Ein Double für die Beerdigung

Ein Double für die Beerdigung

Esther Räbsamen


EUR 11,90
EUR 7,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 170
ISBN: 978-3-99064-581-9
Erscheinungsdatum: 06.05.2019

Leseprobe:

Plan A



Wunderbar perlt der Prosecco in ihrem Glas und Klara will gerade auf ihrer Terrasse gemütlich die Abendsonne genießen, da klingelt das Telefon. Es ist Mark, er hat schlechte Neuigkeiten.
«Du glaubst es nicht, vor zehn Minuten ruft mich Alice an und ist richtig sauer.»
«Warum denn?»
«Sie meinte, die Urne stehe jetzt schon seit Tagen bei ihr und sie wolle wissen, wann wir sie endlich abholen und auf den Friedhof bringen würden.»
«Wir? Wieso sollen wir sie auf den Friedhof bringen? Sie wollte sie ja unbedingt zu Hause haben!» Klara versteht die Welt nicht mehr.
«Das habe ich auch gefragt, da hat sie mich angeschnauzt, sie habe kein Auto und wolle sicher nicht mit einem vollen Aschenbecher im Tram zum Friedhof fahren, und überhaupt dauere die Fahrt viel zu lange, sie habe Gescheiteres zu tun und müsse arbeiten.»
Klara schnappt nach Luft: «Das, das ist so etwas von frech! Ungeheuerlich! Was hast du geantwortet?»
«Na ja, ich versuchte, sie zu beruhigen, und wollte natürlich unbedingt Zeit gewinnen. Jetzt brauchen wir dringend einen funktionierenden Plan, um an die Urne zu kommen. Wenn das mit dem Austausch klappen soll, muss sie die Urne noch ein paar Tage zu Hause hüten, weil wir noch nicht so weit sind. Ich habe ihr etwas von viel Arbeit und Terminen vorgeschwafelt und dass wir so bald wie möglich vorbeikommen würden.»
«Uns bleibt wirklich nichts erspart», suhlt sich Klara einen Moment in Selbstmitleid, gewinnt aber schnell wieder ihre gewohnt anpackende Art zurück. «Fakt ist, sie will mit der Urne nicht quer durch die Stadt, ist also auf uns angewiesen. Ich denke nicht, dass sie jemand anders fragen wird, das heißt, wir bestimmen, wann die Urne ihr «Zuhause» verlässt. Der Austausch muss vor der Abgabe auf dem Friedhofsbüro geschehen, wenn sie erst in deren Obhut ist, wird es fast unmöglich, an sie ranzukommen. Oder wie siehst du das?»
Mark stimmt ihr zu: «Wir brauchen irgendeinen vernünftigen Grund, um in den Besitz zu kommen, ohne dass Alice misstrauisch wird.»
Einen Moment ist absolute Stille in der Leitung, man hört fast, wie die beiden denken. Zögerlich meldet Klara sich zu Wort: «Du-u, ich glaube, ich habe eine Lösung.»
«Da bin ich aber gespannt!»
«Alice arbeitet doch Teilzeit an einem Kiosk, oder?»
«Nicht ganz, bei der Valora AG in Muttenz, die haben das Kioskgeschäft unter sich, aber was hat das mit der Urne zu tun?», will Mark wissen.
Ausführlich setzt ihm Klara ihre Idee auseinander: «Sie hat einmal erwähnt, dass sie immer in den ungeraden Wochen Spätschicht arbeitet und dann gegen zwölf aus dem Haus muss, deshalb könne die Beerdigung nur in einer geraden Woche stattfinden. Wir rufen sie also in einer ungeraden Woche etwa um elf Uhr an und sagen, wir seien wegen eines Termins bei der Migros Bank in der Nähe. Wir kämen etwa in 10 Minuten kurz bei ihr vorbei. Sie denkt sicher, wir bringen ihr die 5’000 Franken und lässt sich sicher darauf ein. Selbstverständlich bringen wir kein Geld vorbei, aber wir klären sie kurz über den Stand der Dinge auf.»
«Und weiter?»
«Wir bieten ihr an, dass wir die Urne gleich mitnehmen und auf den Friedhof bringen können. Wetten, dass wir sie erhalten?!»
«Das könnte klappen», aus Marks Stimme ist freudige Erleichterung herauszuhören, «und für sie ist die Zeit zu knapp, als dass sie auf die Idee kommt, uns zu begleiten.»
«Genau!»


