Einen Rockstar küsst man nicht

Einen Rockstar küsst man nicht

Margitta Swialkowski


EUR 21,90
EUR 17,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 414
ISBN: 978-3-99146-059-6
Erscheinungsdatum: 08.08.2023
Claudius hat das Zeug, ein Rockstar zu werden, er ist nicht nur ein Blickfang, sondern überzeugt auch musikalisch. Doch im Leben kommt es oft anders als geplant – das muss Claudius auf die harte Tour erfahren und allerlei Hürden überwinden.
Das Wiedersehen


Claudius saß mal wieder in seinem kleinen Tonstudio und bastelte verzweifelt an neuen Songs. Wie so oft in letzter Zeit fiel ihm nichts ein. „Sackgasse“, das wäre mal ein neuer Titel für ein Lied. Plötzlich klingelte sein Handy. Noch in Gedanken versunken, griff er achtlos zum Telefon. Am anderen Ende hörte er eine ihm bekannte Frauenstimme: „Hallo ich bin’s … Gilla.“ Jetzt fiel ihm vor Überraschung fast das Handy aus der Hand und es verschlug ihm die Sprache. Das war bei Claudius äußerst selten, denn er hatte immer lockere Sprüche auf den Lippen. Es entstand eine kurze Stille, doch dann fand er zu sich: „Hallo Gilla, freue mich, dich zu hören.“ Das waren etwas sinnlose Worte und Claudius ärgerte sich über diesen belanglosen Satz. Sie waren in der Jugendzeit ein Paar, doch dann kamen viele Stolpersteine dazwischen und es sollte wohl nicht sein. Irgendwann hatten sie sich zwar immer mal kurz wiedergesehen und einen neuen Versuch gestartet, aber das Schicksal entschied jedes Mal gegen sie.
An ihr letztes Wiedersehen erinnerte sich Claudius noch ganz genau.
Gilla war ebenfalls in der Kulturbranche tätig und sie hatte mit ihrer Showtanzgruppe gerade einen großen Auftritt bei einem Tanzevent. Claudius war mit der Band ganz in der Nähe und so machte er es tatsächlich wahr und tauchte dort auf. Es war schon in den späten Abendstunden, da rief er sie an: „Hey, ich stehe am Einlass und komme ohne Karte nicht rein.“ Gillas Herz schlug plötzlich schneller. Lag es daran, dass sie so rasch wie möglich übers Gelände zur Einlasskontrolle rauschte oder war es die Aufregung, Claudius nach so langer Zeit wiederzusehen? Natürlich hatte sie im Internet schon längst nach ihm gegoogelt und wusste, wie er jetzt so ungefähr aussah. Nur noch ein paar Meter und dann war sie da. Ihr schoss, wie in alten Zeiten, die Röte ins Gesicht. Darüber hatte sie sich schon in ihrer Jugend geärgert. Zum Glück war es jetzt stockdunkel und er würde dies nicht bemerken. Da entdeckte sie Claudius. Er stand da, in einer Lederjacke und Jeans. „Hallo Gilla, wie geht’s?“, sagte er kurz und knapp. Sonst lag ihm doch immer ein fetziger Spruch auf der Zunge, aber kaum sah er Gilla, war’s mal wieder vorbei. Sie sah fast noch wie früher aus. Nur die blonden Haare waren kürzer. Wie lange hatten sie sich jetzt nicht mehr gesehen? Es musste Lichtjahre her sein. Claudius konnte nicht anders, als Gilla gleich zu umarmen, okay, rein freundschaftlich, denn er war inzwischen in einer festen Beziehung. Ob Gilla es auch war? Sie schritten schweigsam zur Festbühne, denn Gillas Showgirls waren bald an der Reihe. Es war eine herrliche Freilichtbühne, die auf dem Berg einer Kleinstadt lag. Burgen umrahmten das Ambiente. Scheinwerfer durchdrangen die Nacht und Claudius hörte erste Klänge von Musik. Das Programm musste schon in vollem Gange sein. Sie waren bei den Zuschauerrängen angekommen und