Die letzte gute Tat

Die letzte gute Tat

Ralf Peter Paul


EUR 13,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 226
ISBN: 978-3-99107-894-4
Erscheinungsdatum: 11.10.2021
Florian Behrens, Anfang 50, ist im siebten Himmel. Endlich hat er seine Traumfrau gefunden. Doch plötzlich verschwindet seine geliebte Thea. Eine Lösegeldforderung folgt auf dem Fuße. Und offenbar kennt der Entführer Behrens’ streng gehütetes Geheimnis.
Die Verabredung
Mittwoch, 13. November 2019

Es war das Ende der Saison.
Obwohl ein Großteil der Hotels seine Übernachtungspreise gesenkt hatte, verbrachten nur noch wenige Feriengäste ihren Urlaub in dem mondänen Ostseebad. Das nasskalte Wetter lud kaum noch jemanden zu ausgedehnten Strandspaziergängen ein. Die Ausflugsschiffe hatten ihre Fahrten eingestellt und die meisten Boote waren aus dem Hafenbecken ins Winterlager gebracht worden.
Jetzt war die Zeit der hartgesottenen Meeresangler, die zu Beginn der Dämmerung ihr wetterfestes Lager am Strand aufbauten, um mit Hilfe ihrer langen Angelruten die Köder über 100 Meter weit hinaus ins dunkle Wellental zu werfen. Dort versank der mit einem Blei beschwerte Appetithappen für Plattfisch und Dorsch auf den Grund. Nun war Geduld und Ausdauer gefragt. Sobald sich die beleuchtete Angelspitze unrhythmisch bewegte, war ein sofortiges Handeln erforderlich. Durch das kräftige Anziehen der Rute bohrte sich der Haken in den Fischräuber und ließ ihn bis zur Landung an Land nicht mehr los.
In der Woche vor Weihnachten würden sich die Anreisen wieder häufen und spätestens zum Jahreswechsel wären selbst die kleinsten Pensionen und Ferienwohnungen belegt.
Florian Behrens war mit knapp 50 Jahren vom Rentenalter noch weit entfernt, genoss dennoch das Leben eines Ruheständlers und gab als Berufsbezeichnung „Privatier“ an. Er ließ sich von seinen Bekannten gerne Max nennen. Seinem unscheinbaren Aussehen hatte er eine ordentliche Erziehung mit vorzeigbaren Manieren und ein gutes Allgemeinwissen entgegenzusetzen. Was ihm fehlte, war Humor.
In der Beurteilung dieser Jahreszeit war Behrens gespalten. Einerseits genoss er die sommerlichen Temperaturen mit dem angenehmen frischen Seewind und die langen Abende mit jeder Menge eintrittsfreier Open-Air-Veranstaltungen sowie die dazugehörigen Gute-Laune-Touristen, die ihm in dieser Zeit sehr viel Abwechslung von seinem sonst so biederen Leben verschafften.
Andererseits gab es nun auch beim Bäcker kein morgendliches Anstehen mehr und die Warteschlange an der Kasse im Supermarkt war übersichtlich geworden. Die hellen Tage wurden kürzer und die frühe Dunkelheit zog ein.
Für Behrens ein triftiger Grund, bereits zur Nachmittagsvorstellung ins Kino zu gehen. Er liebte Kinofilme schon seit seiner Jugend. Insbesondere die großen Monumentalfilme wie „Ben Hur“ oder „Doktor Schiwago“ hatten es ihm angetan. Aber auch Meisterwerke wie „Uhrwerk Orange“ und „Der Clou“ mit einem seiner Lieblingsschauspieler, Paul Newman, faszinierten ihn selbst nach der dritten Wiederholung noch immer. Doch nicht nur die Klassiker, sondern auch jede Art von Science-Fiction-Filmen wie „E.T.“ und „Godzilla“ sowie die „Star-Wars“-Reihe standen auf seiner Hitliste ganz oben.
