Die Azteken entdecken Indien

Die Azteken entdecken Indien

Michael Waldek


EUR 20,90
EUR 16,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 376
ISBN: 978-3-99131-627-5
Erscheinungsdatum: 08.11.2022
Als Kaiser der Azteken sendet Montezuma Expeditionsleiter Columboxotl, Ersten Offizier Kaleutl und ihre Flotte auf eine Expedition über das Meer, um Indien zu finden. Die Reise wirkt wie ein Traum – und endet anders, als die Entdecker sich hätten vorstellen können.
9. Kapitel
Ort: Westküste Schottland um 1500
Das Erscheinen der Vogelmenschen

Heute ist Orchesterprobe. Immerhin haben fünfzehn Dudelsäcke zugesagt, zur Generalprobe in das Pfarrhaus direkt am Küstenweg nach Glendronach zu kommen. Das Haus der Kirche steht seit Jahren musisch interessierten Gemeindemitgliedern für das gemeinsame Musizieren offen und stellt einen Proberaum zur Verfügung. Die Musiker sind dankbar und werben im Ort ein bisschen als Ausgleich für die Teilnahme am sonntäglichen Gottesdienst.
Der Anlass der wichtigen Probe des einheimischen Klangkörpers ist ein Auftritt auf Castle Plammpaddings zum traditionellen Maskenball, der im Nachgang an das jährlich von der Grafschaft Woolstwoorst ausgerichtete Ritterturnier stattfindet. Das Ritterturnier hat eine lange Tradition. Es trägt in diesem Jahr den Namen „Das Herz, den Verstand und mein Blut für das Vaterland – gleich King Artus und seiner Rittersporttafelrunde“. Dem Ritterstand insgesamt wird in diesem feierlichen Rahmen die gebührende Ehre erwiesen. Die aus meist adligen Familien stammenden Helden haben sich den Rang eines Ritters schwer verdienen und erkämpfen müssen. Könige und Kaiser haben es da leichter. Sie erben ihren Titel. Ritter sind, neben ihrer gefürchteten Kampfkraft, geübt im Lesen, Schreiben, sie rechnen gut, sie reiten die feurigsten Hengste, dominieren den sportlichen Faustkampf und können in der Regel mehrere Musikinstrumente spielen. Beim Kartenspiel sind sie unbezwingbar. Niemand versteht ihre Tricks, um den Gewinn abzusichern. Sie benehmen sich höflich, großzügig, gerecht, hilfsbereit, sie treten für die Gleichberechtigung vereinzelt vorkommender Ritterinnen ein und sind über alle Maße tapfer. Nur vom zuständigen Fürsten lassen sie sich schlagen, nämlich zum Ritter! Der kluge Fürst sammelt möglichst viele dieser Helden um sich und kann sich dann sicher fühlen. Natürlich muss er sie dafür reichlich belohnen. Meist legt er seine schöne Tochter dem so Bedachten zunächst zur Probe ins Bett. Traditionell stellt das aber kein Problem dar. Auch diese Herausforderungen bewältigen die Eisenmänner ritterlich. Für die Musiker ist die Einladung eine große Ehre, besitzen sie doch nur eine Einstufung im oberen Bereich als Amateure. Besonders für Elton und John sind es aufregende Tage. Keiner von ihnen hätte sich jemals träumen lassen, auf diesem berühmten Fest ihre Kunst, Dudelsack spielen, darbieten zu können. Beide spielen in der Band „Big Pack Dudelsack“ die ersten beiden Pfeifen. Sie sind zuständig für die Arrangements der Stücke. Sie beeinflussen die Dynamik und das Tempo der musischen Vorträge wesentlich. Aber der Glanzpunkt des Auftrittes soll die Prämiere eines von Elton und John komponierten Stückes sein, welches zwei bekannte Leistungssportler des Schwimmsports würdigen soll, die in der hiesigen Ortschaft ansässig waren und die Grafschaft bei den schottischen Schwimmmeisterschaften immer glänzend vertreten hatten. „Porgy und Bessy schwimmen durch Loch Nessy“ heißt die Komposition und wurde als „Slow Fox (21)“, einem beliebten Standardtanz, kreiert. Die so gewürdigten Sportler sind zwei arme Bauern. Elton und John würden sich freuen, wenn der Bekanntheitsgrad der Schwimmer durch ihre Komposition wächst und sich Sponsoren für ihren Sport finden, oder gar Werbeverträge herausspringen würden. Da wäre etwa die heimische Brauindustrie angesprochen, denn in der zweiten Strophe der Komposition heißt es: „Sei anspruchsvoll bei der Wahl der Sorte, nur so genießt man ein Guinnessbier der Rekorde.“

