Das Ich, Du, die Andern, die Gesellschaft, der Staat, das Volk, ...
Karl Maria Müller
EUR 16,90
EUR 10,99
Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 294
ISBN: 978-3-99038-937-9
Erscheinungsdatum: 14.04.2016
Wie frei ist der Mensch wirklich? Dieses Buch versucht, wenigstens in Ansätzen und aus der Lebenserfahrung des Normalbürgers heraus Antworten auf viele Fragen des Lebens zu finden. Aber es gilt auch hier: Auch ernste Fragen führen gelegentlich zu heiteren Antworten!
Einleitung
Gibt es einen vernünftigen Grund, dass wir auf der Welt sind? Gegenfrage: Braucht es dazu einen vernünftigen Grund? Braucht es dazu überhaupt einen Grund? Nein, braucht es nicht, es ist einfach schön, auf der Welt zu sein.
Gehen wir zunächst davon aus, dass es keinen Sinn macht, dass wir auf der Welt sind. Ob ich auf der Welt bin oder nicht, spielt zunächst einmal keine Rolle. Was für eine Rolle sollte das sein? Aber nun sind wir mal da, wir leben hier, sind mit allen möglichen Fähigkeiten ausgestattet, und also ist es das Natürlichste von der Welt, uns Gedanken zu machen, was wir mit unserem Leben anfangen. Denn nur einfach da zu sein und nichts zu tun wird sehr schnell langweilig bis zum Überdruss. Es macht ja auch keinen Sinn.
Ob Sinn oder nicht: Irgendwann kriegen wir garantiert Hunger und Durst. Dann gehen wir eben zum nächsten Bächlein und trinken, ist doch ganz einfach. Aber zu essen ist nichts da. Und jetzt geht’s los. Wie kriegen wir was zwischen die Kiemen? Na, wenn schon das Wasser einfach so dahergeflossen kommt, wird doch auch noch ein gebratenes Täubchen von irgendwo dahergeflogen kommen. Nein, wird es nicht. Also müssen wir uns was zu essen suchen. Und das ist auch vernünftig, weil wir sonst verhungern. Und es ist vernünftig, dass wir uns ein Haus bauen (der nächste Winter kommt bestimmt), dass wir Korn anbauen (um Brot backen zu können) oder brennen (Prost!), dass wir uns eine Kuh halten (wegen des Steaks und der Milch). Irgendwann stellt sich heraus, dass das alles viel rationeller zu bewerkstelligen ist durch Arbeitsteilung – der eine macht dies, der andere das, jeder, was er am besten kann, und allen geht’s gut. Ein bisschen wie im Paradies. Nein, dort musste man gar nichts tun, da war für alle gesorgt. Aber es war entsetzlich langweilig und sinnlos.
Und eben deswegen haben die ersten Menschen etwas getan, was sie nicht hätten tun sollen, was aber gerade deswegen so spannend war, weil’s verboten war: vom Baum der Erkenntnis zu essen. Nie war der Mensch so frei wie im Paradies, weil er alles tun durfte, was er wollte, bis auf eins, nämlich vom Baum der Erkenntnis zu naschen. Er musste sich um gar nichts kümmern, nicht ums Wetter, nicht um die Jahreszeiten, nicht um Blitz und Donner, nicht um die Regierung, nicht um die Polizei, nicht um die Gesetze, nicht um Grenzen, nicht um Verantwortlichkeiten. Eigentlich hatten die ersten Menschen doch allen Grund, ständig hurra zu rufen. Aber wenn es keine Regeln und keine Gesetze gibt, gibt es auch keine Freiheit. Und ohne Freiheit macht die ganze Hurra- oder gar Heil-Ruferei keinen Sinn. Auch das hat die Erfahrung (die Geschichte) gelehrt.
Die Freiheit ist vielfältig, aber es gibt sie nur durch Regeln und Gesetze; denn wenn ich alles tun darf, was ich will, ist dies nicht Freiheit, sondern Libertinage und führt zum Chaos. Denn Freiheit ist untrennbar mit Verantwortung verbunden, mit Verantwortung für das eigene Leben, für das der anderen, für Recht und Gesetz, für ein geordnetes Zusammenleben der Menschheit. Und für die Schöpfung insgesamt.