Er kannte sehr viele Filme, eigentlich alle, außer vielleicht ein paar französische Komödien, mit denen hatte er es nicht so.
Was Behrens allerdings in dieser Jahreszeit besonders gefiel, war, dass er in den Restaurants keine Reservierungen auf Tage im Voraus vornehmen musste. Er konnte nun sicher sein, immer einen Fensterplatz zu bekommen und ganz individuell mit der ihm gebührenden Aufmerksamkeit bedient zu werden.
Als er die Einkaufsstraße Richtung Seebrücke entlangging, leuchteten bereits die Laternen und das Verkaufspersonal begann, die fahrbaren Kleiderständer und sonstigen Aufsteller in die Läden zu räumen.
Sein Weg führte ihn zum Hotel „Strandmöwe“, wo er mit seiner Verlobten Thea zum Essen verabredet war.
Zwischen Hotel und Meer verliefen nur die verkehrsberuhigte Ostseeallee, ein schmaler Fahrradweg und ein Grünstreifen mit kargem Baumbestand.
Das Hotel war Ende des 19. Jahrhunderts entstanden und befand sich zu DDR-Zeiten in einem ruinösen Zustand. Nach der Wende wurde es zunächst entkernt und dann im Stil der Seebäder-Architektur wiederaufgebaut. Charakteristisch waren die vorwiegend in Weiß gehaltenen markanten Balkone, Veranden und Fenster, von denen jeder Gast einen freien Blick auf die Ostsee
hatte.
Behrens betrat die Hotellobby, grüßte die Dame an der Rezeption mit einem kurzen „Hallo“ und setzte sich in einen der bequemen Sessel, die für wartende Gäste dort platziert waren. Die Glastür zum Restaurant war noch geschlossen, würde sich jedoch pünktlich zusammen mit dem Eintreffen von Thea um 18 Uhr
öffnen.
Florian Behrens war ein Zeit-Freak. Er war ein Verfechter von Pünktlichkeit und akzeptierte weder die Rede von der „akademischen Viertelstunde“ noch irgendwelche anderen Ausreden, wenn es darum ging, Verabredungen planmäßig einzuhalten. Einer seiner Merksätze war: „Zuspätkommen ist eine Frage des Losgehens.“ Planvoll, vorausschauen und unnötige Wege vermeiden, das waren seine Standards für den richtigen Umgang mit der Zeit.
Als er vor fünf Jahren in das Ostseebad zog, schloss er sich einer Volleyballgruppe an, die sich einmal wöchentlich am Sportstrand traf. Für den 1,70 Meter großen Behrens war dieses Spiel nicht unbedingt vorteilhaft, doch er versprach sich davon den ein oder anderen sozialen Kontakt in dieser für ihn noch fremden Stadt.
Die Gruppe bestand aus Männern und Frauen zwischen 40 und 65 Jahren, die aus der Gegend stammten oder, wie Behrens, vor einiger Zeit zugezogen waren. Einer der Mitspieler war Volker. Er war schon lange dabei und gut trainiert sowie besonders bei den Damen recht beliebt. Diese verziehen ihm auch, dass er regelmäßig zu spät kam, was zur Folge hatte, dass die Mannschaftswahl erst nach seinem Eintreffen durchgeführt werden konnte und das Spiel mit Verspätung begann. Die Männer fanden Volkers Verhalten nicht in Ordnung, hatten sich allerdings im Laufe der Jahre damit abgefunden.
Behrens, obwohl erst seit wenigen Wochen dabei, wollte dies nicht so einfach akzeptieren und stellte Volker zur Rede. In ihr kamen Begriffe wie unsozial, egoistisch und respektlos vor. Volker war mächtig angemacht und sagte:
„Wenn es dir bei uns nicht gefällt … wir sind bisher sehr gut ohne dich ausgekommen, du Kleinbürger.“ Dann drehte er sich von Behrens weg, nahm den Ball und ging zum Spielfeld. Die anderen Mitspieler folgten ihm. Behrens fühlte sich alleingelassen und unverstanden.