*


Es ist 11.20 Uhr, wie besprochen ruft Mark mit seinem Natel bei Alice an und erzählt ihr die vereinbarte Story über den Banktermin in der Nähe. Mit gespitzten Ohren sitzt Klara auf dem Beifahrersitz und bekommt mit, wie Alice etwas von «Einschreiben, Brief und unfähige St. Galler» jammert und trotz knapper Zeit einwilligt, dass sie «ganz kurz» vorbeikommen könnten. «Was hat Alice gesagt?», will sie es genau wissen, kaum hat Mark aufgelegt.
«Ich habe es nicht ganz begriffen, aber irgendwas, Urne oder Asche, ist irrtümlich vertauscht worden.»
«Was! Hat uns jemand die Idee geklaut?», fragt Klara entgeistert.
«Nein, es ist, glaube ich, nichts Tragisches, aber Alice wird uns gleich mehr sagen», beruhigt Mark sie und fährt los.
Unterwegs beginnt er herumzublödeln: «Stell dir vor, wie Alice ihren Couchtisch mit weißem Leinen, Kerzen und einem goldgerahmten Foto von Vater in einen Altar verwandelt hat - und mittendrin thront die Urne.» Ein breites Grinsen auf Klaras Gesicht zeigt ihm, dass seine Fantasien bei ihr angekommen sind. Jetzt dreht er erst richtig auf: «Zum Essen stellt sie ihn auf den Stuhl gegenüber oder wie ein Glas Wein vor sich auf den Tisch. Beim Frühstück liest sie ihm aus der Zeitung vor und abends bespricht sie mit ihm das TV-Programm.» Klara will nicht hinter ihrem Bruder zurückstehen und spinnt den Faden weiter: «Vielleicht nimmt sie ihn auch mit ins Bett, damit sie nicht alleine schlafen muss», und setzt noch einen oben drauf: «Sicher darf er mit zum Einkaufen. Alice hat doch diesen Einkaufstrolley auf zwei Rädern, den sie hinter sich herzieht, damit sie keine schweren Taschen tragen muss. Stell dir vor, bevor sie in der Migros an der Kasse einpacken kann, muss sie die Urne herausfischen und neben ihre Einkäufe stellen. Dort steht sie dann zwischen Gnagi, Blumenkohl und Beutelrösti. Am Schluss packt sie sie obendrauf und kriegt die Deckklappe des Trolleys nicht mehr zu.»
«Auch gut, wenn die Urne oben rausguckt, kriegt der gute Paul etwas frische Luft - auch wenn ihm eine Zigarette lieber wäre», wirft Mark ein.
«Stopp, hör auf, ich kann nicht mehr!» Klara hält sich den Bauch vor Lachen. So gut hat sie sich schon lange nicht mehr amüsiert. «Wir können doch nicht wie zwei aufgedrehte Teenager bei ihr ankommen. Bevor wir sie treffen, müssen wir wieder etwas runterkommen.» Da blitzt sie wieder durch, die vernünftige Klara, die von klein auf gewohnt ist, Verantwortung für sich und ihren Bruder zu übernehmen. Auf jeden Fall sind sie sich einig, dass man bei Alice mit allem rechnen muss.