Was das für jeden von uns bedeutet, darum geht es in diesem Buch. Aber Vorsicht: Trotz des umfangreichen Titels dieser Arbeit wird hier keinerlei Vollständigkeit bei der Behandlung des Themas garantiert, sie ist auch nicht angestrebt. Der Grund ist leicht einzusehen: Zu allen Zeiten ist das Thema von Autoren bereits in der einen oder anderen Weise und Form behandelt worden, immer aus der Sicht der Zeit heraus, und so läge die Gefahr nahe, dass man sich in Wiederholungen von längst Gedachtem erginge, angefangen bei Theognis und Pseudo-Salomo bis hin zu Jean Paul Sartre oder Karl Popper. Ohne Bezug auf solch hervorragende Köpfe kann ein Denken allerdings auch heute nicht auskommen, weil, wer geboren wird, nicht in einen zeit- und geschichtslosen Raum geworfen wird, sondern in das geschichtliche Geflecht des menschlichen Geistes seit dem Anbeginn der Menschheit. Das Wunder der Einsteinschen Formel e = mc2 kann nur der würdigen, dem sich das Wunder der Höhlenmalereien von Altamira oder Lascaux je erschlossen hat. Ohne die Erkenntnisse der Urmenschen hinge Einsteins Relativitätstheorie frei im Raum (wie sinnig). Es wäre gar nicht dazu gekommen.
Mit dem Verzicht auf Vollständigkeit entfällt aber auch der systematische Aufbau der Arbeit. Die Zuordnung von Kapiteln bleibt deshalb weitgehend zufällig, nicht zuletzt auch aus dem Grunde, dass der Grundtenor der Arbeit, der sich mit der Utopie der Freiheit menschlichen Handelns befassen soll, immer wieder von anderer Seite und von anderen Ausgangspositionen angegangen wird. Der Verlust kapitelorientierter Systematik wird aber weitgehend wettgemacht durch den Vorteil, dass dieses Buch nicht nur strikter, konsequenter Lektüre zugänglich ist, sondern an jeder beliebigen Seite aufgeschlagen werden kann und dem Verständnis dennoch zugänglich bleibt.
Wir bestehen darauf: Es handelt sich hier nicht um eine wissenschaftliche Arbeit, sondern um das Ergebnis des mutwilligen Nachdenkens und Zusammentragens von Gedanken, wie sie sich bei jedem Menschen, sei es mit oder ohne äußere Anlässe, gelegentlich einstellen kann. Denn das menschliche Gehirn fängt mit der Geburt an zu denken (zu arbeiten) und hört erst mit dem Tode mit dieser Tätigkeit auf (vorausgesetzt, es findet nicht vorher eine Deformation des Denkapparates statt). Das kann man als gegeben hinnehmen und belassen, wie’s ist, oder man lässt die Pedanterie doch nicht ganz außen vor und beginnt irgendwann aufzuschreiben, was sich da in der geistigen Wahrnehmung tut. Ein bisschen Sorglosigkeit und Mutwillen gehört in der Tat dazu. Und ein bisschen bedenklich ist ein solcher Vorsatz obendrein. Sei’s drum!
Der Anfang ohne Hartz IV
Des Schweines Ende ist der Wurst Anfang. (Wilhelm Busch)
Wie auch immer: Eines Tages sind wir in der Welt, haben keine Ahnung, wie wir hierhergekommen sind, wir haben es nicht einmal gewollt, gefragt worden sind wir jedenfalls nicht, stehen da „im Zwischenraume zwischen Welt und Spielzeug – an einer Stelle, die seit Anbeginn gegründet war für einen reinen Vorgang“, wie Rainer Maria Rilke es in seiner Vierten Duineser Elegie beschreibt. Und stellen irgendwann fest, dass es mit dem reinen Vorgang nun auch wieder nicht weit her ist. Was machen wir hier eigentlich?
Nach neun Monaten bedingungslosen Asyls im Mutterleib kriegen wir gekündigt und müssen raus ins Leben und das mit weniger als Hartz IV. Wir können nichts, wissen nichts, wir haben nichts, und es ist uns auch nicht gegeben, wie Parsifal im Narrenkleid als reine Toren durchs Leben zu gehen, dafür wird rechtzeitig und vielfach gesorgt. Parsival wurde immerhin Gralskönig. Aber unsereiner? Wir müssen uns ganz banal abrackern hienieden.