„Was ist falsch daran, darauf zu achten, dass Vereinbarungen eingehalten werden? Eine Verabredung ist eine Vereinbarung“, war Behrens’ Überzeugung.
Er erinnerte sich an Diskussionen, in denen es darum ging, ob man beim Verlassen eines Kreisverkehrs den Blinker setzen muss, wenn kein anderes Auto in Sicht ist sowie um die Frage, ob es richtig sei, um Mitternacht bei Rot über die Fußgängerampel zu gehen.
Behrens setzte sich immer für die Einhaltung der geltenden Regeln und Gesetze ein, weshalb manche Diskussionsteilnehmer ihn als Spießer bezeichneten. Doch „Kleinbürger“ hatte noch nie jemand zu ihm gesagt. Er verließ den Sportstrand und kehrte nicht mehr zur Gruppe zurück.
Einige Monate später trat er, wieder mit dem Ziel, für sich einen Freundeskreis zu finden, in den ortsansässigen Tennisverein ein. Er hatte diesen Sport als junger Mann mit mäßigem Erfolg betrieben. Er nahm Trainerstunden, fand jedoch wegen seiner niedrigen Leistungsklasse kaum Mitglieder, die mit ihm spielten. Da es ihm auch dort nicht gelang, gesellschaftliche Kontakte herzustellen, trat er noch während der laufenden Saison aus dem Verein wieder aus. Wohl auch wegen des für ihn viel zu hohen Trainerhonorars.
Um 18 Uhr wurde die Restauranttür von einem Kellner geöffnet. Thea kannte den Zeittick ihres Verlobten und würde pünktlich sein; sie war es aber nicht.
Behrens wartete nur wenige Minuten, bis er zum Handy griff. Den Text auf der Mailbox kannte er und wusste auch, dass es keine Möglichkeit gab, eine Nachricht zu hinterlassen.
Thea war wie jeden Mittwoch im Grand Sea Hotel, um, wie er lästerte, „die Schöne noch schöner zu machen“. Tatsächlich legte sie großen Wert auf ihr Äußeres und nutzte diverse Spa- und Wellness-Angebote.
„Noch warten, ihr noch zehn Minuten geben oder sich gleich auf den Weg zum Hotel machen? Sie ist mit dem Wagen unterwegs, wir könnten uns verfehlen“, waren Behrens’ Überlegungen.
Er erklärte der Rezeptionistin kurz die Situation, bat um ein Blatt Papier, worauf er eine Nachricht für Thea schrieb. Dann verließ er das Hotel-Restaurant.
Das Grand Sea Hotel, ein Fünf-Sterne-Luxus-Resort für anspruchsvolle Gäste, befand sich ebenfalls in der Ostseeallee, nur circa 400 Meter entfernt. Behrens erreichte es in wenigen Minuten.
Er fuhr mit dem Lift in den zweiten Stock zum Wellness- und Saunabereich und erkundigte sich bei den Mitarbeitern nach Thea. Doch keiner von ihnen hatte sie heute schon gesehen.
Behrens schaute an der Hotelbar vorbei und fragte beim Empfangspersonal nach ihr – ohne Ergebnis. Jetzt wollte er noch in der Tiefgarage nachsehen, ob ihr Wagen dort stand. Ein Mitarbeiter begleitete ihn, aber auch hier keine Spur von Thea. Er suchte noch die umliegenden Parkplätze ab, bevor er sich eilig auf den Weg nach Hause machte.
Sein Haus befand sich in einem Neubaugebiet, gut 15 Minuten zu Fuß vom Ortszentrum entfernt. Während dieser Jahreszeit hatte er kaum direkte Nachbarn. Der Bebauungsplan erlaubte die Selbstnutzung wie auch die Ferienvermietung der Wohnungen und Häuser. Die Feriengäste waren abgereist und die Eigentümer würden frühestens zu Weihnachten zurückkehren.