Die Probe kann noch nicht beginnen. Die beiden Bassdudelsäcke und ein Querdudelsack verspäten sich. So ist noch Zeit, die Stückeliste des Tanzabends mit dem Rest der Band zu besprechen. Elton trägt das Konzept vor und begründet die Auswahl mit der zu erwartenden Altersstruktur der Maskenballteilnehmer: „Leute, das wird nicht so toll grooven, wie wir es gern hätten. Darauf müssen wir uns einstellen. Das ist ein Veteranentreffen edler verdienstvoller Ritter, die diese Veranstaltung gefühlte hundert Jahre zelebrieren, um in längst vergangenen Zeiten zu schwelgen. Das edelste dieser Herren ist der Schimmel, den sie im Laufe der Jahre angesetzt haben und die weißen Pferde, auf die sie gesetzt werden müssen. Allein schaffen sie das nicht mehr. Das ritterliche Niveau des Turniers vor dem Maskenball gleicht dem Niveau einer Juniorenkreismeisterschaft. Die prügeln sich nur zum Schein. Ihre Lanzen sind zu kurz, um ihre Gegner treffen zu können. Das ist alles abgesprochen. Wetteinsätze sind sinnlos, der Sieger des Turniers steht schon vorher fest. Es ist mit Sicherheit der Ritter, der am längsten nicht mehr zum Sieger erkoren wurde. So läuft das, Freunde.“
Der Pikkolodudelsack meldet sich.
„Elton, alles gut und schön, aber warum sind für diese Fete die Eintrittspreise so hoch und warum gibt es die Tickets meist nur auf dem Schwarzmarkt? Außerdem habe ich gehört, dass der Veranstaltung immer wieder außerordentlich attraktive Damen beiwohnen. Wie ist das möglich?“
„Nun, es gibt nur eine Erklärung“, versucht Elton die durchaus intelligente Frage zu beantworten.
„Die meisten Frauen werden bezahlt, deshalb sind die Ticketpreise so hoch. Der Rest der Damen hat Interesse an den Turnierpferden.“
Diese Interpretation des Daseins schöner Frauen wird von der Musikerrunde verständnisvoll angenommen. John übernimmt jetzt die weitere Besprechung.
„Also Leute, wir beginnen mit Kaffee- und Kuchenmusik, leise vorgetragen. Die Herrschaften können währenddessen die Abendmahlzeit einnehmen. So können sie sich unterhalten und unsere Darbietung wirkt nicht aufdringlich. Zum gegebenen Zeitpunkt zünden wir unsere erste Rakete mit einem bunten Strauß bekannter Stimmungslieder. Dann, wenn die Stimmung den ersten Kulminationspunkt erreicht hat und die ersten Polonaisen sich formieren, werden wir abbrechen und anspruchsvollere Stücke spielen, auch unsere Ballade vom einsamen Training der armen Schwimmer im Loch Ness. Wir halten so die Spannung in der Dramaturgie der Ballnacht. Nach einer größeren Pause, in der sich die Gesellschaft dem Alkohol hingegeben hat, zünden wir die zweite Rakete. Wir spielen dann lauter, schneller und schriller aktuelle Stimmungslieder und beginnen über unseren Techniker Qualm auf die Bühne blasen zu lassen. Gleichzeitig wird die bekannte Fackelgruppe ‚Flam-Ingo‘ mit der Lichtshow einsetzen und zwei Go-Gos aus dem Cheerleaderkader der hiesigen Rugbymännermannschaft werden die Luft zum Brennen bringen. Die Leute, die sich noch bewegen können, werden sich erneut zur Polonaise formieren und dann haben wir den Abend im Sack, im Dudelsack!“
Elton ergänzt seinen Freund: „Am Siedepunkt der Stimmung fordern wir die Damen zur Damenwahl auf. Die tanzwütigen Herren werden begeistert ihre Rüstungen ablegen und ohne jegliches Erfordernis eines politischen Memorandums schnell zur notwendigen Abrüstung schreiten.“
Alle nicken und sind zufrieden. Engagierte Lieder, die vom Glück des Friedens und von der Sinnlichkeit der Liebe zeugen, werden in der Band „Big Pack Dudelsack“ anerkannt und gern gespielt. Man bekennt sich zur Notwendigkeit tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen. Das späte Mittelalter, „Dark Ages“ genannt, ist eine der sagenumwobenen Zeiten in der Geschichte Schottlands, voller Helden, Schurken und mächtiger Könige. Eine schwere Zeit für das einfache Volk, welches nach Verbesserungen der sozialen Verhältnisse dürstet.