So ganz unvorbereitet kommen wir übrigens doch nicht auf die Welt. Die Wissenschaft will herausgefunden haben, dass wir bereits vor der Geburt, also in der Zeit im Mutterleib, eine gewisse Persönlichkeitsentwicklung durchlaufen und Kontakte nach draußen aufnehmen, wenn sie uns denn von draußen angeboten werden: durch Handauflegen auf den Mutterleib zum Beispiel, durch Gespräche oder Musik, die man im Mutterleib mitbekommt. Aber bis wir das in irgendeinen vernünftigen und verstehbaren Zusammenhang stellen können, braucht es seine Zeit. Allerdings weiß ich (außer von Oskar Matzerath in Günter Grass’ „Blechtrommel“ und von Kurt Tucholskys Zwillingen im Mutterleib: „Ich geh raus!“ „Du gehst nicht raus! Streikbrecher!“) von niemandem, dass er sich an die Zeit im Mutterleib auch tatsächlich erinnern könnte.
Allein die Tatsache, dass wir ab sofort, unmittelbar nach der Geburt, kaum dass wir in frische Tücher gewickelt worden sind, vor der Notwendigkeit stehen, uns in der Familie, in die wir hineingeboren sind, zurechtzufinden, macht uns klar, dass das nicht ganz leicht wird, was da auf uns zukommt. Kinder heute sind da etwas besser dran als Gleichaltrige vor siebzig, achtzig oder gar hundert Jahren, als sich über Kinderwiegen und Kinderwagen immer wieder und ohne jede Vorwarnung riesige Gesichter alter, nach Patschuli stinkender Tanten mit großen schwarzen Hüten beugten und in Entzückensrufe ausbrachen: „Eiteitei, eiteitei, isser nich süüüüß!“ Als Neugeborener kann man doch noch gar nicht unterscheiden, ob das ein großer schwarzer Hut ist oder gar ein großer schwarzer Unheilsvogel, der einen, kaum dass man auf der Welt ist, schon wieder holen will, weiß Gott wohin! Damals hat so mancher einen Schock fürs Leben davongetragen. Heute könnte ein Kind einen solchen Schock zugegebenermaßen auch bekommen, wenn beispielsweise Nina Hagens Gesicht plötzlich über dem Kinderwagen erschiene (aber das kommt Gott sei Dank nur selten vor). Lüftlmalerei ist nämlich nicht jedermanns Sache.
Uns später in die Gesellschaft einzugliedern und uns dort durchzusetzen, den Anforderungen gerecht zu werden, die der Staat an uns stellt, und uns einen Standort in unserem Volk und unserer Nation zu suchen und ihn zu behaupten, macht uns rasch klar, dass wir die Zeit auf Erden nicht mit reinem Zuckerschlecken werden verbringen können. Und dann entsteht im Laufe des Lebens zusätzlich noch ein Geflecht persönlicher Beziehungen, mit dir, mit anderen, mit Freunden und Feinden, mit interessanten Menschen und mit Langweilern. All diese Begegnungen, all diese Gegebenheiten treiben uns die Flausen, das Leben, als wäre jeden Tag Weihnachten, zu vertändelnden, rasch aus. Wenn nicht, sind wir zum Scheitern verurteilt, noch bevor wir überhaupt wissen, wozu wir da sind und was der Grund unseres Scheiterns ist. Da ist man schneller auf der Couch des Psychiaters als im wirklichen Leben.