die Leute packten gerade ihre Regenschirme aus, denn es begann zu nieseln. Gilla und Claudius schlüpften beide im Zelt der Tontechniker unter, das oberhalb der Zuschauerränge stand, und sie verfolgten das Programm. Claudius war seltsam schweigsam, dabei hatte er so viele Fragen. Dann musste Gilla ihn kurz verlassen, denn sie entschwand hinter der Bühne zu ihren Mädchen. Claudius hörte der Musik zu und verfolgte gedankenlos die anderen Tanzgruppen auf der Bühne. Er war nun gespannt auf Gillas Showtruppe und dann folgte die Ansage: „Begrüßen sie die Gruppe Break down aus Gera mit einem herzlichen Applaus“. Claudius dachte noch kurz über die Bedeutung des Namens nach, fand aber keinen Sinn. Viel Zeit dazu verblieb ihm nicht, denn schon standen die Mädels auf der Bühne und sie präsentierten „Herzbeben“. Die roten Kostüme mit Pailletten glitzerten wie tausend Sterne im nächtlichen Scheinwerferlicht. Die Laserstrahlen und der einfallende Nieselregen sorgten für einen unglaublichen optischen Effekt. Claudius stand wie gebannt und war völlig beeindruckt von den Tanzmädels. Er glaubte immer, er sei mit seiner Band der Held der Nation, aber das, was er da auf der Bühne sah, war grandios. Irgendwie zitterte er jetzt am ganzen Körper. Natürlich war er etwas durchnässt und die Kühle der Nacht kroch langsam unter seine Lederjacke, aber das Zittern verursachte irgendetwas anderes. Und da stand Gilla schon wieder neben ihm. Er nahm sie in den Arm und drückte sie fest an sich: „Toll deine Mädels.“ Mehr brachte er mal wieder nicht heraus, dabei wollte er so viel sagen. Die Zeit verging und das Fest endete. Gilla musste mit ihren Mädchen die Heimreise antreten und Claudius wurde auch im nahe gelegenen Hotel von seiner Band erwartet. Die Jungs hatten sich ohnehin gefragt, warum er das Auto noch mal kurz brauchte und davonrauschte. Er wollte Gilla noch so viel sagen, doch irgendwie stand er auf dem Schlauch. So verabschiedeten sie sich mal wieder kurzerhand voneinander und jeder hoffte auf ein Wiedersehen und wusste doch, dass es dies wohl in Kürze nicht geben würde. Gilla fuhr mit ihren Mädchen durch die dunkle Nacht nach Hause und Claudius nahm Kurs auf das Hotel. Noch immer regnete es wie aus Kannen und er war froh, dass er heil im Hotel ankam. Ihm gingen tausend Gedanken durch den Kopf. Er hatte das Gefühl, sich erneut verliebt zu haben. Konnte das nach diesen wenigen Augenblicken passieren? Wenigstens hatte er Gilla seine neue Telefonnummer gegeben. Aber ob sie ihn jemals anrufen würde? Daran glaubte er kaum. Als Claudius im Hotel ankam, war alles schon dunkel. Er schlich die Treppe zu seinem Zimmer hoch und schloss leise die Tür auf. Natürlich hatte Bandkollege Hans mal wieder die Schuhe im Flur verteilt und Claudius stolperte mit einem lauten Knall vor den Schrank. Hans schnellte hoch: „Auch schon da! Wir wollten schon die Polizei alarmieren. Wo warst du so lange?“ Claudius legte nur den Finger auf den Mund: „Psst, schlaf weiter.“ Dann rollte er sich auch ins Bett, aber an Schlaf war nicht zu denken.
Am Morgen stand er völlig zerknittert auf und die Bandkollegen löcherten ihn mit Fragen. Sie bekamen keine Antwort. Aber sie waren von Claudius einiges gewöhnt. Der Frontman der Band landete in der Vergangenheit schon mal hier und da nach einer Show in fremden Betten. Aber das ist eine andere und lange Geschichte.
