Beklommen im Herzen

Beklommen im Herzen

Zita Seymor


EUR 14,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 72
ISBN: 978-3-99107-832-6
Erscheinungsdatum: 22.09.2021
Eine emanzipierte Frau, zerrissen zwischen Beruf, Familie und einer unerfüllten Liebe. Bissige Beobachtungen von Topmanagern, Politikern und Hochschullehrern. Ein tragisches und rätselhaftes Ende. Berührend von der ersten bis zur letzten Zeile!
Eigentlich ist Greta zum Umfallen müde. Aber als das Display unter dem Dach der Trambahn-Haltestelle vor der Pinakothek der Moderne anzeigt, dass die Tram zum Hauptbahnhof, auf die sie die ganze Zeit wartet, wegen einer Störung erst mal ausfällt, beschließt sie, in das Museum hineinzugehen. Offensichtlich findet eine Veranstaltung statt – vielleicht eine Vernissage? Jedenfalls strömen Leute hinein, und sie schließt sich ihnen an. Bestimmt sind alle Münchner Kultur-Promis da. Wäre ja doch interessant. Sie ist schon so lange aus der Szene weg.

Ein älterer Herr im goldbeknöpften Blazer (sehr adelige Ausstrahlung) hält ihr die hohe Glastür auf, und Greta schiebt sich durch die vom Small Talk brummende Halle langsam in Richtung der breiten Freitreppe auf der gegenüberliegenden Seite. Dort hofft sie dem Gedränge der vielen ihr unbekannten Menschen zu entkommen. Im Vorbeigehen sieht sie ihr Spiegelbild in einer schummrig beleuchteten Vitrine an der Kassentheke: eine zierliche ältere Frau im schwarzen Hosenanzug, halblange, stufig geschnittene, graue Haare, einige Falten im ovalen Gesicht, eckige schwarze Brille und dunkelrot geschminkte Lippen. Wie siebzig, findet sie, sieht sie jedenfalls nicht aus. Sie streicht sich die Haare hinter die Ohren, damit die großen silbernen Ohrclips besser zur Geltung kommen. Ihr einziger Schmuck, und er lockert ihr strenges Outfit ein wenig auf.

Greta hat die Treppe gerade erreicht, als die Eröffnungszeremonie des Abends auch schon beginnt. Schnell setzt sie sich auf eine der mittleren Stufen mit gutem Überblick über die Halle. Die geladenen Gäste nehmen auf modernen schwarzen Stühlen vor einem Rednerpult aus Plexiglas Platz. Der grau melierte Herr, der ihr die Tür aufgehalten hatte, schreitet bedächtig an dieses Pult und begrüßt jeweils mit Namen Sponsoren, Politiker und Kuratoriumsmitglieder – endlos. Greta hört darunter einige ihr aus der Presse bekannte Namen und eher nebenbei einen ihr sehr vertrauten. Sie schluckt erschrocken. Nein, nein, da muss sie sich verhört haben! Der nun folgenden Rede mit den üblichen Polit-Worthülsen des zuständigen Kultusministers kann Greta kaum folgen. Kann das denn sein? Er hier? Er wohnt doch gar nicht in der Stadt. Und er und Kunst, das passt irgendwie nicht.

Während die Kuratorin der neuen Ausstellung etwas über den Künstler und seine Intentionen erzählt, überfallen Greta Bilder aus der Vergangenheit: Sie war ihm vor mehr als fünfundzwanzig Jahren zum ersten Mal begegnet, beim traditionellen Jahreskongress der deutschen Reiseveranstalter und Reisebüros im November in Wien. Sie hatte den Eröffnungsvortrag gehalten und, für sie eigentlich ungewohnt, enorm unter Druck gestanden. Vielleicht, weil der Chef des Branchenverbandes ihr am Abend vorher an der Bar des Kongresshotels noch zugeflüstert hatte: „Wir zählen morgen auf Sie! Die Branche braucht Ihr Wissen!“ (Das allerdings war glatt übertrieben. Die Tourismusbranche strotzte damals, in den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts, vor Selbstbewusstsein und war durch den permanenten Erfolg ziemlich beratungsresistent.)