Behrens konnte dem Drang der Menschen, Silvester an der oft nasskalten Ostsee zu verbringen, nichts abgewinnen. Bei eisigen Temperaturen dicht an dicht auf dem Platz vor der Seebrücke stundenlang auszuharren, bis es endlich Mitternacht war, das war nicht sein Ding. Er musste allerdings akzeptieren, dass zu dieser Zeit alle Gästebetten belegt sein würden und sich die Einwohnerzahl der kleinen Stadt vervierfacht hätte.
Als er in sein Haus zurückkehrte, war alles so, wie er es verlassen hatte. Lediglich Theas gelbe Daunenjacke war von der Garderobe genommen und ihre Schuhe fehlten.
Er versuchte ein weiteres Mal, seine Verlobte auf dem Handy zu erreichen, vergeblich.
Thea hatte zwei Freundinnen, deren Telefonnummern in seinem Handy gespeichert waren und die er nun wählte.
Liesbeth, eine Boutiquebesitzerin, gab die Auskunft, dass sie Thea schon seit Tagen nicht mehr gesehen hatte. Bei Silke, ihrer Friseurin, war fortlaufend besetzt.
Als er Silke eine Stunde später erreicht hatte, antwortete sie auf die Frage nach Thea: „Auch wenn ich wüsste, wo Thea steckt, würde ich es Ihnen nicht sagen, Sie Schwein“, und legte auf.
Behrens war wie vom Blitz getroffen. Diese Aussage brachte ihn kurzzeitig aus der Fassung.
Er hatte die Friseurin nie kennengelernt und was er von ihr wusste, hatte Thea ihm erzählt. Sie war alleinerziehende Mutter einer pubertierenden Tochter. In ihren Gesprächen ging es meistens um Männerbekanntschaften, deren Namen sich von Friseurtermin zu Friseurtermin änderten.
„Aber was“, grübelte Behrens, „kann Thea ihr gesagt haben, das die Friseurin dazu bringt, mich derart zu beschimpfen? Unsere Beziehung ist doch harmonisch und ohne nennenswerte Streitigkeiten.“
Er ließ dieser Frage nicht viel Zeit, sich in seinen Gedanken auszubreiten. Ihm wurde bewusst, dass dies jetzt unbedeutend war. Allein die Tatsache, dass es immer noch kein Lebenszeichen von Thea gab, sollte im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit stehen.
„Lebenszeichen“, schoss es Behrens durch den Kopf. „Vielleicht kann sie keins geben, weil sie bewusstlos im Krankenhaus liegt?“
Eilig suchte er die Telefonnummer des Klinikums in Bad Doberan heraus und rief dort an. Die Vermittlung leitete ihn an die Notaufnahme weiter.
„Guten Abend, bitte entschuldigen Sie den späten Anruf, aber ich vermisse meine Verlobte, Frau Thea Schneider. Ich wollte nur sichergehen, dass ihr nichts zugestoßen ist“, stammelte Behrens ins Telefon.
Die Frau an der anderen Seite der Leitung kannte diese Art von Anrufen und reagierte routiniert.
„Bitte noch einmal den Namen der Vermissten und wann soll der Unfall passiert sein?“
„Der Name ist Thea Schneider und ob es ein Unfall war, weiß ich nicht. Könnten Sie bitte nachschauen, ob meine Verlobte heute eingeliefert wurde?“, bat Behrens ungeduldig.
„Bin schon dabei“, antwortete die Frau trocken. „Keine Frau Schneider hier.“
Behrens bedankte sich und legte den Hörer des Festnetzanschlusses zur Seite, wollte er doch auf seinem Handy jederzeit erreichbar sein.
„Jetzt noch einmal bei Thea anrufen und danach die Polizei, um sie als vermisst zu melden. Doch was werden die sagen?“, fragte er sich.
