Ein alter Sack blickt zurück

Ein alter Sack blickt zurück

oder: Stürzen wir uns in das Rauschen der Zeit

Michael Schwarzmaier


EUR 18,90
EUR 15,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 226
ISBN: 978-3-99131-689-3
Erscheinungsdatum: 02.02.2023
Eine Zeitreise in die wilde Jugend unserer Großeltern! Verrückte Schlaglichter in einer lockeren Zeit ohne Handy und Social Media, aber mit offenen Augen für das Wesentliche: Liebe, Erotik, Verwirrungen. Und dabei absolut keine Gebrauchsanweisung für nichts!
Annäherung


Ein neues Jahrhundert, das einundzwanzigste – genauer: der Beginn des inzwischen nicht mehr ganz so funkelnagelneuen dritten Jahrtausends.
Aber wie lange ist es denn noch neu? Wie lange ist überhaupt irgendetwas neu? „Jahrhundertwende“ hat heute jedenfalls nichts mehr mit Jugendstil zu tun. Und wie toll die Zwanziger werden, können wir selbst bestimmen.
Doch interessiert sich noch jemand für Ereignisse, die sechzig, siebzig Jahre zurückliegen, aber so daherkommen, als hätten sie Anspruch auf lebhaftes Interesse, ja Anteilnahme, als seien sie brandaktuellen Vorgängen gleichwertig?
Es ist so eine Sache mit der Zeit.
In einer Kutsche war Paris endlos weit weg von Berlin, im Flieger muss man sich kaum anschnallen.
Die Zeitung von gestern – Geschichte. Aber wenn du vor dem Nachtcafé von van Gogh stehst, wunderst du dich, dass die Farbe schon trocken ist.
Und ein Kind erkennt die Wintermütze und die Handschuhe nach einem Jahr kaum wieder – mit achtzig hängt man die Daunenjacke in den Schrank, dreht sich einmal um sich selbst und kann sie gleich wieder rausholen.
Und wenn man 1961 einen Schlager von 1959 hörte, war der so alt, so uralt, dass einem speiübel werden konnte.
Heute siehst du Sechzehnjährige, die bei den Caprifischern oder bei Kriminal-Tango schon wieder glänzende Augen kriegen.
Die Hörgewohnheiten haben sich geändert. Die Beatles z. B. werden höchstens digital umgewertet; Puristen finden das allerdings unverzeihlich und pietätlos und lieben die Kratzer in ihren alten Langspielplatten.
Coverversionen jahrzehntealter Titel entstehen in diesen Tagen, man nennt es Hit-cycling oder spielt frohen Mutes Paul Ankas DIANA in der Originalfassung.
Alles vor dem 2. Weltkrieg war für uns Kriegskinder generell Schrott, bis auf Jazz – Louis Armstrong, Ella Fitzgerald und die anderen. Und die Comedian Harmonists. Und Zarah Leander, Kurt Weill, Theo Mackeben – gut, so viel zu Pauschalurteilen …
Und klassische Musik ist eben klassisch.
Du stellst an einem heiterhellen Tag in dieser unserer Gegenwart das Radio an, und wenn du die Szene nicht genau verfolgst, hörst du zwei Titel hintereinander und findest beide gut. Aber einer ist von 1973, der andere von 2023.
Es ist ja alles so neu.
Eigentlich.
Kaufhäuser feiern stolz ihr hundertjähriges Bestehen, der DFB (das ist der Deutsche Fußball-Bund) ebenfalls, es gibt die fünfundzwanzigsten Olympischen Spiele der Neuzeit oder den fünfundsiebzigsten Jahrestag der Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Und und und.
Aber lass doch mal ein paar Jahrtausende vergehen, was ist das dann schon?
Wer mag wohl deutscher Meister werden in der 4837sten Saison der Fußballbundesliga? Lejeune Unterhaching oder Siemens Kapstadt? Gibt es da noch Rasen und ist der Ball noch rund?
Weiß dann noch jemand, was dieser alte Euro war? Und wie viele Taler gingen auf so einen Euro? Oder waren hundert Dollar ein Euro?
Tanzen beim 7500sten Oktoberfest die Aussis von down under noch immer volltrunken und halb nackt auf den Tischen des Löwenbräu-Zelts oder machen das inzwischen die Kängurus?
Und wird man die Beatles noch kennen? Und den, der damals bei ihnen ausgestiegen ist, John Bach oder so? Und was ist eigentlich aus Jesus Christ and the Apostles geworden?