Nun trat die Band die Heimfahrt nach Berlin an. Sie kämpften sich von einem Stau zum anderen und Claudius hatte genug Zeit zum Nachdenken. Er hing wortlos in der hinteren Ecke des Transporters und die Jungs schauten nachdenklich auf die Rückbank. Sonst gab Claudius immer den Kasper und unterhielt die Jungs auf jeder Fahrt, sodass der Fahrer vor Lachen kaum noch das Lenkrad halten konnte. Aber diesmal war alles anders. Keiner traute sich, noch eine Frage zu stellen. Die Jungs machten sich nur Sorgen, dass mal wieder irgendwas Schlimmes passiert war, denn Claudius hatte eine dunkle Vergangenheit. Sie kamen nach endlosen vier Stunden Fahrtzeit in Berlin an und Claudius stieg mit den kargen Worten „Tschau bis Dienstag zur Probe“ aus und verschwand im Hauseingang.
Seit dieser kurzen Begegnung mit Gilla war nun schon wieder fast eine halbe Ewigkeit vergangen. Claudius dachte zwar ab und zu an Gilla, doch da sie sich nicht meldete, versuchte er, diese Gedanken aus seinem Hirn zu verbannen. Doch nun war es wahr geworden, er hörte Gillas Stimme am anderen Ende der Leitung: „Ich muss dir was Wichtiges erzählen“, sagte sie. Claudius klopfte das Herz bis zum Hals und er spürte seine Halsschlagader. Was war passiert? Aufmerksam drückte er sein Handy ans Ohr und wollte nichts verpassen. „Unsere Wurzeln werden ausgerissen“, hörte er Gilla am anderen Ende der Leitung sagen. Er verstand kein Wort. „Was ist los?“ „Mein Elternhaus wird abgerissen.“ Claudius begriff noch immer nichts. Sie hatte doch früher in einem großen Institutskomplex gewohnt. Dort waren für einige Arbeiter Wohnungen gebaut worden. Gilla lebte da seit ihrer Kindheit und als sie sich damals kennenlernten, verbrachten beide ihre schönste Jugendzeit dort. Das kann man doch nicht abreißen, das war doch ein riesiges Objekt? Okay, nach der Wende mussten alle Bewohner raus und die Wohnungen wurden zu Laboren umgerüstet. Aber Gilla schaute in der Vergangenheit oftmals am Institut vorbei und erinnerte sich gern an ihre Wurzeln und ihre Jugend. Und jetzt las sie voller Schrecken in der Zeitung, dass die alten Gebäude abgerissen und ein neues Forschungszentrum dort hingebaut werden sollte. Das riss Gilla völlig den Boden unter den Füßen weg und sie musste es Claudius unbedingt mitteilen.
Auch wenn Claudius nun schon lange Jahre in der Großstadt Berlin wohnte, so dachte er in seiner Midlife-Crisis oftmals an seine Jugend zurück. Und irgendwie empfand er nach dieser Meldung plötzlich auch, dass man ihm die Wurzeln ausreißen wollte.