Zackig öffnet Alice die Tür und zetert gleich los: «Ihr glaubt nicht, was die St. Galler verbockt haben! Jetzt haben die mir tatsächlich die Asche von Paul in einer falschen Urne geschickt. Es sei sicher, dass es wirklich seine Asche sei, nur die Urne sei verwechselt worden.» Dazu wedelt sie mit einem Brief vor ihren Nasen herum. «Um mir das zu sagen, schicken sie einen eingeschriebenen Brief, für den ich extra zur Post musste, um ihn abzuholen.»
«Wieso haben sie nicht angerufen, das wäre doch viel einfacher und schneller gewesen?», fragt Mark.
«Sie schreiben, dass sie es versucht, aber mich nie erreicht hätten. Herrgott noch mal, was glauben die denn, ich kann doch nicht den ganzen Tag zu Hause vertrödeln und darauf warten, ob vielleicht mal jemand anruft!»
Klara will sich Alices Gejammer nicht länger anhören: «Und jetzt, wie geht es weiter?»
«Die sagen, ich habe eine teurere Keramik-Urne erhalten, dürfe sie aber behalten oder kostenlos gegen die bestellte Staats-Ton-Urne eintauschen. Dafür soll ich das Keramikmodell eingeschrieben an sie zurücksenden. Fett gedruckt steht da ‚ohne Mehrkosten für Sie‘. Und wer bezahlt mir die Einschreibegebühren!?»
«Wieso behältst du sie nicht einfach, sieht sie so schrecklich aus?», will Klara wissen und versucht, die Urne mit einem verstohlenen Blick ins Wohnzimmer auszumachen.
«Das weiß ICH doch nicht!»
«Hä-ä?», jetzt begreift Klara gar nichts mehr.
«Das Paket ist noch nicht geöffnet, aber das können wir gleich zusammen machen. Ich hole etwas zu trinken und du, Klara, bringst es in die Stube. Es steht im Gästezimmer.»
Alice verschwindet in der Küche und Klara öffnet die Türe zum Gästezimmer, gespannt, was sie jetzt wohl antrifft. Zwei schmale Betten mit gehäkelten Überwürfen, ein alter Schrank und ein zerkratzter Schreibtisch mit Holzstuhl. Das ist alles. Kein Paket, keine Urne.
Mark ist ihr gefolgt und ruft über die Schulter zurück: «Da ist kein Paket!»
«Hinter der Türe», tönt es gedämpft aus der Küche.
Klara guckt dahinter, tatsächlich stehen da ein etwa 35?cm großes Kartonpaket und die eklige Beinprothese einträchtig nebeneinander, mit Schuh.

Originalverpackt steht das Kartonpaket auf dem Stubentisch. Unangetastet. Wie vom Postboten geliefert. Klara kann es kaum fassen. Insgeheim fragt sie sich, wieso Alice die Urne nach Hause geliefert haben wollte, wenn sie sie doch nicht auspackt.

Diese bringt Getränke aus der Küche und dazu ein Steakmesser. «Bedient euch», sagt sie, stellt die Gläser und die Wasserkaraffe auf den Tisch und macht sich mit dem überdimensionalen Messer am Paket zu schaffen.
Mit zwei schnellen Schnitten ist die Schnur durchtrennt. Sie reisst das Papier weg, klappt die Deckel auseinander und greift mit beiden Händen in die Styroporfüllung. Klara und Mark recken neugierig die Hälse, man sieht nicht jeden Tag eine Urne, und schon gar nicht jene mit Vaters Asche. Vorsichtig zieht Alice sie heraus und stellt sie neben der Schachtel auf den Tisch.