Das ist dann lange her.
Wozu haben die alten Ägypter denn getanzt?
Wer sind die alten Ägypter eigentlich?
So, da wollte ich hin. „Gestern“ ist näher gerückt und wird immer näher rücken. Geschichte ist digital, allgegenwärtig, in Farbe und gespeichert auf unendlich vielen, immer winziger werdenden Chips, die Menschheitsgeschichte in einer Schublade.
Und daher sind die paar Jahre, die ein älterer Mensch in seine Jugend zurückschaut, Marginalien – das soll heißen: Man kann das in diesem Buch Geschriebene lesen und wird ohne Weiteres nachvollziehen können, um was es sich handelt. Aber man kann es auch lassen.
Das trifft allerdings auf fast alle Dinge zu, die einem im Leben so begegnen – tun oder lassen.
Was auch nicht unwichtig erscheint – meine Sprache lässt sich nicht am Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen messen. Sie kommt ungezügelt und frech daher, so wie die ruppigen Intellektuellen oder provokanten Künstler, zu denen ich mich ohne Einschränkung zähle, sie in den hemmungslosen, aufmüpfigen Sechzigern handhabten, provozierend, flapsig, oft schmutzig, ohne Zensur.
Und ohne falsche Scham.
Wie sollte man sein weiches Inneres, das unverstandene, verletzte Ego auch anders schützen?
Also – entweder hat unsere Beziehung grade begonnen, oder sie ist an diesem Punkt zu Ende. Eine freie Entscheidung, man muss sie nur treffen.



Vorspiel


Manches werde ich nie begreifen. Die Relativitätstheorie zum Beispiel, Frauen sowieso nie, oder wie jemand Pullover mit Zopfmuster stricken kann.
Und warum im Brotladen immer eine Schlange bis zur Tür ist, wenn ich reinkomme … dann bin ich dran – und steh allein im Laden. Wenn ich erst jetzt reinkäme, wäre ich sofort dran. Ich komme aber nie erst jetzt rein.
Oder warum das Klopapier immer bei mir alle ist.
Oder, und damit bin ich beim Thema, was so toll an den 1960ern war? Oder, noch viel unbegreiflicher, an den 1950ern?
Als ich zum ersten Mal bewusst in die Welt schaute, sah ich um mich herum konzentrierte, angestrengte Gesichter hart arbeitender Menschen, Nierentische, Baulücken und Petticoats. Eine Zeit des Aufbruchs zwischen Ackern und Leben. Aber schon mehr in Richtung Ackern.
Keiner wusste, welchen Geschmack er haben durfte. Oder sollte. Die Möbel – zum Kotzen. Die Klamotten – ein Alptraum. Die Musik – völlig orientierungslos.
1954 wurde ich vierzehn. Zu meinem Geburtstag bekam ich ein Teakholzradio. Das lief natürlich noch mit Röhren, aber statt dieser hässlichen Stoffbespannung, die in Petit-Point-Manier jahrzehntelang die Besitzer von Rundfunkgeräten begeisterte, hatte es vor dem Lautsprecher ein Brettchen mit Schlitzen. Progressive Optik … Das machte den Ton aber auch nicht besser, das konnte mir keiner einreden.
Kaum zu glauben, aber bis dahin besaß ich bloß einen Haufen Schellack-Platten und ein Grammophon zum Aufziehen, mit Kurbel, allerdings ohne diesen wahnsinnigen Trichter, aber mit Metallnadeln. Es gab da nur so ein Loch, in das ich eine Skisocke stecken musste, damit es ungefähr normal klang. Ohne Socke klang alles wie Caruso! Nach seinem Tod.
Im Grunde sollte ich mich allerdings nach Meinung meiner Eltern über dieses Ding wie ein Schneekönig freuen, als wäre grade Charleston-Time.
Leicht wurde mir das nicht gemacht, denn mein Vater kam eines unschönen Tages geladen und unzufrieden wie so oft in mein Zimmer und fand es unaufgeräumt!
Ich sollte wohl richtig was zum Aufräumen haben, deshalb ging er wutentbrannt hin, nachdem mir von seinem Gebrüll fast das Trommelfell geplatzt wäre, und fegte die Borde leer. Wie Attila, der Hunnenkönig auf Speed …
Einen Arm grade ins Bord rein, und dann „Wuuusch!“ den ganzen Krempel auf den Boden gefegt. Acht Borde ungefähr.