Mal wieder entstand eine kurze Stille am Hörer. Dann sprudelte Gilla aber los: „Stell dir vor, die haben schon alle Fenster und Türen herausgerissen und die Bagger stehen vor der Tür. Ich würde ja am liebsten noch mal ins Gebäude rein und Fotos machen. Wenn alles weg ist, ist es zu spät.“ Sie ärgerte sich nämlich schon lange, dass sie damals beim Auszug, nach der Wendezeit, keine Fotos von der alten Wohnung gemacht hatte. Sie war inzwischen in eine schöne neue Wohnung gezogen und hatte die Vergangenheit hinter sich lassen wollen. Aber irgendwie holte sie diese nun wieder ein und ihr standen die Tränen in den Augen. Ihre Stimme zitterte am Telefon. Ihr Elternhaus, ihre Kindheit und Jugendzeit … alles weg. Claudius hörte ihre Aufregung: „Das Gebäude ist mit Bauzäunen abgesperrt und darauf steht >Betreten verboten<. Da traue ich mich nicht rein. Ich werde es aber auf alle Fälle von außen noch mal fotografieren und dir die Fotos schicken. Da hast du an deine Jugend auch eine kleine Erinnerung.“ Claudius überlegte kurz und meinte dann, ohne lange nachzudenken: „Ich komme!“ Nun war Gilla wortlos und meinte nach einer kurzen Pause: „Wie? Du kommst?“ „Na, ich setz mich morgen in den ICE und komme zu dir. Da dringen wir gemeinsam ins Gebäude ein und machen Abschiedsfotos. Ich schicke dir eine SMS, wann ich da bin. Holst du mich am Bahnhof ab?“ Gilla konnte es kaum glauben. Das war doch von Claudius wieder irgendein Spaß, der will mich doch verarschen und findet das nur lustig, dass ich so an dem alten Institutskasten hänge. Gilla versprach zwar, ihn abzuholen, aber sie glaubte nicht an sein Kommen. Doch dann folgte nach einer halben Stunde tatsächlich eine SMS auf ihrem Handy. „Komme morgen um 17.30 Uhr am Bahnhof an.“
Der nächste Tag war gekommen, langsam verfärbte sich die Sonne zu einem roten Fußball. Diese stand schon so tief, dass sie ihre Hand vor die Augen halten musste, um die Bahnhofsuhr zu erkennen. Die Abendsonne blendete ihr mitten ins Gesicht. Gilla stand am Bahnhof und ihr wurde kalt und heiß. Es war 17.25 Uhr und sie überlegte, ob sie sich zum Affen machte. Claudius würde bestimmt in Berlin sitzen und sich totlachen. Nun war es genau 17.30 Uhr und der Zug wurde mit einer Verspätung von einer Viertelstunde angekündigt. Da war sie nun schon so aufgeregt und dann konnte die Bahn nicht einmal pünktlich sein. Minute um Minute verstrich. Sie sah zur Bahnhofuhr und der große Zeiger tickte unaufhaltsam weiter. 17.45 Uhr und da sah sie in der Ferne den ICE um die Kurve kommen. „Einfahrt hat der ICE aus Berlin zur Weiterfahrt nach München“, hörte sie durch den Bahnhofslautsprecher. Die Bremsen quietschten und der Zug kam zum Stehen. Die Türen öffneten sich und viele Menschen betraten den Bahnsteig mit Koffern und Taschen. Gilla erblickte keinen Claudius. War ja klar. Sie wollte sich schon umdrehen und enttäuscht die Treppe hinuntergehen. Wieder mal auf die Streiche von Claudius reingefallen. Aber irgendwie drehte sie sich doch noch einmal um und sie schaute auf den nun schon fast leeren Bahnsteig. Ganz am Ende sah sie den Schatten eines recht großen Mannes und als dieser näher kam, erkannte sie Claudius in Lederjacke. In der Hand hielt er eine kleine Reisetasche. Mal wieder schoss ihr die Röte vor Aufregung ins Gesicht. Claudius kam näher. Als er endlich vor ihr stand, reichte er ihr die Hand und drückte sie fest an sich. Nach der ersten unsicheren Begrüßung fragte er: „Bist du mit dem Auto da, oder fahren wir per Bus?“ Gilla lächelte ihn etwas verlegen an. „Ich bin mit dem Auto da, wir können gleich zum Institut fahren, wenn du möchtest?“ Claudius nickte nur und schlang seinen Arm über ihre Schulter. Er war knapp 1 Meter 90 groß und sie ein abgebrochener Zwerg von 1 Meter 60. Das weckte schon damals in Claudius den Beschützerinstinkt. Er spürte, wie dieses Gefühl wieder in ihm hochkroch. Sie schritten die wenigen Stufen des Bahnhofs hinunter zu einer kleinen Unterführung und standen schon auf dem Parkplatz. Dann stiegen sie in Gillas Auto. Sie hatte sich einen Opel geleistet. Etwas neidvoll blickte er auf das Fahrzeug, denn dieser schien fabrikneu zu sein. Bei ihm reichte es derzeit nur zu einem klapprigen VW. Nach zehn Minuten waren sie dann auch schon am Ort des Geschehens. Die Bauarbeiter hatten zum Glück alle schon Feierabend und es herrschte Ruhe auf der Baustelle.