Die Probe kann gleich beginnen, durch die Fenster erkennen wir die zwei Bassdudelsäcke, die mit hoher Geschwindigkeit den Proberaum erreichen. Das schlechte Gewissen, sich verspätet zu haben, scheint ihnen Flügel zu verleihen. Sie reißen die Tür auf. Sie fliegt bald aus den schweren Angeln.
„Anziehen, sofort anziehen und rauskommen … los, rauskommen! Da draußen ist irre was los“, winkt der eine Bassdudelsack hektisch an der Tür und zeigt auf das Meer. Etwas mürrisch, aber interessiert erhebt sich das Musikensemble und tritt ins Freie. Tatsächlich, in der Abenddämmerung erkennen sie drei große fremdartige Segelschiffe, etwa zwei Meilen vor der Küste ankernd. Alle Segel sind gerafft, die Ankertaue straff. Elton hat sein Fernrohr dabei und stellt die Linsenkombination scharf. Fernrohre sind der neuste Schrei der Seefahrtechnik. Sie wurden in Holland für Seefahrt und Astronomie erfunden und werden als Prototypen zu horrenden Preisen auch in Schottland verkauft. Nicht jeder Küstenbewohner Schottlands kann sich ein solches modernes Gerät leisten. Es ist ein Statussymbol der Extraklasse. Elton hat es von seinem Bruder geschenkt bekommen. Mit seiner Geschäftsidee, ein Reisebüro in Glendronach zu eröffnen, kann er ein stattliches Einkommen generieren. Er bietet Studienreisen zur Weiterbildung nach Edinburgh und weiter in das südliche England nach Winchester an. Besonders gefragt sind mystische Reisen nach Stonehenge zur Sonnenwende im Sommer und im Winter sowie Exkursionen in das berühmteste Gefängnis Londons, den Tower. Die Leute sind ganz besessen von dieser Reiseform und rennen dem Bruder den Laden ein. Er ist damit reich geworden und kann es sich leisten, die ersten Fernrohre zu erstehen und seinen Bruder damit zu beschenken. Elton hebt den Arm zum Zeichen, dass er Ruhe braucht. Er schärft die Einstellung nach. Alle schweigen jetzt und schauen neugierig zu den Seglern. Einige flüstern sich besorgt zu. Diese Boote sehen den Schiffen der Wikinger frappierend ähnlich. Erinnerungen an die Raubzüge dieser marodierenden nordischen Raufbolde sind noch allgegenwärtig. Sind die Wikinger zurückgekehrt, um wieder Beute zu machen? Die Musiker sind besorgt. Langsam lässt Elton das optische Gerät sinken. Er hat genug ferngesehen. Er wendet sich an die aufgeregte Musikergruppe:
„Beruhigt euch, das sind keine Wikinger. Die würden nicht an der wilden Küste ankern, sondern den Hafen von Glendronach, der nur zehn Meilen entfernt ist, anlaufen. Die kennen doch die Gegend und vor allem kennen sie die berühmte Whiskybrennerei im Ort. Nein, die Leute auf den Schiffen sehen alle merkwürdig aus. Die tragen Federn auf dem Kopf, haben nackte Oberkörper und Beine. Ihre Haut schimmert rötlich, behaart ist nur der Kopf unter dem Federschmuck. Sie scheinen die Kunst der farbigen Tätowierung zu beherrschen, die Symbole auf ihrer Haut sind fremdartig und furchteinflößend, uns völlig unbekannt.“
Stille.
„Vielleicht sind es die Götter, um die Frevler unter uns zu bestrafen?“, ruft einer der Bassdudeksäcke entsetzt.
„John, geh zum Pfarrer und bitte ihn, schnell zu kommen. Es sind Vogelmenschen erschienen.“