Ich hörte das Krachen und Splittern ganz genau.
„Jim, Jonny und Jonas, die fahren an Java vorbei …“ Nie mehr.
Die kleine Cornelia packte keine Badehose mehr ein und der Frühlingsstimmenwalzer war gelaufen. Das Schlimmste war, dass auch Louis Armstrong keinen Thrill mehr on Blueberry Hill found.
Fast meine ganzen Platten im Eimer. Nur Caterina Valente hatte überlebt. Und natürlich die Schubertlieder von Heinrich Schlusnus, der auf dem Plattencover mit seinen grauen Tränensäcken wie eine missglückte Mischung aus Goethe und Golem aussah.
Schubertlieder.
Also gut. Das Teakholzradio roch auch nach Teakholz. Ich hatte diese Art von exotischem Geruch schon bei einem Sandelholz-Eau-de-Toilette nicht gemocht, das ich auf mich schütten sollte. Ich wäre im Leben nie auf die Idee gekommen, Schreiner zu werden. Irgendwie bin ich kein Holztyp.
Dabei sitze ich sehr gern vor einem Kamin und seh zu, wie das Zeug verbrennt …
An die Möbel darf ich gar nicht denken. Die geerbten Buffets und der andere Kram, der bei uns rumstand – das ging ja noch.
Aber ich hatte ein Jugendzimmer. Alles neu. Das Klappbett hat mich fast erschlagen, jeden Tag. Oder eingeklemmt. Und natürlich gab es bei mir diese Tütenlampen mit den Brauseschlauchhalterungen! Sie haben nichts ausgelassen, die lieben Eltern.
Der Begriff Nostalgie greift bei mir in dieser Phase meines Lebens überhaupt nicht. Heutzutage gibt es ja manchmal „zu Anlässen“ 1950er-Jahre Partys. Das ist doch krank! Oder würde sich heutzutage ein normaler Mensch Nickipullis anziehen? Oder Knickerbocker? Diese Dinger, in denen man eine ganze Hamsterfamilie heimlich mit in die Schule hätte nehmen können – in einem Bein?
Aber wenn ich mir die immer blasser werdenden Schwarz-weiß-Klassenfotos ansehe – anscheinend mussten wir die alle tragen. Und vermutlich sitzt jetzt grade irgendwo ein sich unheimlich verschmitzt vorkommender Idiot von Modeschöpfer vor einem Blatt Papier und malt seinem Modell eine verdammte Knickerbocker nach der anderen auf den Leib!
Wahrscheinlich lieben auch viele Menschen Nickipullis.
Und jetzt stehen wir in den Zwanzigern eines neuen Jahrtausends.
Das gibt mir schon zu denken.
Denn wenn sich, sagen wir mal, im Jahre 1923 jemand über seine wilden Jahre in der Biedermeierzeit ausgemärt hätte, wäre irgendjemand auf die Idee gekommen, einen feuchten Kehricht dafür zu geben?
Was mach ich hier eigentlich?
Naja, das hat natürlich schon einen Grund. Neulich hat so ein Berufsjugendlicher in einem ganz merkwürdigen Ton zu mir gesagt, ich wäre ja auch so ein alter Achtundsechziger.
Klang wie alter Sack und hieß auch alter Sack.
Das hat mir irgendwie zu denken gegeben.
Natürlich bin ich ein alter Achtundsechziger. Aber ich bin nie mit Blumen im Haar rumgerannt oder von einem Wasserwerfer in eine Schaufensterscheibe geknallt worden – so ein Achtundsechziger bin ich nicht gewesen. Nie.
Also hat es, scheint’s, unterschiedliche Achtundsechziger gegeben. Auf der einen Seite die mit der antiautoritären Erziehung, die ihren Eltern ungestraft eine kleben durften, in die Ecken kackten, später ein Che-Guevara-Poster an die Wand pappten und dieses unsägliche Haschuhaschischindentaschen im Resthirn bewegten – und dann die Doofen wie mich, die aus verschiedenen Gründen in dieser Zeit zufällig nicht in München oder Berlin lebten und brav ihrem Beruf nachgingen. Mit einer Halbliterflasche Wodka, einem Glas Cocktailkirschen und ein paar Freunden kann man auch einen Riesenspaß haben und auf Sitzblockaden verzichten.
Gegen was sollte man in Verden an der Aller oder in Hannover-Bothfeld auch auf die Barrikaden gehen? Ich war Schauspieler und hatte Proben und Vorstellungen.