Gilla nahm den Fotoapparat und machte viele Bilder vom Gebäude. Claudius inspizierte inzwischen den Bauzaun. Überall stand „Betreten verboten! Gelände ist videoüberwacht!“ Claudius war früher ein kleiner Ganove und bemerkte gleich ganz genau, dass hier keine Kameras waren. Also Bauzaun beiseitegeschoben und nichts wie hinein. Gilla war wie immer sehr ängstlich, folgte Claudius aber gehorsam.
Natürlich war nach den vielen Jahren hier vieles anders. Trotzdem schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Sie stiegen die steinerne Treppe zu ihrer alten Wohnung hinauf. Rechts war die Tür zu den Laboren und links die Tür zu ihrem alten Zuhause. Diese war aber längst herausgerissen und sie hatten freien Eintritt. Da standen sie nun in ihrer alten Wohnung ohne Fenster und auch eine Wand war bereits enternt. Sie stapften durch den Bauschutt: „Hier links war unser Bad, geradeaus die Küche und daran war die Stube angrenzend.“ Alles erschien ihnen plötzlich viel kleiner als damals. Gilla konnte sich gar nicht mehr vorstellen, dass hier mal ein Sofa, Tisch, Schrank und Fernseher Platz gefunden hatten. Wie passte das damals alles hinein? Ihr Kinderzimmer und das elterliche Schlafzimmer befanden sich in der 2. Etage. Sie stiegen nun die Holztreppe hinauf und die alten Dielen knarrten unter ihnen. Über einen Dachboden, den sie damals zum Wäschetrocknen nutzten, kamen sie zur Tür des Schlafzimmers. Da waren die Türen noch drin. Claudius machte diese vorsichtig auf. Sie glaubten zu träumen. Da war tatsächlich die Zeit stehen geblieben. Um in Gillas Zimmer zu kommen, musste man durchs Elternschlafzimmer gehen. Das empfand Claudius früher immer als eine große Hürde. Sie schauten sich beide entgeistert an. Da war noch die Tapeten aus alten Zeiten, sogar die Einbauschränke waren noch unberührt vor Ort. Man konnte es nicht glauben, auch in Gillas Zimmer sah es noch aus wie früher. Selbst das Waschbecken und sogar der Zahnputzhalter befanden sich noch an Ort und Stelle. Bei all den Umbaumaßnahmen für Labore hatte man die obere Etage wohl vergessen und nie betreten. Nun versagten Gilla und Claudius die Knie und sie mussten sich erst mal in ihr altes Zimmer auf den Boden setzen. Sie saßen nun genau da, wo früher ihr Bett stand und sie abends lange Gespräche geführt hatten. Irgendwie vergaßen sie Raum und Zeit und sie starrten in die Richtung, wo sich damals der Fernseher befand. Sie fühlten sich, als ob sie im alten Bett saßen und in die Röhre glotzten. Und sie tauchten in einen Film der Erinnerungen ein. Vor ihnen liefen ihre ganze Jugend und die Vergangenheit ab.