Da steht sie nun. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen, es sei eine Deckelvase oder eine zu groß geratene Zuckerdose aus Porzellan. Elfenbeinfarben mit kräftigem Goldrand und oben auf dem Deckel eine kitschige, goldene Krone.
Einen Moment herrscht absolute Stille, niemand getraut sich, etwas zu sagen, bis Alice das Schweigen bricht: «Nein, das geht nicht. Mein Päuli war ein einfacher Kerl, diese Urne passt überhaupt nicht zu ihm.»
Außer einem scheuen, halbwegs zustimmenden «Hm» verzichten die Geschwister auf jegliche Reaktion. Was wollen sie sagen? So schlimm ist sie nun auch nicht. Vielleicht eher etwas für eine Frau.
«Wenn ich das Ding auf eigene Kosten und eingeschrieben zurückschicken muss, geht das sauer verdiente Geld einer halben Überstunde drauf. Dafür will ich mein Geld nicht hergeben. Aber wisst ihr was, die vom Büro für Todesfälle und Bestattungen hier in Basel, die können das für mich übernehmen und dann können die St. Galler die richtige Urne auch gleich dorthin zurückschicken.
Das ist das ersehnte Stichwort.
«Das könnten Mark und ich doch machen, gleich jetzt», schlägt Klara vor, «dann hast du keine Umstände.»
«Kommt überhaupt nicht infrage, nach fast 20 Jahren Zusammenleben fühle ich mich verpflichtet, meinen Päuli auf seinem letzten Weg zu begleiten!»
«Aber», will Klara insistieren, doch Alice fällt ihr rüde ins Wort: «Kein Aber, und ich muss jetzt gehen, sonst komme ich zu spät zur Arbeit. „Ach, und was ist eigentlich mit meinem Geld?“ Ähm?überlegt Klara. Da fehlte noch ein Stempel oder eine Unterschrift auf einem der Dokumente, keine Ahnung, was für Prozesse die bei der Bank haben. Sie werden uns benachrichtigen, sobald das geklärt ist.

Bevor Alice sie aus der Wohnung hinauskomplimentiert, können sie zumindest noch vereinbaren, dass diese sich um einen Termin auf dem Friedhofsbüro kümmert und Klara sie mit dem kleinen Subaru hinfahren wird.
Klara und Mark stehen draußen auf dem Parkplatz vor dem Haus, Alice ist schon Richtung Tramhaltestelle davongeschlurft. Ihr Plan ist grandios gescheitert, die Enttäuschung fast mit Händen greifbar. «Langsam habe ich genug», fasst Mark ihre Stimmung zusammen, «wir müssen uns etwas überlegen, das todsicher funktioniert.»
«Und ich habe jetzt weder Lust noch eine Idee. Lass uns die nächsten Tage telefonieren.» Auch Klara hat die Nase ziemlich voll, als sie ernüchtert auseinandergehen.

Plan A



Wunderbar perlt der Prosecco in ihrem Glas und Klara will gerade auf ihrer Terrasse gemütlich die Abendsonne genießen, da klingelt das Telefon. Es ist Mark, er hat schlechte Neuigkeiten.
«Du glaubst es nicht, vor zehn Minuten ruft mich Alice an und ist richtig sauer.»
«Warum denn?»
«Sie meinte, die Urne stehe jetzt schon seit Tagen bei ihr und sie wolle wissen, wann wir sie endlich abholen und auf den Friedhof bringen würden.»
«Wir? Wieso sollen wir sie auf den Friedhof bringen? Sie wollte sie ja unbedingt zu Hause haben!» Klara versteht die Welt nicht mehr.
«Das habe ich auch gefragt, da hat sie mich angeschnauzt, sie habe kein Auto und wolle sicher nicht mit einem vollen Aschenbecher im Tram zum Friedhof fahren, und überhaupt dauere die Fahrt viel zu lange, sie habe Gescheiteres zu tun und müsse arbeiten.»
Klara schnappt nach Luft: «Das, das ist so etwas von frech! Ungeheuerlich! Was hast du geantwortet?»
«Na ja, ich versuchte, sie zu beruhigen, und wollte natürlich unbedingt Zeit gewinnen. Jetzt brauchen wir dringend einen funktionierenden Plan, um an die Urne zu kommen. Wenn das mit dem Austausch klappen soll, muss sie die Urne noch ein paar Tage zu Hause hüten, weil wir noch nicht so weit sind. Ich habe ihr etwas von viel Arbeit und Terminen vorgeschwafelt und dass wir so bald wie möglich vorbeikommen würden.»
«Uns bleibt wirklich nichts erspart», suhlt sich Klara einen Moment in Selbstmitleid, gewinnt aber schnell wieder ihre gewohnt anpackende Art zurück. «Fakt ist, sie will mit der Urne nicht quer durch die Stadt, ist also auf uns angewiesen. Ich denke nicht, dass sie jemand anders fragen wird, das heißt, wir bestimmen, wann die Urne ihr «Zuhause» verlässt. Der Austausch muss vor der Abgabe auf dem Friedhofsbüro geschehen, wenn sie erst in deren Obhut ist, wird es fast unmöglich, an sie ranzukommen. Oder wie siehst du das?»
Mark stimmt ihr zu: «Wir brauchen irgendeinen vernünftigen Grund, um in den Besitz zu kommen, ohne dass Alice misstrauisch wird.»
Einen Moment ist absolute Stille in der Leitung, man hört fast, wie die beiden denken. Zögerlich meldet Klara sich zu Wort: «Du-u, ich glaube, ich habe eine Lösung.»
«Da bin ich aber gespannt!»
«Alice arbeitet doch Teilzeit an einem Kiosk, oder?»
«Nicht ganz, bei der Valora AG in Muttenz, die haben das Kioskgeschäft unter sich, aber was hat das mit der Urne zu tun?», will Mark wissen.
Ausführlich setzt ihm Klara ihre Idee auseinander: «Sie hat einmal erwähnt, dass sie immer in den ungeraden Wochen Spätschicht arbeitet und dann gegen zwölf aus dem Haus muss, deshalb könne die Beerdigung nur in einer geraden Woche stattfinden. Wir rufen sie also in einer ungeraden Woche etwa um elf Uhr an und sagen, wir seien wegen eines Termins bei der Migros Bank in der Nähe. Wir kämen etwa in 10 Minuten kurz bei ihr vorbei. Sie denkt sicher, wir bringen ihr die 5’000 Franken und lässt sich sicher darauf ein. Selbstverständlich bringen wir kein Geld vorbei, aber wir klären sie kurz über den Stand der Dinge auf.»
«Und weiter?»
«Wir bieten ihr an, dass wir die Urne gleich mitnehmen und auf den Friedhof bringen können. Wetten, dass wir sie erhalten?!»
«Das könnte klappen», aus Marks Stimme ist freudige Erleichterung herauszuhören, «und für sie ist die Zeit zu knapp, als dass sie auf die Idee kommt, uns zu begleiten.»
«Genau!»


