend. Wir hatten kurz gesprochen, aber es tat mir nicht gut, den sonst grinsenden Onkel Herrmann so traurig zu sehen. Immerhin, als ich in der nächsten Woche bei ihm vorbeischauen wollte, war er nicht da. Kurz darauf schickte mir ein neuer Kontakt auf WhatsApp die Nachricht, dass er jetzt ein Smartphone besitze und er wieder vor die Tür gehe. Liebe Grüße, Herrmann.
Seitdem hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Insofern ist mir nicht klar, welchen der beiden Herrmanns ich vor der Tür finden werde.

Der Mann vor der Tür lächelt, als er mich sieht. Die Falten sind ein bisschen tiefer geworden, aber das macht ihn nur irgendwie interessanter … erfahrener. Er steht aufrecht vor mir und breitet die Arme aus, um mich zu begrüßen. Ist sein Kreuz breiter geworden? Auf den ersten Blick würde ich ja Mutter Recht geben, dass er niemanden hat, der für ihn kocht. Aber er wirkt weder krank noch zusammengefallen wie bei meinem letzten Besuch; im Gegenteil: Er wirkt energiegeladen und die Umarmung fällt eher kräftig aus. (Kurzes Luftschnappen!) Ich bin mir nicht sicher, ob mein Chef ein Händedruck-Duell gewinnen würde. Das gefällt mir deutlich besser als mein letztes Bild von ihm.
„Hallo, meine Lieblingsnichte!“, schmunzelt er, als wir uns voneinander lösen. Diese Lieblingsposition ist nicht schwer zu verteidigen, ich bin seine einzige Nichte. Also grinse ich zurück. „Hallo, Onkel Herrmann! Gut schaust du aus.“
„Wollt ihr beiden da draußen verhungern? Oder schafft ihr es noch bis zu mir in die Küche?“, macht meine Mutter sich auch schon bemerkbar. Jap, die Geduld habe ich von ihr geerbt.