Gedanken zwischen Kindheit und Jugend


Vor Claudius lief seine Kindheit wie ein Film ab. Hatte er jemals Gilla so genau darüber erzählt? Nach so langen Jahren wusste er gar nicht mehr, was er damals über sich preisgegeben hatte? Über ihn schwebte immer eine Art Geheimnis und Gilla musste damals erst langsam lernen, ihm zu vertrauen. Aber heute, in ihrem alten Kinderzimmer, nach so vielen Jahren, vertraute sie ihm plötzlich und sie lauschte aufmerksam seinen Worten:
Er war so knappe zehn Jahre alt, da fing die ganze Misere an. Sein Vater war ein berühmter Schauspieler und kaum zu Hause. Und wenn er mal da war, mussten alle nach seiner Pfeife tanzen und der Alte hing den Obermacker raus. Claudius fühlte sich zu Hause nie wohl. Sein großer Bruder war ein Streber in der Schule und brachte nur Einsen und Zweien nach Hause. Sein kleiner Bruder, stets der niedliche und Liebling der Familie, war gerade eingeschult worden. Claudius fühlte sich wie ein Sandwich und er glaubte, weil er der Mittlere war, dass man ihn nicht so liebte wie seine Brüder. Außerdem sah er anders aus als die beiden. Die hatten beide blonde Haare und er dunkle. Auch die Eltern waren eher hellere Typen. Aber vielleicht schlugen die Gene von den Großeltern durch?
Es wurde von Jahr zu Jahr schlimmer. Claudius fühlte sich wie der Butler der Familie. Er musste beim Kochen helfen, den Tisch decken und abräumen und oft genug den Abwasch ganz allein bewältigen. Wenn er damit fertig war und endlich zu seinen Freunden abdampfen wollte, hielt ihn der Vater mit weiteren netten Aufgaben zurück. „Hast du die Treppe schon gewischt, wir sind mit der Hausordnung dran!“ Also blieb Claudius nichts anderes übrig, als den Eimer zu schnappen und die Treppe zu wienern. Der Vater kontrollierte natürlich am Ende alles und wehe, da war in einer Ecke Schmutz vergessen worden! Dann bekam Claudius gleich ein paar hinter die Ohren und durfte zum Dank auch gleich noch den Gehweg vor dem Haus kehren. Oft genug kam dann noch hinzu, dass irgendetwas im Haushalt fehlte und Claudius noch mal in den Konsum laufen musste. So wurde es Abend und er hatte wieder keine Zeit für seine Freunde gefunden. Ab und zu versuchte Claudius aufzumucken, denn er sah langsam nicht mehr ein, warum seine Brüder null Komma nichts machen mussten. Der Vater schnaufte ihn dann nur an: „Dein Bruder muss fürs Abitur lernen und der Kleine ist noch zu klein.“ Na toll! Er musste wohl nicht lernen? Wenn er schlechte Noten nach Hause brachte, bekam er den Riemen vom Vater zu spüren.
An eines konnte sich Claudius noch ganz genau erinnern. Einmal im Monat kam immer ein Paket aus dem goldenen Westen. Komisch nur, dass er da nie etwas davon abbekam. Okay, mal ein Stück von der Schokolade. Aber die tollen Westklamotten erhielten die Brüder. Und wenn ihm mal was perfekt gepasst hatte, wurde es in den Schrank gelegt. „Das ist für deinen kleinen Bruder, das passt ihm in 1–2 Jahren.“ Mit den verdammten Westpaketen hatte damals wohl alles angefangen. Claudius ärgerte sich maßlos darüber, dass er in den alten abgetragenen Klamotten seines großen Bruders immer in die Schule gehen musste. Auf die Schokolade war er gar nicht so scharf. Aber Weihnachten ärgerte er sich schon, wenn seine Brüder aus dem Paket die Matchbox-Autos, die Filzstifte und die tolle Federmappe bekamen. Er hatte auch keinen Bock mehr zur Schule zu gehen. Zwanghaft tat er es zwar jeden Tag, aber seine Leistungen ließen immer mehr zu wünschen übrig. Im Gegensatz zu seinem Bruder brachte er Vieren und Fünfen mit nach Hause und oftmals setzte es dann vom Vater Prügel. So war Claudius ganz froh, wenn der Alte wieder auf Theatertour war oder irgendeinen Film drehte. Die Mutter unterschrieb dann die miesen Noten. Sie hatte zwar immer ein schlechtes Gewissen, doch sie erzählte ihrem Mann nichts davon. Am Ende des Schuljahres kam dann aber bei der Zeugnisübergabe das böse Erwachen und der Vater holte den Riemen aus dem Hosenbund.

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