Existenzialphilosophisch heißt das, wir sind in die Welt geworfen – das ist die Grunderfahrung, die wir mit so bedeutenden Menschen wie den Philosophen Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger und Jean Paul Sartre teilen dürfen. Da kann man nun liegen bleiben, wo man hingeworfen wurde, aber das ist weder sinnvoll noch kurzweilig, erst durch das Tun wird man Mensch, verwirklicht man sich selbst, denn irgendeinen Grund muss das doch haben, dass wir in der Welt sind, weil ja der Aufwand, mit dem der Mensch in die Welt gebracht wurde, weiß Gott gigantisch ist. Das Malheur: Wer was tut, macht sich die Hände dreckig und macht sich schuldig, auch wenn er es gar nicht will. Irgendwann findet sich der Mensch in der Situation des antiken Dramas, in einer Situation der Ausweglosigkeit (gr. Aporia), aus der man sich, wenn überhaupt, nur selbst befreien kann. Das kann man machen wie Sisyphus, dem die Götter, um ihn zu bestrafen, aufgetragen hatten, einen Fels den Berg hinaufzustemmen, aber kurz unterhalb des Gipfels glitt ihm der Fels stets aus den Händen und stürzte polternd wieder hinab ins Tal. Sisyphus nahm sein Schicksal auf sich und schleppte den Stein immer aufs Neue hinauf. Bei so sinnloser Tätigkeit ohne Hoffnung auf Erfolg kann man freilich verrückt werden, aber Sisyphus war ja kein Dummer: Dem Dilemma entkomme er nur, so überlegte er, wenn er der sinnlosen Tätigkeit durch eigenen Entschluss und eigenes Wollen einen Sinn gebe, indem er die Tätigkeit als solche akzeptiere und das Tun selbst als Sinngebung begreife. Auf diese Weise schlug er den hinterhältigen Göttern sogar ein Schnippchen, und eben das machte ihm auch noch ordentlich Spaß. „Wir müssen uns Sisyphus als einen glücklichen Menschen vorstellen“, schließt Albert Camus seinen faszinierenden Essay „Der Mythos von Sisyphus“. Ein bisschen Selbstbetrug ist sicher dabei. Aber andere Denker sind ja auch zu ähnlichen Überlegungen gekommen: Nietzsche gehörte zu ihnen („to do ist to be“) oder Kant („to be ist to do“) oder gar Frank Sinatra („do be do be do“). Auf diese Weise gelangt man rasch zum höheren Blödsinn. Aber auch um den kommt man nicht ganz herum, wenn man denn dem Leben einen Sinn zu geben trachtet und die Dinge so lange zu Ende denkt, dass man im Absurden landet. So und nicht anders ist der Surrealismus entstanden. Die Frage nach der Seriosität des Denkens darf immer gestellt werden, aber auch das Hinterfragen der Seriosität führt sogar gelegentlich zu Einsichten und nützlichen Erfahrungen. Man soll ja auch den Spaß am Leben nicht ganz außen vor lassen.
Der Mensch und die Menschheit
Die Menschheit ist durch die Endsilbe „-heit“ als die Summe, als die Verabsolutierung des Einzelwesens Mensch definiert. Aber welche Schlüsse müsste man nach dieser Feststellung aus Begriffen wie Dummheit oder Weisheit ziehen?
Nein, diese Schlüsse ziehen wir jetzt nicht, wir haben andere Sorgen, weil wir gelesen haben, eine von der NASA in Auftrag gegebene und mitfinanzierte Studie habe ergeben, dass das Modell der Menschheit ausgedient habe. Der Untergang sei unvermeidlich, egal welche Strategien auch ergriffen würden. Der Grund liege in der Natur unserer Gesellschaft. Fünf Faktoren, so stellen der Mathematiker Safa Motesharrei und sein Team fest, seinen dafür verantwortlich; 1. Die Entwicklung des Bevölkerungswachstums. 2. Der Klimawandel. 3. Die Wasserversorgung. 4. Die Entwicklung der Landwirtschaft. 5. Der Energieverbrauch.
Ja, aber mit fortschreitender technologischer Entwicklung wird man dem Desaster doch entgegenwirken können! Nein, sagen die Forscher. Man werde zwar die Effizienz der Ressourcen-Nutzung steigern können, aber damit würde gleichzeitig die Nutzung gesteigert und der Verbrauch, womit die Einsparung der Ressourcen an anderer Stelle wieder kompensiert würde.
Damit werde der Zusammenbruch unserer Gesellschaft unvermeidlich, davon wiederum müsse man aber weiter kein Aufhebens machen, das sei ja nicht neu, dass Kulturen und Zivilisationen untergingen. Stimmt ja auch, um einige ist es sogar schade, man denke nur an das Reich der Pharaonen, an das antike Griechenland, an die Kultur der Majas. Dem Dritten Reich aber weint kein Mensch, so er bei Trost ist, eine Träne nach, aber das kann man auch nicht als Beispiel anführen, weil es sich dabei weder um eine Kultur noch um eine Zivilisation, sondern nur um den Abschaum der Menschheit gehandelt hat.