Uns alten Achtundsechzigern wird manchmal vorgeworfen, wir hätten es zu leicht gehabt, die Feindbilder wären eindeutiger gewesen und die Mädchen leichter zu haben. Williger eben.
Haha.
Erst mal – die Pille war grade erst erfunden worden. Manche Mädchen schluckten alle auf einmal und wunderten sich, wenn ihnen furchtbar schlecht wurde und sie kurz darauf schwanger waren. Das spielte sich erst langsam ein – etliche Tropis (Trotz-Pille-Kinder) weilen fröhlich unter uns. Auch nicht mehr taufrisch.
Aber auch die Strumpfhose wurde erfunden, entwickelt aus der guten alten Skiunterwäsche – und das war nun wirklich schlimm! Die nahm uns Männern dieses köstliche Stück Bein zwischen Oberkante Strumpf und Unterkante Schlüpfer … ein Verbrechen. Nichts mehr mit: Tut mir leid – eigentlich wollte ich wirklich nicht, ehrlich … aber plötzlich war ich drin … tempi passati.
(Übrigens merke: Wer ehrlich sagt, lügt fast immer!)
Und Feindbilder? Mein Gott – wir waren ja alle links und die Alten alle rechts, klar, eindeutige Feindbilder, ja. Aber was nützte das? Es war nun mal nicht jeder ein Rudi Dutschke. Aber deshalb leben wir ja auch noch, in dieses neue Jahrtausend hinein. Nicht fanatisch, aber neugierig.
Diese Bemerkung hat mir sicher bei vielen alten Achtundsechzigern geschadet. Damit werde ich fertig.
In den 1970ern wurde die Musik oberaffengeil, in den Achtzigern cool, in den Neunzigern krass, krank und Mord. Und in dem neuen Jahrhundert wieder deutscher und ein bisschen wischiwaschi.
Die jeweilige Jugend von heute schlenkert zwischen total prüde und gnadenlos ausgeflippt rum. Tendenz allerdings Richtung konservativ. Es ist alles wie immer.
Nur heute gibt es Aids.
Bei uns gab es allenfalls einen ordentlichen Tripper. Dagegen bekam man Antibiotika und verlor für eine Weile den Humor.
Und dann wird noch erzählt, dass Mädchen mit chininhaltigen Hustentropfen abgetrieben hätten. Das ist ein Gerücht. Man bekam höchstens Blutungen, und wenn man Glück hatte, traf man dann in der Klinik auf einen verständnisvollen Arzt.
So. Genug in den Jahrzehnten rumgehopst. Es ist an der Zeit, dass ich zur Sache komme. Und dazu will ich drei oder vier Dinge von mir erzählen.
Mit fünfundzwanzig habe ich angefangen, meine Memoiren zu schreiben. Vier Jahre lang, immer mal wieder; es wurde ein dickes, handgeschriebenes Manuskript.
Das hat mir zu denken gegeben. Wer mit fünfundzwanzig seine Memoiren schreibt, glaubt entweder, dass er bald stirbt, oder dass nichts Spannenderes mehr nachkommt – in jedem Fall hat er anscheinend irgendwie mit dem Leben abgeschlossen, so oder so.
Dabei war ich ein glücklicher Mensch. Ich hatte einen Beruf, den ich liebte, eine oder mehrere Freundinnen (die ich jeweils auch liebte, am liebsten körperlich) und sehr sehr wenig Geld. Aber auch keinen Bausparvertrag und keine Schulden.
Anfang der Sechziger wurde eine von mir verursachte Schwangerschaft abgebrochen. Jetzt noch ist die Mischung aus Panik und Scham abrufbar. Und dann noch mal. Und wieder. Völlig normal.
Ich hatte eine erste große Liebe und bin an ihrem Scheitern schier verreckt. Auch völlig normal.
Ich begann zu taktieren und zu betrügen und wurde betrogen. Ich schlief mit den falschen Mädchen, aber häufig auch mit den richtigen und wurde auf Ibiza fast von einem Ungarn vernascht, der einmal der Liebhaber von Jean Marais – wer ist das denn? – gewesen war. Fast. Es machte mir keinen Spaß.
Jetzt habe ich die schwulen alten Achtundsechziger verärgert … sorry, das ist nicht persönlich gemeint. Es ist etwas Persönliches.
Jedenfalls alles im grünen Bereich und ganz normal.