10. Kapitel
Eine denkwürdige Ruderbootfahrt

Früh morgens kümmert sich Kaleutl als erstes darum, dass der Chef ausschlafen kann. An der Kajütentür prangt jetzt der Schriftzug „Chef bitte nicht stören – Er hat Sorgen“. Er prüft den festen Halt des Warnschildes und ist zufrieden. Die Befehle zur Weiterreise der Armada sind erteilt. Die Schiffe stehen voll im Wind und verlassen bald das Gebiet der kleinen sinnlosen Felsinsel. Kaleutl sieht sie am Horizont verschwinden, spuckt kräftig aus und verflucht den Ort. Er will nach vorn schauen und blinzelt in die Morgensonne. Der Tag auf See beginnt mit Urlaubswetter. Ihm kommt die aktuelle Faktenlage in den Sinn, die er nun mit seinem seemännischen Gespür sortiert. Er macht dies mittels einem Selbstgespräch, denn seine Erfahrungen besagen, dass die eigenen Laute im Resonanzraum der Mundhöhle und in Verbindung mit den Schaltsystemen des Sprachzentrums, Gedankengänge optimieren und schärfen.
„Also, Herr Erster Offizier, zunächst die erste Frage an mich, was gibt es derzeit Gutes? Die Aufklärungspapageien waren nicht auf der Insel. Das ist gut, denn sie müssen weitergeflogen sein. Wir konnten Trinkwasser und Nahrung aufnehmen. Das ist auch gut. Dann ist gut, dass immer mehr Tang auf dem Wasser treibt und dass der Salzgehalt des Meerwassers leicht geringer wird. Gott sei Dank können wir uns auf diese Erkenntnis verlassen, denn die Geschmacksrezeptoren der Zunge von Rod, dem Stewart, sind berühmt für ihre genaue Analysefähigkeit. Ein großer Fluss oder mehrere kleinere Süßwasserzuflüsse müssen das Meerwasser irgendwo durchmischen. Das kann man sogar in unmittelbarer Nähe vermuten, was auch gut ist. Dass uns ein aufgefrischter Ostwind genau in die nautisch gewollte Richtung führt, ist sogar sehr gut. Also, alter Kaleutl, sieht gar nicht so schlecht aus! So, und jetzt musst du dich den weniger erfreulichen Dingen zu wenden. Fangen wir doch mit der Dürre in der Kombüse …“
Das Selbstgespräch des Diensthabenden wird durch den Lärm eines Handgemenges mehrerer Matrosen am Hauptmast unterbrochen. Die Schimpfworte, die Kaleutl vernehmen muss, sind gehässig und deuten auf einen ernsten Schlagabtausch hin. Verärgert begibt sich der Offizier zum Ort des Geschehens und treibt die Streitparteien erfolgreich auseinander.
„Fahrt eure Federn wieder ein, haltet die Klappe und berichtet, was euch erregt. Bootsmann was ist los?“
„Die Frühschicht im Mastkorb ist betrunken. Der Mann schafft es nicht, nach unten zu klettern. Somit ist das angeordnete Ausschauhalten empfindlich gestört“, informiert der verantwortliche Seemann präzise seinen Vorgesetzten.
„Und warum gibt es hier unten Theater, warum das Geschrei und die Prügelei?“, fährt der Offizier den Bootsmann an.
„Naja Kaleutl, der Mann hier ist ebenfalls betrunken“, zeigt er auf ein Bestatzungsmitglied, den einige Matrosen festhalten und dabei die Arme auf den Rücken drehen. „Die Nüchternen finden das nicht so prickelnd, dass sie von diesen beiden Typen betrogen werden. Wie sie an den Schnaps gekommen sind, wissen wir noch nicht, aber das kriegen wir gleich raus.“
Der Bootsmann zeigt auf den Marterpfahl am Heck und verlangt den Abtrünnigen dort festzubinden.
„Willst du ihn verhören?“, wendet er sich an Kaleutl.
„Nein, macht ihr das. Ich gehe, um den Mastkorbsäufer runterzuholen.“
Wenige Augenblicke später ist die Strickleiter zum Ausguck erklommen. Der Offizier schwingt sich in den Mastkorb, packt den wehrlosen Frevler am Hals und brüllt ihn fürchterlich an. Alle derben Schimpfwörter der aztekischen Sprache prasseln auf den Trunkenbold ein. Kaleutl muss jetzt erstmal wieder Luft holen, dreht den Kopf zur Seite und erstarrt. Wenige Sekunden später lässt er den armen Kerl los und schreit: „Richtigeees Laaannnndd inn Siiiicht“, dabei zeigt er in südöstliche Richtung.
Alle, die sich auf Deck aufhalten, rennen an die Reling zur Fahrtrichtung. Der zu Marterpfahl Verurteilte nutzt die Gunst des Augenblicks. Er kann sich befreien, weil sich keiner mehr für ihn zuständig fühlt und versteckt sich in einem Haufen Segelzeug, um seinen Rausch auszuschlafen. Kaleutl winkt mit seinen Armen, um die großartige Information mittels Seezeichensprache zu den beiden Schwesterschiffen zu vermitteln.
„Leute, das ist diesmal ein richtig großes grünes Land, mit Bergen und … ach, alles. Es ist gut, es ist richtig gut diesmal“, überschlägt sich seine Stimme.