Greta war durch ihre Vorlesungen an der Uni und viele Vorträge auf Fachtagungen zwar recht routiniert im Auftreten vor Publikum gewesen. Aber noch nie hatte sie vor einem so großen, ihr außerdem weitgehend fremden Auditorium gesprochen. Fast tausend Leute! Sie war neu in der Szene gewesen, jedoch durch einige ziemlich kritische Veröffentlichungen über den Massentourismus bei Insidern bekannt. Allerdings hatte sie die intellektuelle Aufnahmefähigkeit der Touristiker total überschätzt. Schon nach einer Viertelstunde las sie an den Mienen vieler Zuhörer ab, dass sie sie mit ihren Worten gar nicht erreichte, machte aber tapfer im Text weiter. Nach dem obligaten „Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit“ am Ende war sie vollkommen erschöpft. Von einem eher artigen Beifall begleitet, stürzte sie vom Vortragspult die Bühnentreppe hinunter durch eine Seitentür aus dem Saal, anstatt zu ihrem reservierten Platz in der ersten Reihe zurückzukehren.
Jetzt brauchte sie dringend einen Espresso und eine Zigarette. Tief inhalierend stand sie vor dem Fenster in einem Erker des Foyers und stieß ihren Frust mit dem Rauch aus, als ein Mann sie von der Seite ansprach. Er musste ihr unmittelbar gefolgt sein.
Greta hatte keine Ahnung, wer dieser smarte Typ war. Trotz ihrer hohen Absätze war er ein ganzes Stück größer als sie. Eng geschnittener grauer Anzug, hellblaues Hemd, bunte Krawatte, braun gebranntes, schmales Gesicht, etwas konventioneller Schnitt der dichten, aschblonden Haare, ein Mund mit nicht sehr ausgeprägten Lippen, graue Augen. Und die strahlten sie an wie Scheinwerfer.

Er machte ihr Komplimente für den Vortrag und schlug ihr vor, bei einem „Forum“ mitzumachen, das sein Unternehmen, AI-Touristik, veranstalten sollte. Himmel, begriff sie plötzlich, einer der Topmanager der Branche! „Ähnlich wie in Ihrem Vortrag gerade sollen in dem Forum endlich einmal unbequeme Wahrheiten ausgesprochen und offen diskutiert werden.“ Seine Stimme war angenehm, etwas rau. Und er klang von seiner Idee überzeugt.

Natürlich war Greta von seinem Kompliment geschmeichelt. Ganz ernst nahm sie die Einladung aber nicht.
Sie sagte trotzdem erst mal zu. Wäre ja im Prinzip nicht schlecht, so ein „kritisches Forum“. Ihr ging schon lange auf die Nerven, wie sehr die Topmanager der Branche auch schlechteste Nachrichten mit ihrer Plastiksprache verkleisterten („auf einem guten Weg“ = wenn es nicht so gut läuft; „gut aufgestellt“ = wenn die Krise manifest ist etc.). Und sie hatte schon häufiger erleben müssen, wie wenig die Tourismusbranche mit Kritik umgehen kann, wahrscheinlich, weil der Verkauf von „schönem Urlaub“ zwar eigentlich ein hartes Geschäft wie jedes andere ist, aber doch nur mit Positivem verbunden werden soll.

Den Winter über hatte Greta diese Begegnung vergessen. Alltag: Projekte in ihrem kleinen Beratungsbüro, Vorlesungen und Prüfungen an der Hochschule, Haushalt und Ehemann. Sie las nur hin und wieder etwas über ihn in der Fachpresse. Na ja, schon ein guter Typ.

Einige Wochen vor der alljährlichen Internationalen Tourismusbörse in Berlin im März kam dann überraschend ein Anruf von seiner Sekretärin. Ob die Professorin einen Termin am Stand seines Unternehmens während der Messe einrichten könne. Klar! Sie wollte schließlich sehen, was an dem Typen und seinem Vorhaben wirklich dran war.