*


Es ist 11.20 Uhr, wie besprochen ruft Mark mit seinem Natel bei Alice an und erzählt ihr die vereinbarte Story über den Banktermin in der Nähe. Mit gespitzten Ohren sitzt Klara auf dem Beifahrersitz und bekommt mit, wie Alice etwas von «Einschreiben, Brief und unfähige St. Galler» jammert und trotz knapper Zeit einwilligt, dass sie «ganz kurz» vorbeikommen könnten. «Was hat Alice gesagt?», will sie es genau wissen, kaum hat Mark aufgelegt.
«Ich habe es nicht ganz begriffen, aber irgendwas, Urne oder Asche, ist irrtümlich vertauscht worden.»
«Was! Hat uns jemand die Idee geklaut?», fragt Klara entgeistert.
«Nein, es ist, glaube ich, nichts Tragisches, aber Alice wird uns gleich mehr sagen», beruhigt Mark sie und fährt los.
Unterwegs beginnt er herumzublödeln: «Stell dir vor, wie Alice ihren Couchtisch mit weißem Leinen, Kerzen und einem goldgerahmten Foto von Vater in einen Altar verwandelt hat - und mittendrin thront die Urne.» Ein breites Grinsen auf Klaras Gesicht zeigt ihm, dass seine Fantasien bei ihr angekommen sind. Jetzt dreht er erst richtig auf: «Zum Essen stellt sie ihn auf den Stuhl gegenüber oder wie ein Glas Wein vor sich auf den Tisch. Beim Frühstück liest sie ihm aus der Zeitung vor und abends bespricht sie mit ihm das TV-Programm.» Klara will nicht hinter ihrem Bruder zurückstehen und spinnt den Faden weiter: «Vielleicht nimmt sie ihn auch mit ins Bett, damit sie nicht alleine schlafen muss», und setzt noch einen oben drauf: «Sicher darf er mit zum Einkaufen. Alice hat doch diesen Einkaufstrolley auf zwei Rädern, den sie hinter sich herzieht, damit sie keine schweren Taschen tragen muss. Stell dir vor, bevor sie in der Migros an der Kasse einpacken kann, muss sie die Urne herausfischen und neben ihre Einkäufe stellen. Dort steht sie dann zwischen Gnagi, Blumenkohl und Beutelrösti. Am Schluss packt sie sie obendrauf und kriegt die Deckklappe des Trolleys nicht mehr zu.»
«Auch gut, wenn die Urne oben rausguckt, kriegt der gute Paul etwas frische Luft - auch wenn ihm eine Zigarette lieber wäre», wirft Mark ein.
«Stopp, hör auf, ich kann nicht mehr!» Klara hält sich den Bauch vor Lachen. So gut hat sie sich schon lange nicht mehr amüsiert. «Wir können doch nicht wie zwei aufgedrehte Teenager bei ihr ankommen. Bevor wir sie treffen, müssen wir wieder etwas runterkommen.» Da blitzt sie wieder durch, die vernünftige Klara, die von klein auf gewohnt ist, Verantwortung für sich und ihren Bruder zu übernehmen. Auf jeden Fall sind sie sich einig, dass man bei Alice mit allem rechnen muss.