Das Essen verläuft angenehm harmonisch. Gefräßige Stille pflegt meine Mutter immer zu sagen, wenn alle zugreifen und erst mal keiner spricht, weil alle in das Essen vertieft sind. Mit dem Rotwein kommt noch ein genussvolles Schlürfen hinzu. Onkel Herrmann lobt den Braten – und meine Mutter lobt Onkel Herrmann, weil er herzhaft zugreift. Natürlich kann sie sich eine weitere Anmerkung nicht verkneifen. „Du hast ja sonst niemanden, der für dich kocht, so wie du aussiehst.“
„Na ja“, räuspert er sich leicht, „ich koche jetzt häufiger selbst.“
„Oh je, das scheint dir aber ganz und gar nicht zu gelingen. Willst du nicht häufiger hier vorbeikommen, da gibt es was Anständiges wie heute!“
Mein Onkel lächelt etwas gequält. „Das Angebot ist sehr nett, aber ich …“
Ich unterbreche ihn, bevor er sich mit dem „aber“ um Kopf und Hausfrieden redet: „Was machst du denn jetzt so in deinem Ruhestand?“ Mutter hatte schon gefährlich die Augenbrauen in die Höhe gefahren.
Jetzt entspannt sich Onkel Herrmann wieder: „Also, ich hab den Garten auf Vordermann gebracht. Da gab es einiges zu tun, weil ich mich ja eine Zeit lang nicht darum gekümmert habe. Dann hab ich viel gelesen … über bestimmte Themen und viel nachgedacht. Und dann hab ich mich wieder bei meinem alten Verein angemeldet. Weißt du noch, Katharina, wie wir klettern waren, als du noch klein warst?“
Oh ja, ich habe sehr viele schöne Erinnerungen, wie mein Onkel mit mir, meinem gefüllten Rucksack und ein oder zwei Kletterkumpanen bei schönem Wetter an den ein oder anderen Felsen gefahren ist. Das Wetter war toll, das Klettern machte Spaß und wenn ich zu müde war, um noch einmal den Fels zu besteigen, gesellte sich einer der Erwachsenen zu mir und wir spielten Karten oder picknickten ausgedehnt. Ich nicke lächelnd. Zugegeben hatte ich damals deutlich weniger Kilos auf den Rippen.
Meine Mutter findet sein Hobby anscheinend weniger schön: „In deinem Alter! Schäm dich, so einen Unfug zu betreiben! Wenn du dir was brichst, wer soll dich denn vom Fels wegkarren? Oder hinterher versorgen? Hast du da mal drüber nachgedacht? Du bist doch nicht mehr der Jüngste!“
Onkel Herrmann bleibt bewundernswert gelassen. Vielleicht liegt es daran, dass er mit der Schwester dieser im Moment sehr lautstarken Sirene verheiratet war. Er schiebt den Teller ein Stück von sich, überkreuzt die Unterarme auf dem Tisch und lehnt sich zu meiner Mutter. „Und was soll ich deiner Meinung nach stattdessen tun? Mich solang vollfressen, bis ich mich nicht mehr bewegen kann?“
Dieser Satz trifft nicht nur in der sprichwörtlichen, sondern auch in der tatsächlichen Magengrube. Während ich mich noch frage, ob er das gerade wirklich gesagt hat, nimmt das Gesicht meiner Mutter die Farbe des Rotweins an. „Ist DAS der Dank dafür, dass ich dich aus deinem verlotterten, einsamen Witwerdasein herausholen will?“
Wieder antwortet Onkel Herrmann ganz ruhig und so, als würden wir ein nettes Gespräch in Zimmerlautstärke führen: „Nein. Das ist meine Entscheidung, dir nicht mehr zu sagen, was du hören willst und dir auch das zu sagen, was du nicht hören willst. Mein Leben ist weder …“
„Wie kannst du es wagen, uns so den Familienabend zu verderben!!“ Einseitige Details des Streits bekommen die Nachbarn bis hin zum doppelten Ausrufezeichen zu hören. Nach zwei, drei schweren Atemzügen hebt meine Mutter mit sichtlicher Mühe ihren Arm und weist in Richtung der Wohnungstür. „RAUS!!!“
Onkel Herrmann nickt einmal langsam, trinkt sein Weinglas aus und steht in einer sehr flüssigen Bewegung aus dem Stuhl auf, ohne sich mit den Händen abzustützen. Das bekommen so wahrscheinlich nicht mal Conny und Sabrina hin. Als er schon fast an der Garderobe ist, versuche ich ihm das Kunststück nachzumachen, aber ich hätte auch gleich eine Kniebeuge in angeheitertem Zustand versuchen können. Bevor ich mich vor den Augen aller in einem ungraziösen Wal verwandele, nehme ich also die altbewährte Methode und folge meinem Onkel unter den wütenden Blicken meiner Mutter in den Flur. Als er sieht, dass ich ihm nachkomme, hält er inne, um sich von mir zu verabschieden. Ich versuche, ein wenig Verständnis zu stiften. „Das war nicht nett.“
„Nein“, bestätigt er, „aber ehrlich.“ Irgendjemand sollte diesem sturen Bock erklären, dass es ein taktischer Fehler ist, den zumindest halbwegs Verbündeten im Abgang noch einen Fausthieb nachzusetzen. Stattdessen fährt er unbeirrt fort. „Weißt du, warum ich dich nicht mehr mitgenommen habe an den Fels?“ Ich schüttele nur stumm den Kopf. Ich erinnere mich nur sehr dunkel an eine schon lange verdrängte Enttäuschung. „Weil deine Mutter es mir verboten hat. Ich habe nicht mit deiner Mutter und meiner Frau streiten wollen.“ Er sieht mich einmal sehr gründlich von oben nach unten an. „Aber ich habe meine Frau verloren. Und ich möchte dich nicht auf dieselbe Art verlieren, meine Lieblingsnichte.“ Ihm schimmern bei diesen Worten ein paar Tränchen in den Augenwinkeln. Bei dem Anblick erinnere ich mich wieder an den gebrochenen Mann am Grab meiner Tante und ich bringe es nicht fertig, ihm irgendetwas von den Dingen zu sagen, die ich gerade vorbereitet hatte. Also schlucke ich einmal heftig. „Tut mir leid, dass das gerade so endet. Ich hab mich gefreut, dich zu sehen.“
Er zuckt einmal mit den Schultern und nimmt mich in den Arm. „Du hast doch so ein schlaues Handy“, flüstert er mir zu. Dann entlässt er mich aus seiner Umarmung, zwinkert mir zu und verlässt die Wohnung ohne ein weiteres Wort.