Die ITB in Berlin war seit dem Aufschwung des Massentourismus in den 1980ern das weltweite Highlight der Branche im Jahr: sehen und gesehen werden, Kontakte vertiefen („netzwerken“ hieß es noch nicht), an Fachdiskussionen teilnehmen, den neuesten Klatsch mitnehmen, schauen, wie die Länder der Welt sich auf ihren Messeständen anpreisen – anstrengend, aber auch vergnüglich.
Greta registrierte sich als Fachbesucherin an einem der vielen Counter in der lang gestreckten, lichtlosen, durch graugrünen Teppichbelag gedämpften Halle des Internationalen Congress Centrums ICC, ein brutaler Betonbau aus den 1970er-Jahren, der wie ein Nilpferd über der Berliner Stadtautobahn lagerte. Erster Rundumblick. In dem Dämmerlicht des Foyers wuselten die internationalen Besucher geschäftig umher: Männer und Frauen der verschiedensten Hautfarben, manche in bunter Landestracht, die meisten aber im internationalen Business-Outfit: die Männer in Anzug oder Jackett, die Frauen in schwarzen oder dunkelblauen Hosenanzügen auf hochhackigen Schuhen. Freundliche Gesichter voller Erwartung auf gute Geschäfte und Kontakte.
Sie traf jemanden aus der einschlägigen Wissenschaftsszene meistens schon hier in der Halle. Immer das gleiche Ritual: mehr oder weniger freundliche Begrüßung, kurz abschätzen, wie er oder sie sich übers Jahr seit der letzten ITB gehalten hatte, vielleicht ein Kompliment für eine neue Veröffentlichung oder ein kürzlich gegebenes Interview, je nach Sympathie die eine oder andere Verabredung zu den angesagten abendlichen Events. Greta mochte die flirrende Messe-Atmosphäre, auch wenn sie sich in der hin und her hastenden Menschenmenge in den zugigen Messehallen regelmäßig einen Infekt einfing und krank nach Hause kam.
Vom Foyer führten Rolltreppen hinüber in die Messehallen. Greta befestigte ihren Fachbesucherausweis am Revers ihres Blazers, setzte ihr Business-Gesicht auf und ging hinüber. Sie blickte hinunter in die erste Halle: wie immer eine ästhetische Zumutung. Heilloses Durcheinander von bunten Bildern, mehr oder weniger originellen Logos von Firmen und Ländern auf großformatigen Plakaten an Stahl- oder Holzgerüsten. Nur ganz selten einmal etwas Ungewöhnliches, z. B. die kleine Zeltstadt eines arabischen Landes oder die Zirbenstube der Schweizer. Hinter den Desks der Stände mit Stapeln von Prospekten und Flyern hockte das offensichtlich schon mittags genervte Personal mit dunklen Augenringen. Größere Unternehmen und manche Nationen leisteten sich ein erstes Stockwerk für den Stand, an dem diskret Besprechungen stattfinden sollten. Die meisten Aussteller hatten dafür aber nur eine kleine Ecke mit Tischchen und Stühlen hinter dem Desk. „Eigentlich erstaunlich“, dachte Greta, „wie wenig Stil diese Branche hat. Sie will doch ein schönes Lebensgefühl verkaufen.“

Sie schaute zuerst bei den Messeständen der deutschen Bundesländer vorbei. Für manche hatte ihr kleines Büro Ideen und Strategien entwickelt. „Nase zeigen“, signalisieren, dass sie sich interessierte, diesen und jenen Bekannten begrüßen, Visitenkarten tauschen. Man verabschiedete sich schnell mit einem „Wir telefonieren!“, in späteren Jahren mit „Wir mailen!“. Ruhige Gespräche waren in der hektischen Atmosphäre ja kaum möglich.
Als es schließlich Zeit wurde für Gretas Termin bei ihm, bahnte sie sich mühsam den Weg durch drei weitere stickige Hallen, bis sie endlich den großen blauen, doppelstöckigen Pavillon von AI-Touristik zwischen den kleineren Ständen anderer Reiseveranstalter sichtete. Angemessen für einen Platzhirsch. Unsicher und etwas aufgedreht meldete sich Greta beim Empfangsdesk am Eingang. Eine arrogant lächelnde, stark geschminkte Hostess mit Hochfrisur, in blauem Kostüm mit hautengem Rock hakte ihren Namen in einer Liste ab und bat sie mit einer einstudierten Geste, ihr nach oben zu folgen, in die „VIP-Lounge“. Greta stöckelte erwartungsvoll hinter der Hostess auf ihren etwas zu hohen Schuhen und dem engen braunen Minirock die steile kleine Treppe hinauf. Die Hostess klopfte kurz an eine Tür, öffnete sie, kündigte Greta mit Namen an und ließ sie eintreten.

Das sollte eine „VIP-Lounge“ sein?! Eine fensterlose, graue Kiste, lieblos und öde. Ein Resopal-Tisch, darauf ein paar kleine Wasserflaschen, vier Stühle, kahle Wände aus Rigipsplatten. Ein junger Mann, bebrillt, blass und picklig, und ein älterer Herr mit fahler Haut, beide in taubenblauen, zerknitterten Anzügen, erhoben sich gleichzeitig mit ihm. Kurzes Händeschütteln und Austausch von Höflichkeiten, dann bat er die beiden Herren, ihn mit Greta allein zu lassen. Ein kleines Fragezeichen ploppte in ihr auf – und bei den Hinauskomplimentierten wohl auch.