Zackig öffnet Alice die Tür und zetert gleich los: «Ihr glaubt nicht, was die St. Galler verbockt haben! Jetzt haben die mir tatsächlich die Asche von Paul in einer falschen Urne geschickt. Es sei sicher, dass es wirklich seine Asche sei, nur die Urne sei verwechselt worden.» Dazu wedelt sie mit einem Brief vor ihren Nasen herum. «Um mir das zu sagen, schicken sie einen eingeschriebenen Brief, für den ich extra zur Post musste, um ihn abzuholen.»
«Wieso haben sie nicht angerufen, das wäre doch viel einfacher und schneller gewesen?», fragt Mark.
«Sie schreiben, dass sie es versucht, aber mich nie erreicht hätten. Herrgott noch mal, was glauben die denn, ich kann doch nicht den ganzen Tag zu Hause vertrödeln und darauf warten, ob vielleicht mal jemand anruft!»
Klara will sich Alices Gejammer nicht länger anhören: «Und jetzt, wie geht es weiter?»
«Die sagen, ich habe eine teurere Keramik-Urne erhalten, dürfe sie aber behalten oder kostenlos gegen die bestellte Staats-Ton-Urne eintauschen. Dafür soll ich das Keramikmodell eingeschrieben an sie zurücksenden. Fett gedruckt steht da ‚ohne Mehrkosten für Sie‘. Und wer bezahlt mir die Einschreibegebühren!?»
«Wieso behältst du sie nicht einfach, sieht sie so schrecklich aus?», will Klara wissen und versucht, die Urne mit einem verstohlenen Blick ins Wohnzimmer auszumachen.
«Das weiß ICH doch nicht!»
«Hä-ä?», jetzt begreift Klara gar nichts mehr.
«Das Paket ist noch nicht geöffnet, aber das können wir gleich zusammen machen. Ich hole etwas zu trinken und du, Klara, bringst es in die Stube. Es steht im Gästezimmer.»
Alice verschwindet in der Küche und Klara öffnet die Türe zum Gästezimmer, gespannt, was sie jetzt wohl antrifft. Zwei schmale Betten mit gehäkelten Überwürfen, ein alter Schrank und ein zerkratzter Schreibtisch mit Holzstuhl. Das ist alles. Kein Paket, keine Urne.
Mark ist ihr gefolgt und ruft über die Schulter zurück: «Da ist kein Paket!»
«Hinter der Türe», tönt es gedämpft aus der Küche.
Klara guckt dahinter, tatsächlich stehen da ein etwa 35?cm großes Kartonpaket und die eklige Beinprothese einträchtig nebeneinander, mit Schuh.

Originalverpackt steht das Kartonpaket auf dem Stubentisch. Unangetastet. Wie vom Postboten geliefert. Klara kann es kaum fassen. Insgeheim fragt sie sich, wieso Alice die Urne nach Hause geliefert haben wollte, wenn sie sie doch nicht auspackt.