Das hatte er schon zig Male in Filmen gesehen, wie zum Beispiel in „Frantic“ mit Harrison Ford aus dem Jahre 1988. „Warten Sie erst einmal 24 Stunden ab, vielleicht wollte Ihre Frau nur für ein paar Stunden alleine sein oder Ähnliches. Die werden nur warme Worte für mich haben und heute gar nichts mehr unternehmen“, war sich Behrens sicher.
Er entschied sich, die Polizei erst morgen anzurufen und wollte so lange wach bleiben, wie es nur ging. Als er das letzte Mal auf die Uhr schaute, war es nach zwei, dann schlief er auf der Couch ein.



Die Vermisstenanzeige

Gegen 8 Uhr wachte er auf, musste sich kurz orientieren und betätigte dann sofort die Wahlwiederholung auf seinem Handy.
Diesmal kam nicht einmal mehr die Ansage des Anrufbeantworters, sondern „Der Teilnehmer ist nicht zu erreichen“.
Behrens hielt kurz inne. Er ermahnte sich, in seinem Kopf keine Spekulationen zuzulassen, sondern die Ereignisse rational zu betrachten. Aber auf diese Situation war er nicht vorbereitet. Wie sollte er auch? Hier an der Küste war sein bisheriges Leben ohne besondere Vorkommnisse verlaufen. Sah man von der Begegnung mit Thea ab, waren seine Tage und Wochen eher ereignislos als aufregend. Er vermied es, auffällig zu werden und schob sich selten in die erste Reihe.
In den Sommermonaten hatte er gelegentlichen Kontakt mit Urlaubern, die die Häuser neben ihm bewohnten und ihn um Auskunft nach Freizeitmöglichkeiten oder den besten Restaurants baten. Behrens war ein freundlicher Touristenführer, drängte sich jedoch nie auf. Hin und wieder wurde er auch von den wechselnden Nachbarn zum Grillen eingeladen. Die Einladungen nahm er gerne an, zumal sich daraus in den ersten Jahren auch der eine oder andere Sommerflirt ergeben hatte. Nichts Festes, nur an der Oberfläche, ohne dass sich daraus eine tiefere Beziehung entwickeln konnte.
So geschah es, dass ihn einmal die Tochter eines älteren Ehepaares dazu einlud, etwas Zeit mit ihr zu verbringen. Er fuhr mit ihr nach Rerik zum Salzhaff, wo es leckere Fischbrötchen gab und die Preise noch nicht so unverschämt hoch waren wie in Kühlungsborn. Einmal begleitete er sie am Abend zu einer Tanzveranstaltung im Konzertgarten-Ost. Später verbrachten sie noch einige Momente am Strand, wo sie Zärtlichkeiten austauschten. Doch für mehr als eine Sommerliebelei reichte es nicht.
Statt jetzt die Polizei telefonisch zu verständigen, entschloss er sich, die Wachstation im Ortsteil West aufzusuchen. Diese war von Montag bis Freitag von 10 bis 12 Uhr besetzt. Die Beamten hätten sicher eine ganze Reihe von Fragen an ihn und da wäre die persönliche Anwesenheit die bessere Vorgehensweise. Außerdem könnte er auch gleich ein aktuelles Foto von Thea mitnehmen.
Vorher wollte er noch seine Mutter anrufen. Sie war 69 Jahre alt und lebte in Berlin-Reinickendorf in einer Dreizimmerwohnung.
Er war Einzelkind und das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn war sehr vertrauensvoll, geprägt durch ein intensives Miteinander, eine offene Kommunikation und einen hohen Anspruch an Loyalität. Sie war seine Verbündete und Ratgeberin von Kindheit
an.
Als Behrens’ Vater vor sechs Jahren plötzlich starb, war dies für seine Mutter und ihn ein gewaltiger Schicksalsschlag. Die drei waren gut aufeinander abgestimmt. Es gab eine klare Rollenverteilung der konservativen Art. Der Vater war Mess- und Regeltechniker bei Siemens und ehrenamtlich beim Technischen Hilfswerk tätig. In seiner Freizeit widmete er sich dem Sportschießen im Schützenverein. Die Mutter war nicht berufstätig. Sie erledigte den Haushalt, übernahm die Erziehung des Sohnes und war zuständig für alle sonstigen organisatorischen Aufgaben.