Dabei haben ja alle alten Achtundsechziger irgendwie als junge Vierziger angefangen. Manche sogar als junge Zwanziger (Kalaueralarm).
Man möge sich erinnern, dass das generell eine Scheißzeit war, wie auch immer jeder für sich damit umgegangen sein mag.
Die „Wirtschaftswunderzeit“” war eben eine Wirtschaftswunderzeit und keine Menschenwunderzeit. Sogar besonders keine.
Denn die Erwachsenen konnten sich gar nicht genug reinschmeißen in die Arbeit und buckeln, bloß um sich nicht ins Gesicht sehen zu müssen, im Spiegel und gegenseitig. So wurden aus den in einer seltsamen politischen Luftleere aufwachsenden Kindern diese merkwürdigen Achtundsechziger.
Da gab es zunächst einmal die Aktiven. Die, die immer aktiv sind, keiner Diskussion ausweichen und oft haarscharf am Fanatismus vorbeischrammen. Manchmal auch nicht.
Dann die Mitläufer. Und schließlich die Hinterhertrödler. Die wie ich.
Die sich vierzehnjährig nachts mit einer Tasse Zucker und einem Buch wie Winnetou oder Narziss und Goldmund unter die einzig brennende Lampe im Flur auf den Boden setzten und in ihren dünnen Schlafanzügen froren, das Buch für den Kopf und die Süße fürs Herz – bis die Eltern von ihrem gesellschaftlichen Ereignis zurückkamen, im Treppenhaus lärmend, worauf das pubertierende Kind hastig ins dunkle Kinderzimmer floh. Die Karies jubelte.
Und die ihre Kindheit von Tag zu Tag gelassen mitmachten, ohne mit Herzblut an der Welt zu leiden.
Wie ich.
Was aber immer noch kein Grund wäre, seine Memoiren zu schreiben.
Weil mir jedoch Todessehnsucht immer sehr fremd war und ich durchaus glaubte, dass noch eine Riesenmenge in der Wundertüte des Lebens auf mich wartete, musste etwas anderes dahinterstecken.
Die tief im Herzen verschlossene Ursache, welche zuzugeben mir selbst jetzt nicht leicht fällt (was schon an diesem so verschraubt beginnenden Satz zu erkennen ist), kann nur gewesen sein, dass ich mich im Grunde meiner Seele toll fand.
Richtig toll.
Und das bei dem ganzen Schrott, der mir im Laufe der Jahre widerfuhr. Ja. Weil ich jedes Mal phönixgleich und lächelnd aus allem hervorging, das meiste lief am Wachstuch meines Inneren ab, wenig drang ein.
Und vermutlich wollte ich es auch meinem Biografen leicht machen. Den es ja ohne den geringsten Zweifel geben würde.
Eine große Bank hat vor Jahren einen Slogan kreiert, der mein Lebensgefühl dieser 1950er und 1960er exakt auf den Punkt bringt: LEBEN SIE. WIR KÜMMERN UNS UM DIE DETAILS.
Als hätte eine Gottheit mir aus einem Dornbusch, einem Bauchnabel oder einer Kloschüssel dieses Lebensmotto zugerufen – ich lebte und verließ mich felsenfest darauf, dass sich verdammt noch mal jemand um die Details kümmern würde.
Der Beitrag meiner Mutter zu diesem Thema war, sie hätte sich nie erklären können, wieso ich nach einem gnadenlosen Anpfiff, der gereicht hätte, jedes andere Kind für Stunden in Demut und Zerknirschung erstarren zu lassen, zwei Minuten später strahlend zurück ins Wohnzimmer kam und fragte: „Und, was machen wir jetzt?“
So ähnlich verhalte ich mich auch heute noch.
Das war’s. Ich hatte nie Lust, mein Leben mit unnützen Grübeleien zu verbringen. Ich war immer gespannt, wie es wohl weitergehen würde.
Inzwischen ist mir aufgegangen, dass nicht jeder Mensch einen Biografen braucht. Und nicht bekommt. Schade eigentlich.
So richtig klar geworden ist mir das in den schlampigen 1970ern, als ich als Single in München lebte. Zu der Zeit hieß das noch Junggeselle, wie 1875. (Nicht Hagestolz, nein. Das nicht!) Jedenfalls merkte ich da, dass ich mich nicht als den Typ sah, der pausenlos Dinge tun will, über die später dann mal jemand viele Worte verliert. Ich war nicht edel, ich war kein Serienmörder und ich suchte kein Mittel gegen den Krebs.

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