Gibt es einen vernünftigen Grund, dass wir auf der Welt sind? Gegenfrage: Braucht es dazu einen vernünftigen Grund? Braucht es dazu überhaupt einen Grund? Nein, braucht es nicht, es ist einfach schön, auf der Welt zu sein.
Gehen wir zunächst davon aus, dass es keinen Sinn macht, dass wir auf der Welt sind. Ob ich auf der Welt bin oder nicht, spielt zunächst einmal keine Rolle. Was für eine Rolle sollte das sein? Aber nun sind wir mal da, wir leben hier, sind mit allen möglichen Fähigkeiten ausgestattet, und also ist es das Natürlichste von der Welt, uns Gedanken zu machen, was wir mit unserem Leben anfangen. Denn nur einfach da zu sein und nichts zu tun wird sehr schnell langweilig bis zum Überdruss. Es macht ja auch keinen Sinn.
Ob Sinn oder nicht: Irgendwann kriegen wir garantiert Hunger und Durst. Dann gehen wir eben zum nächsten Bächlein und trinken, ist doch ganz einfach. Aber zu essen ist nichts da. Und jetzt geht’s los. Wie kriegen wir was zwischen die Kiemen? Na, wenn schon das Wasser einfach so dahergeflossen kommt, wird doch auch noch ein gebratenes Täubchen von irgendwo dahergeflogen kommen. Nein, wird es nicht. Also müssen wir uns was zu essen suchen. Und das ist auch vernünftig, weil wir sonst verhungern. Und es ist vernünftig, dass wir uns ein Haus bauen (der nächste Winter kommt bestimmt), dass wir Korn anbauen (um Brot backen zu können) oder brennen (Prost!), dass wir uns eine Kuh halten (wegen des Steaks und der Milch). Irgendwann stellt sich heraus, dass das alles viel rationeller zu bewerkstelligen ist durch Arbeitsteilung – der eine macht dies, der andere das, jeder, was er am besten kann, und allen geht’s gut. Ein bisschen wie im Paradies. Nein, dort musste man gar nichts tun, da war für alle gesorgt. Aber es war entsetzlich langweilig und sinnlos.
Und eben deswegen haben die ersten Menschen etwas getan, was sie nicht hätten tun sollen, was aber gerade deswegen so spannend war, weil’s verboten war: vom Baum der Erkenntnis zu essen. Nie war der Mensch so frei wie im Paradies, weil er alles tun durfte, was er wollte, bis auf eins, nämlich vom Baum der Erkenntnis zu naschen. Er musste sich um gar nichts kümmern, nicht ums Wetter, nicht um die Jahreszeiten, nicht um Blitz und Donner, nicht um die Regierung, nicht um die Polizei, nicht um die Gesetze, nicht um Grenzen, nicht um Verantwortlichkeiten. Eigentlich hatten die ersten Menschen doch allen Grund, ständig hurra zu rufen. Aber wenn es keine Regeln und keine Gesetze gibt, gibt es auch keine Freiheit. Und ohne Freiheit macht die ganze Hurra- oder gar Heil-Ruferei keinen Sinn. Auch das hat die Erfahrung (die Geschichte) gelehrt.
Die Freiheit ist vielfältig, aber es gibt sie nur durch Regeln und Gesetze; denn wenn ich alles tun darf, was ich will, ist dies nicht Freiheit, sondern Libertinage und führt zum Chaos. Denn Freiheit ist untrennbar mit Verantwortung verbunden, mit Verantwortung für das eigene Leben, für das der anderen, für Recht und Gesetz, für ein geordnetes Zusammenleben der Menschheit. Und für die Schöpfung insgesamt.