Den Sommerurlaub verbrachten alle drei meistens gemeinsam an der See. Vor der Wende auf der Insel Föhr und auf Amrum. Nach dem Mauerfall bereisten sie die östliche Ostsee. Sie wechselten jährlich ihre Unterkünfte zwischen Usedom und Wismar.
„Hallo Mama, Thea ist gestern nicht nach Hause gekommen“, sagte Behrens.
„Habt ihr euch gestritten, warst du schon bei der Polizei?“, fragte seine Mutter.
„Nein, wir haben uns nicht gestritten, es war alles in Ordnung mit uns, so wie immer. Ich fahre gleich zur Polizeistation“, antwortete Behrens, „ich rufe dich danach gleich an, Mama.“
Er zog sich warm an und stieg auf sein Fahrrad, welches er zu dieser Jahreszeit kaum benutzte und bereits vor einigen Tagen im Geräteschuppen hatte unterstellen wollen.
Als er kurz vor 10 Uhr die Polizeistation betrat, beklagte ein Urlauber den Verlust seiner Strandtasche. Er verzichtete auf eine Anzeige, wollte einfach nur seinen Ärger loswerden und dabei erwähnen, dass ihm so etwas auf der Ferieninsel Borkum noch nie passiert sei.
Als Behrens an der Reihe war, kam er gleich zur Sache.
„Ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben. Meine Frau ist gestern nicht nach Hause gekommen. Ihr Name ist Thea Schneider. Hier ist ein Foto von ihr.“
„Herr Schneider“, sagte der Polizist und wurde gleich von Behrens unterbrochen.
„Mein Name ist Florian Behrens, wir sind nicht verheiratet. Frau Schneider ist meine Verlobte.“
„Dann benötige ich jetzt die vollständigen Daten Ihrer Verlobten und den genauen Zeitpunkt, wann Sie sie das letzte Mal gesehen haben. Das Foto können Sie mir geben“, bat der Polizist.
„Wir wohnen hier im Neubaugebiet, Bürgermeister-Haase-Straße 40. Frau Schneider ist am 15.8.1973 geboren, circa 168 Zentimeter groß, sehr schlank und die Haare wie auf dem Foto“, erklärte Behrens. „Sie hat gestern, wie jeden Mittwoch, das Haus um kurz vor 15 Uhr verlassen, um im Grand Sea Hotel Wellness zu machen. Anschließend wollten wir uns um 18 Uhr im Hotel Strandmöwe zum Essen treffen. Als sie nicht erschien, bin ich zum Grand Sea gegangen, wo sie allerdings niemand gesehen hat.“
Der Polizist unterbrach mit leicht erhobener Hand: „Herr Behrens, Frau Schneider ist noch keine 24 Stunden abwesend …“
Behrens fiel ihm mit erregter Stimme ins Wort: „Das musste ja kommen; wie oft habe ich diese Sätze schon in Krimis gehört und am Ende ist doch etwas Schreckliches passiert.“
„Wir werden alle Daten und das Bild an alle Polizeidienststellen weiterleiten“, versuchte der Polizist Behrens zu beruhigen. „Noch eine Frage: Wie war Ihre Verlobte unterwegs? Ich meine, war sie zu Fuß, mit dem Fahrrad oder hat sie ein Fahrzeug benutzt?“
Behrens erschrak, hatte er doch vergessen, dieses wichtige Detail anzugeben.
5 Sterne
Nur zum Empfehlen! - 22.03.2023

Sehr spannende Geschicht mit interessanten Charakteren. Die Geschichte öffnet eine große Gewissenfrage, die einem selbst zum Nachdenken anregt. Angenehm geschrieben und hab der Mitte konnte ich das Buch nicht mehr weg legen. Ich erhoffte mir ein anderes Ende, aber kann das Buch insgesamt empfehlen.