Mutter sitzt immer noch am Tisch mit verschränkten Armen wie ein manifestierter Gordischer Knoten. Meistens auch mit demselben Willen, sich friedlich aufzulösen. Also greife ich zum bewährtesten Hausmittel in dieser Situation und schenke ihr reichlich Rotwein nach.
„So etwas Undankbares!“, knurrt sie vor sich hin, bevor sie einen kräftigen Schluck nimmt. Damit ist ein Teil der Verschränkung gebrochen und sie entspannt sich tatsächlich ein wenig. Wenn ich jetzt versuche, die Wogen zu glätten, wird sie sich nur noch einmal in die Szene hineinsteigern, also schweige ich einfach ein wenig und lasse das Gewitter an mir vorbeiziehen. Sie brummelt noch einige Minuten lang, doch als der Wein anschlägt und ich ihr nicht widerspreche, besinnt sie sich doch noch eines positiven Aspekts der ganzen Sache: „Aber weißt du, mein Schatz, was das für uns bedeutet?“ Ich schrecke ein wenig aus meinen eigenen Gedanken auf, doch glücklicherweise war es eine rhetorische Frage, die sie selbst beantwortet: „Mehr Nachtisch für uns!“ Und damit stemmt sie sich aus dem Stuhl hoch und hievt sich zum Kühlschrank. Ich kann mir nicht helfen, aber mir stand noch nie so deutlich vor Augen, wie unterschiedlich sich mein Onkel und meine Mutter bewegen. Und eine kleine, weinselige Stimme in meinem Kopf fragt sich, ob mein Onkel mit seinem verbalen Tiefschlag nicht richtiger liegt, als mir angenehm ist. Aber der Vorteil an weinseligen Stimmen ist ja, dass sie mit mehr Wein gelegentlich die Klappe halten. Ich wage einen Therapieversuch, während meine Mutter die Schokoladenmousse auftischt.



II

Am nächsten Morgen stelle ich fest, dass sich der Wein verzogen hat. Der Rest des gestrigen Abends allerdings nicht. Während ich die Kaffeemaschine anschalte und ins Bad taumele, frage ich mich, ob ich Onkel Herrmann schon einmal so erlebt habe … Und ehrlicherweise kann ich mich nicht erinnern. Was daran liegen mag, dass Onkel Herrmann wie gesagt nie lange an einem Fleck saß und an den Unterhaltungen meiner Mutter und meiner Tante so gut wie nie teilgenommen hat. Entweder war er unterwegs, oder – wenn der Kuchenteller noch nicht leer war –, er saß essend in der Runde. Wenn ich darüber nachdenke, hat er noch nie jemandem so widersprochen wie gestern.
Mein Badezimmerspiegel weiß keine Antwort darauf. Mein Frühstückstoast auch nicht. Die Waage zeigt trotz des doppelten Nachtisches vom Vortag die gleiche Zahl wie gestern. Puuuh! Und mein Auto begrüßt mich freudig blinkend und völlig meinungslos.
Ich denke noch darüber nach, während mir zum hundertsten Male auffällt, dass der Parkplatz unserer Firma entweder zu klein ist oder ein Leitsystem nötig hätte. Dann endlich verdrängt die intensive Parkplatzsuche meine familiären Überlegungen.
Ach ja, und der Aufzug wird immer noch gewartet. Der Chef findet kurz vor Feierabend noch eine kleine Aufgabe, die den Feierabend im Vergleich zu gestern aber nur unwesentlich aufschiebt. Zum Glück, denn heute Abend ist Mädelsabend. Im Normalfall heißt das, Nadja, Simone und ich kochen gemeinsam, trinken Wein oder Sekt und lassen uns im Laufe des Abends nach einigem Lachen und Kreischen vor dem Fernseher nieder, um die besten Folgen von „Grey’s Anatomy“ oder „Sex and the City“ zum mindestens 21. Mal anzuschauen. Es ist schon vorgekommen, dass wir am Morgen danach alle nacheinander auf der Couch aufgewacht sind und alle zu spät zur Arbeit kamen. Daher haben wir uns in weiser Voraussicht entschieden, die Abende auf den Freitag zu legen. Als ich schon dabei bin, im Supermarkt alles für einen Schinken-Nudel-Auflauf einzukaufen, fällt mir ein, dass Nadja gerade eine vegetarische Phase hat. Hmmm, dann wohl Erbsen und Möhren statt Schinken. Wobei … Kurzerhand kaufe ich genügend Nudeln für zwei Auflaufformen. Immerhin bin ICH kein Vegetarier.

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