Was das für jeden von uns bedeutet, darum geht es in diesem Buch. Aber Vorsicht: Trotz des umfangreichen Titels dieser Arbeit wird hier keinerlei Vollständigkeit bei der Behandlung des Themas garantiert, sie ist auch nicht angestrebt. Der Grund ist leicht einzusehen: Zu allen Zeiten ist das Thema von Autoren bereits in der einen oder anderen Weise und Form behandelt worden, immer aus der Sicht der Zeit heraus, und so läge die Gefahr nahe, dass man sich in Wiederholungen von längst Gedachtem erginge, angefangen bei Theognis und Pseudo-Salomo bis hin zu Jean Paul Sartre oder Karl Popper. Ohne Bezug auf solch hervorragende Köpfe kann ein Denken allerdings auch heute nicht auskommen, weil, wer geboren wird, nicht in einen zeit- und geschichtslosen Raum geworfen wird, sondern in das geschichtliche Geflecht des menschlichen Geistes seit dem Anbeginn der Menschheit. Das Wunder der Einsteinschen Formel e = mc2 kann nur der würdigen, dem sich das Wunder der Höhlenmalereien von Altamira oder Lascaux je erschlossen hat. Ohne die Erkenntnisse der Urmenschen hinge Einsteins Relativitätstheorie frei im Raum (wie sinnig). Es wäre gar nicht dazu gekommen.
Mit dem Verzicht auf Vollständigkeit entfällt aber auch der systematische Aufbau der Arbeit. Die Zuordnung von Kapiteln bleibt deshalb weitgehend zufällig, nicht zuletzt auch aus dem Grunde, dass der Grundtenor der Arbeit, der sich mit der Utopie der Freiheit menschlichen Handelns befassen soll, immer wieder von anderer Seite und von anderen Ausgangspositionen angegangen wird. Der Verlust kapitelorientierter Systematik wird aber weitgehend wettgemacht durch den Vorteil, dass dieses Buch nicht nur strikter, konsequenter Lektüre zugänglich ist, sondern an jeder beliebigen Seite aufgeschlagen werden kann und dem Verständnis dennoch zugänglich bleibt.
Wir bestehen darauf: Es handelt sich hier nicht um eine wissenschaftliche Arbeit, sondern um das Ergebnis des mutwilligen Nachdenkens und Zusammentragens von Gedanken, wie sie sich bei jedem Menschen, sei es mit oder ohne äußere Anlässe, gelegentlich einstellen kann. Denn das menschliche Gehirn fängt mit der Geburt an zu denken (zu arbeiten) und hört erst mit dem Tode mit dieser Tätigkeit auf (vorausgesetzt, es findet nicht vorher eine Deformation des Denkapparates statt). Das kann man als gegeben hinnehmen und belassen, wie’s ist, oder man lässt die Pedanterie doch nicht ganz außen vor und beginnt irgendwann aufzuschreiben, was sich da in der geistigen Wahrnehmung tut. Ein bisschen Sorglosigkeit und Mutwillen gehört in der Tat dazu. Und ein bisschen bedenklich ist ein solcher Vorsatz obendrein. Sei’s drum!
Der Anfang ohne Hartz IV
Des Schweines Ende ist der Wurst Anfang. (Wilhelm Busch)
Wie auch immer: Eines Tages sind wir in der Welt, haben keine Ahnung, wie wir hierhergekommen sind, wir haben es nicht einmal gewollt, gefragt worden sind wir jedenfalls nicht, stehen da „im Zwischenraume zwischen Welt und Spielzeug – an einer Stelle, die seit Anbeginn gegründet war für einen reinen Vorgang“, wie Rainer Maria Rilke es in seiner Vierten Duineser Elegie beschreibt. Und stellen irgendwann fest, dass es mit dem reinen Vorgang nun auch wieder nicht weit her ist. Was machen wir hier eigentlich?
Nach neun Monaten bedingungslosen Asyls im Mutterleib kriegen wir gekündigt und müssen raus ins Leben und das mit weniger als Hartz IV. Wir können nichts, wissen nichts, wir haben nichts, und es ist uns auch nicht gegeben, wie Parsifal im Narrenkleid als reine Toren durchs Leben zu gehen, dafür wird rechtzeitig und vielfach gesorgt. Parsival wurde immerhin Gralskönig. Aber unsereiner? Wir müssen uns ganz banal abrackern hienieden.