5 Sterne
konnte es nicht mehr aus der Hand legen! - 22.12.2021
manuela

Ich kann der vorhergehenden Bewertung nicht zustimmen - mich hat das Buch von der ersten bis zur letzten Seite derart gefesselt, dass ich es nicht aus der Hand gelegt habe, bis nicht auch die letzte Seite gelesen war. Ich hoffe auf weitere Werke des Autors!

2 Sterne
Guter Anfang, dann nachlassend - 04.11.2021
IB

Die letzte gute TatThriller Novum VerlagDer Autor Ralf Peter Paul, so in der Kurzbiografie beschrieben, wurde von Hermann Kant als Mentor auf dem schriftstellerischen Weg begleitet. Davon hatte ich mir sehr viel versprochen, da Kants Werke einen Platz in meiner Stammbibliothek haben (Bücher, die ich mehr als einmal lese, dürfen bleiben). Das Buch beginnt vielversprechend. Der Hauptakteur Florian Behrens wird ausführlich beschrieben, vor dem geistigen Auge erscheint ein geiziges und pedantisches Muttersöhnchen, dem man nicht zutraut, dass es ohne Mutti irgendetwas zustande bekommt. Nachdem man jedoch einen bildhaften Eindruck von dem Helden bekommen hat, wird es ziemlich langweilig. Die Ereignisse werden aneinandergereiht wie im Protokoll eines Ermittlungsbeamten, unterbrochen nur durch den lahmen Versuch, den Protagonisten durch Gedanken und Gefühle etwas Persönliches einzuhauchen. Hier ist insbesondere die Anwendung derselben Satzzeichen für das gesprochene Wort als auch für die Gedanken irritierend. Man muss manche Passagen doppelt lesen, um herauszufinden, ob der jeweils Handelnde den Teil nur gedacht oder auch ausgesprochen hat.Als völlig überflüssig empfinde ich auch die Erwähnung von Kants Roman „Die Aula“. Behrens hatte sich das Buch für die Fahrt zum Café am Bahnhof in Rostock mitgenommen. Kein Mensch, der gerade Lösegeld wegen der vermeintlichen Entführung seiner Verlobten gezahlt hat, hätte den Nerv, sich mit einem Buch irgendwo hinzusetzen und der Dinge zu harren, die da kommen. Ich meinte, der Roman würde später noch eine Rolle spielen, wurde aber nie wieder erwähnt.Ein grober Fehler – und eigentlich völlig überflüssig – ist die Erwähnung, dass Behrens bei seiner Großmutter in Schildow (Brandenburg) aufgewachsen ist und erst mit Schuleintritt bei seinen Eltern in Reinickendorf wohnte. Da Behrens 2019 noch nicht einmal 50 ist, muss er lange nach dem Mauerbau geboren sein. Es wird auch beschrieben, dass die Familie erstmals nach der Wende in Mecklenburg Urlaub gemacht hat. Es ist also ein Unding, dass der Junge einerseits bei der Großmutter (DDR) aufwuchs und dann im Westen bei seiner Mutter. Das passt durchaus auch nicht zu der gluckenhaften Beschreibung der Mutter.Ich hatte das Gefühl, dass der Autor zu viele Fäden gespannt hat, die im Nichts verliefen und keine Bedeutung hatten, die aber nicht in die Irre führten (was vielleicht die Absicht war), sondern das Werk langatmig werden ließen. Es ist kein Pageturner, schon gar kein Thriller. Leider ist es auch kein wirklicher Ostseekrimi, dafür ist Kühlungsborn zu wenig beschrieben. Der Stoff an sich ist gut, aber man kann keine Absicht hinter dem Werk erkennen. Mein Rat für das nächste Buch: Weniger „unnützes“ Wissen reinpacken und mehr Land und Leute beschreiben. Der Ansatz ist auf jeden Fall gut.

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