Herzweh, aber Hauptsache Frühling im Kopf

Herzweh, aber Hauptsache Frühling im Kopf

Lilo Altenkopf


EUR 18,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 104
ISBN: 978-3-99131-861-3
Erscheinungsdatum: 15.03.2023
In sich selbst zurück zu reisen, vorbei an den Meilensteinen eines längeren Lebens, erfüllt dich mit Dankbarkeit. In Rückbesinnung an die Menschen, die dich prägten, auffingen oder aufgaben und an die Erlebnisse, die dein Selbst formten, fühlst du dich reich.
3. Kapitel
Das Telefon klingelt nicht oder der Fluch des Vierteltelefons

Wenn bei uns das Telefon klingelte, konnte dies alles bedeuten, meist aber roch es nach Action, irgendetwas passiert, dachten wir in unserem, für uns Mädchen, völlig ereignislosen, aber hungrigen Leben, noch in völliger Unwissenheit, wie schnell unsere gemeinsame Zeit vergehen würde, wieviel Ungeahntes noch geschehen und wieviel Leid wir noch teilen würden müssen, bis jeder für sich erkannt haben würde, dass Golgotha jetzt und hier ist, für uns alle. Und vor allem, wie sehr wir diese Zeit der damals so empfundenen Ereignislosigkeit vermissen würden! Heute würde ich diese Zeitspanne Zufriedenheit und Zuversicht nennen, ohne Hindernisse, ohne Zukunftsangst.
Und aus der Wanduhr tropft die Zeit, in Wirklichkeit ist es ein tropfender Wasserhahn, das fällt mir extrem unangenehm auf, weil mein Vater Installateur ist und ich keine verwunschene Prinzessin bin, sondern eine Gans, ein weißes Vieh mit Federn. Wie weiße Schleier steigt der Rauch meiner viel zu vielen Zigaretten auf. Vor kurzem noch liebte ich es, mit meinen weißlackierten Zehennägeln die schwarze Erde zu durchwühlen, ich meine damit, ich arbeitete im Garten, selten, aber doch! Ich trug elegant den schwarzen Baukübel mit den Erdäpfeln und achtete auf das Weiß meiner Bluse, bis es keinen Sinn mehr hatte, Weiß hatte bei mir nie Sinn und ich war gesamtgesehen keine weiße Gans mehr, sondern eine abgestürzte, dreckige.
Wie dumm muss jemand sein, der zuerst zu viel Wein trinkt, zu viel raucht, zu wenig schläft, sich zu wenig bewegt und dann zur Nervenberuhigung, wenn das Herz schon flattert, zu viel Baldriantropfen trinkt. Der Baldrian stößt widerlich auf, das Licht zu grell, der Kopf leer und der Wasserhahn tropft noch immer. Im Kopf klingelt den ganzen Tag das Telefon, ich warte darauf, dass ich dir sagen kann, dass ich dich liebe. Morgen wird alles ganz anders, den Tag werde ich völlig neu erleben, denke ich und werde gleich, wie ich mich kenne, aufstehen, um eine Zigarette anzuzünden, noch ein Glas Grünen Veltliner trinken und daran denken, wie schön es wäre, wenn jetzt das Telefon klingelte. So, alles erledigt, Zigarette angezündet, Baldrian mit Veltliner runtergespült und ich möchte endlich den tropfenden Wasserhahn zum Schweigen bringen, Baldrian wirkt nicht gegen tropfende Wasserhähne. Ich möchte schlafen, aber nicht alleine, mich nicht schwitzend hin und her wälzen und das alles wächst mir über den Kopf, den blondgelockten, einfach strukturierten, und endlich habe ich vergessen, der wievielte Veltliner und die wievielte Zigarette in mir verdunsten.
Ich war doch nicht immer so, ich war ein Fels in der Brandung! Komm runter, du bist kein Fels, du bist eine dumme kleine Gans, die sich das angesichts des leicht verschwommenen Spiegelbildes eingestehen sollte. So, jetzt sind wir einen Schritt weiter, aber das Telefon klingelt noch immer nicht. Vorgestern, während eines schweren Gewitters sprach ich folgendes Gebet: Lieber Gott, lass das Haus ruhig zusammenrumpeln, aber lass das Leitungsnetz bitte nicht zusammenbrechen! Ich sah mich schlammverklebt, unter Trümmern, am Bauch vorwärts robbend, das klingelnde Telefon abheben und vor der großen Explosion noch einmal in den Hörer seufzen: Leb wohl, leb wohl, kleines weißes Federtier, das trotzdem darauf wartet, dass das Telefon klingelt.

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