So ganz unvorbereitet kommen wir übrigens doch nicht auf die Welt. Die Wissenschaft will herausgefunden haben, dass wir bereits vor der Geburt, also in der Zeit im Mutterleib, eine gewisse Persönlichkeitsentwicklung durchlaufen und Kontakte nach draußen aufnehmen, wenn sie uns denn von draußen angeboten werden: durch Handauflegen auf den Mutterleib zum Beispiel, durch Gespräche oder Musik, die man im Mutterleib mitbekommt. Aber bis wir das in irgendeinen vernünftigen und verstehbaren Zusammenhang stellen können, braucht es seine Zeit. Allerdings weiß ich (außer von Oskar Matzerath in Günter Grass’ „Blechtrommel“ und von Kurt Tucholskys Zwillingen im Mutterleib: „Ich geh raus!“ „Du gehst nicht raus! Streikbrecher!“) von niemandem, dass er sich an die Zeit im Mutterleib auch tatsächlich erinnern könnte.
Allein die Tatsache, dass wir ab sofort, unmittelbar nach der Geburt, kaum dass wir in frische Tücher gewickelt worden sind, vor der Notwendigkeit stehen, uns in der Familie, in die wir hineingeboren sind, zurechtzufinden, macht uns klar, dass das nicht ganz leicht wird, was da auf uns zukommt. Kinder heute sind da etwas besser dran als Gleichaltrige vor siebzig, achtzig oder gar hundert Jahren, als sich über Kinderwiegen und Kinderwagen immer wieder und ohne jede Vorwarnung riesige Gesichter alter, nach Patschuli stinkender Tanten mit großen schwarzen Hüten beugten und in Entzückensrufe ausbrachen: „Eiteitei, eiteitei, isser nich süüüüß!“ Als Neugeborener kann man doch noch gar nicht unterscheiden, ob das ein großer schwarzer Hut ist oder gar ein großer schwarzer Unheilsvogel, der einen, kaum dass man auf der Welt ist, schon wieder holen will, weiß Gott wohin! Damals hat so mancher einen Schock fürs Leben davongetragen. Heute könnte ein Kind einen solchen Schock zugegebenermaßen auch bekommen, wenn beispielsweise Nina Hagens Gesicht plötzlich über dem Kinderwagen erschiene (aber das kommt Gott sei Dank nur selten vor). Lüftlmalerei ist nämlich nicht jedermanns Sache.
Uns später in die Gesellschaft einzugliedern und uns dort durchzusetzen, den Anforderungen gerecht zu werden, die der Staat an uns stellt, und uns einen Standort in unserem Volk und unserer Nation zu suchen und ihn zu behaupten, macht uns rasch klar, dass wir die Zeit auf Erden nicht mit reinem Zuckerschlecken werden verbringen können. Und dann entsteht im Laufe des Lebens zusätzlich noch ein Geflecht persönlicher Beziehungen, mit dir, mit anderen, mit Freunden und Feinden, mit interessanten Menschen und mit Langweilern. All diese Begegnungen, all diese Gegebenheiten treiben uns die Flausen, das Leben, als wäre jeden Tag Weihnachten, zu vertändelnden, rasch aus. Wenn nicht, sind wir zum Scheitern verurteilt, noch bevor wir überhaupt wissen, wozu wir da sind und was der Grund unseres Scheiterns ist. Da ist man schneller auf der Couch des Psychiaters als im wirklichen Leben.