Er bat sie, ihm gegenüber an der Längsseite des schmalen Besprechungstischs Platz zu nehmen. Weit über den Tisch nach vorn gebeugt, die Gesichter sich fast berührend, begann sofort ein wild flirtendes Verbalduell zwischen beiden. Greta erinnerte sich nicht mehr, was sie geredet hatten, sie wusste nur noch, dass sie sich ebenso gut gleich hätten umarmen können, wenn nicht der Tisch zwischen ihnen gewesen wäre – so stark war die gegenseitige erotische Anziehung. Der eigentliche Anlass von Gretas Besuch, das von ihm im Herbst davor avisierte kritische „Forum“, kam überhaupt nicht zur Sprache!
Nach dreißig Minuten musste er – leider – zu einem anderen Termin. Er begleitete sie persönlich die schmale Treppe hinunter und stützte sie mit einer Hand, damit sie mit ihren hohen Schuhen nicht stolperte. Elektrisierende Berührung, aber dann ein cooler Handshake zum Abschied – schließlich schaute das Standpersonal ja zu.

Greta hatte sich von dieser Begegnung wenigstens die Einladung zu einem lukrativen Vortrag erhofft. Aber das war nur eine intensive halbe Stunde ohne Ergebnis gewesen. Komisch. Eine innere Stimme warnte sie, aber die Begegnung mit ihm war zu faszinierend gewesen, um darauf zu hören.
Schnell strebte sie aus der hektischen Atmosphäre der Messehallen hinaus. Der Lärmpegel hatte sich inzwischen zu einem Crescendo gesteigert, die Empfänge an den Ständen mit Häppchen und (damals noch) reichlich Alkoholausschank hatten begonnen und die Rauchschwaden verdichteten sich unter der Decke der Messehallen. (Auch das Rauchen war noch erlaubt.)

Einen Tag später tauchte er in der kleinen Nebenhalle für die Repräsentanzen der Hochschulen auf, welche die Messeleitung kostenlos zur Verfügung gestellt hatte. Von hier aus sollte der Kontakt der Professoren und Studenten zu Unternehmen, Tourismusregionen und Politikern gepflegt werden.
Er gab ihr höflich die Hand, wie ein Fremder. Und Greta wollte sich ihre freudige Überraschung, ihn wiederzusehen, vor ihren Studenten auch nicht anmerken lassen. Beide machten also ein cooles Pokerface. Greta besaß von diesem Zusammentreffen noch ein Foto, das ein eifriger Student, stolz auf diesen hohen Besuch, schnell gemacht hatte: Mann und Frau im Business-Look, nebeneinander ausdruckslos in die Kamera blickend, völlig nichtssagend.

Die Kuratorin beendet ihre Eloge auf den Künstler, und der Applaus holt Greta in die Gegenwart. Der Herr in dem Blazer lädt die Anwesenden noch zu Häppchen, Wein und Rundgang ein. Geräuschvoll raschelnd erheben sich die Gäste von den Stühlen, während Greta versucht, möglichst elegant von ihrer unbequemen Position auf der Treppenstufe hochzukommen. Nicht ganz einfach, denn Knie und Rücken schmerzen. Gerade als sie versucht, sich einigermaßen elegant vom Sitzen in die Senkrechte zu schrauben, streckt sich ihr eine braun gebrannte, äußerst gepflegte Männerhand unter hellblauer Hemdmanschette mit silbernen Manschettenknöpfen entgegen.
„Darf ich?“ Moment, die Stimme kennt sie doch? Also ist er wirklich hier und sie hat sich vorhin nicht verhört? Sie blickt hoch. Ja, das ist er.
Er hilft ihr mit einem leichten Zug unter der Schulter geschickt auf die Beine, und nun stehen sie sich auf der Treppenstufe gegenüber. Mit einem Blick nimmt Greta wahr, dass er immer noch den charmanten, sich seiner Ausstrahlung bewussten Topmanager gibt (jetzt ja wohl Ex-Topmanager). Sein dunkelgrauer Anzug sitzt wie immer perfekt, das hellblaue Hemd wie frisch aus der Wäsche. Die Haare von der Stirn kaum zurückgezogen, nun allerdings ganz grau. Immer noch ein sehr gut aussehender Mann, wohl auch Mitte siebzig, rechnet sie schnell nach. Und immer noch diese unnachahmliche Art, sich ein wenig seitlich zu seinem Gesprächspartner zu neigen. Damals wie eine huldvolle Geste des Machtmenschen, inzwischen vielleicht auch, weil er schlecht hört? Er schaut Greta intensiv, ein wenig fragend an, während er noch immer ihre Hand hält. Dieser intensive Blick hat sie immer wieder irritiert.