Diese bringt Getränke aus der Küche und dazu ein Steakmesser. «Bedient euch», sagt sie, stellt die Gläser und die Wasserkaraffe auf den Tisch und macht sich mit dem überdimensionalen Messer am Paket zu schaffen.
Mit zwei schnellen Schnitten ist die Schnur durchtrennt. Sie reisst das Papier weg, klappt die Deckel auseinander und greift mit beiden Händen in die Styroporfüllung. Klara und Mark recken neugierig die Hälse, man sieht nicht jeden Tag eine Urne, und schon gar nicht jene mit Vaters Asche. Vorsichtig zieht Alice sie heraus und stellt sie neben der Schachtel auf den Tisch.

Da steht sie nun. Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen, es sei eine Deckelvase oder eine zu groß geratene Zuckerdose aus Porzellan. Elfenbeinfarben mit kräftigem Goldrand und oben auf dem Deckel eine kitschige, goldene Krone.
Einen Moment herrscht absolute Stille, niemand getraut sich, etwas zu sagen, bis Alice das Schweigen bricht: «Nein, das geht nicht. Mein Päuli war ein einfacher Kerl, diese Urne passt überhaupt nicht zu ihm.»
Außer einem scheuen, halbwegs zustimmenden «Hm» verzichten die Geschwister auf jegliche Reaktion. Was wollen sie sagen? So schlimm ist sie nun auch nicht. Vielleicht eher etwas für eine Frau.
«Wenn ich das Ding auf eigene Kosten und eingeschrieben zurückschicken muss, geht das sauer verdiente Geld einer halben Überstunde drauf. Dafür will ich mein Geld nicht hergeben. Aber wisst ihr was, die vom Büro für Todesfälle und Bestattungen hier in Basel, die können das für mich übernehmen und dann können die St. Galler die richtige Urne auch gleich dorthin zurückschicken.
Das ist das ersehnte Stichwort.
«Das könnten Mark und ich doch machen, gleich jetzt», schlägt Klara vor, «dann hast du keine Umstände.»
«Kommt überhaupt nicht infrage, nach fast 20 Jahren Zusammenleben fühle ich mich verpflichtet, meinen Päuli auf seinem letzten Weg zu begleiten!»
«Aber», will Klara insistieren, doch Alice fällt ihr rüde ins Wort: «Kein Aber, und ich muss jetzt gehen, sonst komme ich zu spät zur Arbeit. „Ach, und was ist eigentlich mit meinem Geld?“ Ähm?überlegt Klara. Da fehlte noch ein Stempel oder eine Unterschrift auf einem der Dokumente, keine Ahnung, was für Prozesse die bei der Bank haben. Sie werden uns benachrichtigen, sobald das geklärt ist.

Bevor Alice sie aus der Wohnung hinauskomplimentiert, können sie zumindest noch vereinbaren, dass diese sich um einen Termin auf dem Friedhofsbüro kümmert und Klara sie mit dem kleinen Subaru hinfahren wird.
Klara und Mark stehen draußen auf dem Parkplatz vor dem Haus, Alice ist schon Richtung Tramhaltestelle davongeschlurft. Ihr Plan ist grandios gescheitert, die Enttäuschung fast mit Händen greifbar. «Langsam habe ich genug», fasst Mark ihre Stimmung zusammen, «wir müssen uns etwas überlegen, das todsicher funktioniert.»
«Und ich habe jetzt weder Lust noch eine Idee. Lass uns die nächsten Tage telefonieren.» Auch Klara hat die Nase ziemlich voll, als sie ernüchtert auseinandergehen.

5 Sterne
Kurzweilig und spannend - 02.03.2024
Norma Schröder

Esther Räbsamen hat mit diesem Buch ein kurzweiliges Leseerlebnis geschaffen. Sie schreibt witzig und zugleich spannend.

5 Sterne
Anders als gewohnt - 09.05.2019
Eva

Die Bilder im Buch ist mal was anderes... auch dass ein schweres Thema so leicht und mit viel Humor erzählt wird. Total lesenswert.

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