Existenzialphilosophisch heißt das, wir sind in die Welt geworfen – das ist die Grunderfahrung, die wir mit so bedeutenden Menschen wie den Philosophen Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger und Jean Paul Sartre teilen dürfen. Da kann man nun liegen bleiben, wo man hingeworfen wurde, aber das ist weder sinnvoll noch kurzweilig, erst durch das Tun wird man Mensch, verwirklicht man sich selbst, denn irgendeinen Grund muss das doch haben, dass wir in der Welt sind, weil ja der Aufwand, mit dem der Mensch in die Welt gebracht wurde, weiß Gott gigantisch ist. Das Malheur: Wer was tut, macht sich die Hände dreckig und macht sich schuldig, auch wenn er es gar nicht will. Irgendwann findet sich der Mensch in der Situation des antiken Dramas, in einer Situation der Ausweglosigkeit (gr. Aporia), aus der man sich, wenn überhaupt, nur selbst befreien kann. Das kann man machen wie Sisyphus, dem die Götter, um ihn zu bestrafen, aufgetragen hatten, einen Fels den Berg hinaufzustemmen, aber kurz unterhalb des Gipfels glitt ihm der Fels stets aus den Händen und stürzte polternd wieder hinab ins Tal. Sisyphus nahm sein Schicksal auf sich und schleppte den Stein immer aufs Neue hinauf. Bei so sinnloser Tätigkeit ohne Hoffnung auf Erfolg kann man freilich verrückt werden, aber Sisyphus war ja kein Dummer: Dem Dilemma entkomme er nur, so überlegte er, wenn er der sinnlosen Tätigkeit durch eigenen Entschluss und eigenes Wollen einen Sinn gebe, indem er die Tätigkeit als solche akzeptiere und das Tun selbst als Sinngebung begreife. Auf diese Weise schlug er den hinterhältigen Göttern sogar ein Schnippchen, und eben das machte ihm auch noch ordentlich Spaß. „Wir müssen uns Sisyphus als einen glücklichen Menschen vorstellen“, schließt Albert Camus seinen faszinierenden Essay „Der Mythos von Sisyphus“. Ein bisschen Selbstbetrug ist sicher dabei. Aber andere Denker sind ja auch zu ähnlichen Überlegungen gekommen: Nietzsche gehörte zu ihnen („to do ist to be“) oder Kant („to be ist to do“) oder gar Frank Sinatra („do be do be do“). Auf diese Weise gelangt man rasch zum höheren Blödsinn. Aber auch um den kommt man nicht ganz herum, wenn man denn dem Leben einen Sinn zu geben trachtet und die Dinge so lange zu Ende denkt, dass man im Absurden landet. So und nicht anders ist der Surrealismus entstanden. Die Frage nach der Seriosität des Denkens darf immer gestellt werden, aber auch das Hinterfragen der Seriosität führt sogar gelegentlich zu Einsichten und nützlichen Erfahrungen. Man soll ja auch den Spaß am Leben nicht ganz außen vor lassen.
Der Mensch und die Menschheit
Die Menschheit ist durch die Endsilbe „-heit“ als die Summe, als die Verabsolutierung des Einzelwesens Mensch definiert. Aber welche Schlüsse müsste man nach dieser Feststellung aus Begriffen wie Dummheit oder Weisheit ziehen?
Nein, diese Schlüsse ziehen wir jetzt nicht, wir haben andere Sorgen, weil wir gelesen haben, eine von der NASA in Auftrag gegebene und mitfinanzierte Studie habe ergeben, dass das Modell der Menschheit ausgedient habe. Der Untergang sei unvermeidlich, egal welche Strategien auch ergriffen würden. Der Grund liege in der Natur unserer Gesellschaft. Fünf Faktoren, so stellen der Mathematiker Safa Motesharrei und sein Team fest, seinen dafür verantwortlich; 1. Die Entwicklung des Bevölkerungswachstums. 2. Der Klimawandel. 3. Die Wasserversorgung. 4. Die Entwicklung der Landwirtschaft. 5. Der Energieverbrauch.
Ja, aber mit fortschreitender technologischer Entwicklung wird man dem Desaster doch entgegenwirken können! Nein, sagen die Forscher. Man werde zwar die Effizienz der Ressourcen-Nutzung steigern können, aber damit würde gleichzeitig die Nutzung gesteigert und der Verbrauch, womit die Einsparung der Ressourcen an anderer Stelle wieder kompensiert würde.
Damit werde der Zusammenbruch unserer Gesellschaft unvermeidlich, davon wiederum müsse man aber weiter kein Aufhebens machen, das sei ja nicht neu, dass Kulturen und Zivilisationen untergingen. Stimmt ja auch, um einige ist es sogar schade, man denke nur an das Reich der Pharaonen, an das antike Griechenland, an die Kultur der Majas. Dem Dritten Reich aber weint kein Mensch, so er bei Trost ist, eine Träne nach, aber das kann man auch nicht als Beispiel anführen, weil es sich dabei weder um eine Kultur noch um eine Zivilisation, sondern nur um den Abschaum der Menschheit gehandelt hat.