So wie damals, als sie als Vertreterin ihrer Hochschule zur Verabschiedung des Münchner Repräsentanten seines Unternehmens auf dem Dachgarten des „Mandarin Oriental Hotels“ eingeladen war. Als Konzernchef war er natürlich auch da. Mit seiner Ausstrahlung überragte er die Mediokrität der anderen Anwesenden. Greta fühlte sich furchtbar unwohl in einem dunkelblauen Seidenkostüm, das ihr nicht mehr richtig passte. Das hatte sie allerdings zu spät gemerkt und sich nicht mehr umziehen können. Deswegen verunsicherte es sie besonders, als er sie mit diesem intensiven, fragenden Blick vom anderen Ende des Raumes bedachte. Er hatte sie auch nicht begrüßt, obwohl sie sich ja schon persönlich kannten.

Wenig später nahm Greta an einer Sitzung des Beirats für Tourismus im Bundeswirtschaftsministerium teil – als „Vertreterin der Wissenschaft“. Die Behörde war gerade von Bonn in einen renovierten Gründerzeitbau in der Scharnhorststraße in Berlin umgezogen. Sie meldete sich beim Pförtner in seinem kugelsicheren Glaskasten unter dem Eingangstor und fuhr dann mit dem nagelneuen Edelstahlaufzug in die dritte Etage. Alles roch neu und (noch!) gar nicht nach Beamtenmuff. Am Ende des Ganges, rechts und links geschlossene Bürotüren, hörte sie schon Stimmengemurmel, trat in den Besprechungsraum – und sah ihn. Auch hier noch alles ganz neu. Der graue Teppichboden zum Einsinken, der riesige ovale Tisch glänzendes Schwarz, die Eames-Stühle ohne jeden Kratzer.

Bei so einem politischen Routinetermin hatte sie ihn, den Topmanager, nun wirklich nicht erwartet. Die Teilnehmer standen noch um den Besprechungstisch herum. Man begrüßte sich und stellte einander vor, soweit man sich aus der Szene nicht ohnehin kannte. Als sie sich an einigen Verbandsfunktionären vorbei – „Guten Tag, Herr X!“, „Schön, Sie zu sehen, Herr Y!“ – zu ihm vorgearbeitet hatte, gaben sie sich formell die Hand: „Hallo!“ – nichts weiter. Aber wieder dieser Blick, diese Irritation.

Die Sitzung wurde vom amtierenden parlamentarischen Staatssekretär eröffnet, einem kleinen Mann im schlecht sitzenden Jackett mit Halbglatze und altmodischer Brille. Er kam mit Entourage verspätet in den Raum gerauscht, blickte stehend noch einmal selbstbewusst in die Runde und nahm dann am Kopfende des Tisches Platz, während sich seine drei Assistenten auf die Stühle an der Wand dahinter verkrümelten. Er las sein offensichtlich von einem der Assistenten vorbereitetes Statement mit gesenktem Kopf vom Blatt ab. Man merkte deutlich, wie wenig ihn das Thema Tourismus interessierte. Entsprechend bekam er wenig Aufmerksamkeit. Die meisten der Herren blätterten in irgendwelchen Unterlagen oder starrten gelangweilt vor sich hin.
Greta beobachtete ihn. Sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos, er schaute aus dem Fenster. Das lernte man wohl in den endlosen Meetings, an denen er teilnehmen musste. Aber: gut anzusehen. Jedenfalls unterschied er sich deutlich von den übrigen in politischen Apparaten abgewetzten grauen Figuren am Tisch, die irgendwie geistige Obdachlosigkeit ausstrahlten.
Nach der Rede des Staatssekretärs folgten die Statements der Verbandsfunktionäre. Sie waren schon hundertmal irgendwo abgedruckt und in der Wortwahl bis zur Unkenntlichkeit ausgewogen. Als sie abgespult waren, blickte der Staatssekretär erwartungsvoll in die Runde, um die nächste Wortmeldung aufzurufen.
Auch Greta musste nun irgendetwas „Bedeutendes“ von sich geben, schon allein für das Protokoll. Sie vertrat schließlich ihre Hochschule – und war zudem die einzige Frau in der Runde. Sie war sich durchaus bewusst, dass sie in der Branche sehr kontrovers gesehen wurde. Die einen hielten sie für eine Nervensäge und Emanze, die anderen bewunderten ihren Esprit und ihre mutige Art, Probleme dort offen anzusprechen, wo die meisten sich wegduckten. Da auch er zuhören würde, fühlte sie sich ziemlich befangen. Ihr Statement blieb kurz und sie ärgerte sich später über ihre Zurückhaltung.

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