Langsam werde ich munter. Das ominöse Blatt liegt neben meiner Koje auf dem Boden. Vorsichtig hebe ich es auf und lege den rätselhaften Text mitsamt ein paar Scherben des durchsichtigen Behältnisses in mein Wertefach. Ich will es gut aufheben und vorerst sichern. Ich fühle mich zwar ausgeschlafen, doch der gestrige Tag zieht mich sofort wieder runter. Die Pflicht ruft mich an Deck und ich begebe mich zur Morgentoilette in die kleine Waschnische.
Jemand hämmert an meine Kajütentür. Ich werde an Deck erwartet, dringend. Jetzt bloß kein falscher Alarm mehr. Das braucht jetzt niemand. Ich beeile mich, steige geschwind die Deckstreppe hinauf und laufe Kaleutl in die Arme.
„Da bist du ja. Wir brauchen deinen Befehl. Oh, entschuldige bitte, du wurdest beim Frischmachen gestört, tut mir leid“, frotzelt der Offizier und zeigt grinsend auf die Zahnbürste, die ich noch in der rechten Hand halte.
„Habt ihr wieder ein Ländlein gesichtet? Wie groß ist es denn diesmal?“, gebe ich mich ob der allgemeinen Aufregung auf Deck skeptisch.
„Nein Chef, diesmal lohnt sich die Bekleidung mit der Paradeuniform. Es ist tatsächlich wahr, wir haben es … wir haben Indien erreicht“, gibt sich Kaleutl feierlich.
Schnell bekomme ich ein Lagebild und höre mir die Einschätzungen der Führungsleute an. Die Mannschaft ist nicht mehr zu halten. Viele sind in die Takelage geklettert, andere stehen auf der Reling. Ich stelle mich neben den Rudergänger und kann tatsächlich eine bedeutende Landmasse sichten. Der Bootsmann erhält den Kurs. Die Segel sind bereits gesetzt. Bald schon werden wir die indische Küste erreichen. Ich hole Sextanten, Logbuch und die aktuelle Seekarte. Ich werde die Aufzeichnungen diesmal an Deck machen. Alle sollen diesen historischen Moment erleben. Wir messen unsere Position nach Längen- und Breitengrad und können beginnen, die Uferlinien zunächst grob in die Karte einzuzeichnen. Die Checkliste für die Landnahme habe ich immer griffbereit. Ich öffne jetzt das Siegel und überfliege schnell die Instruktionen. Zunächst weise ich an, dass die Schwesterschiffe über die vereinbarte Seezeichensprache gleichfalls Alarmpläne öffnen und danach handeln sollen. Das ist so abgesprochen und dürfte kein Problem sein. Wir können zufrieden feststellen, dass die Mobilmachung auf den drei Schiffen der Armada gleichsam geordnet stattfindet. Die Schiffe sind jetzt nah beieinander. Man kann sich gut verständigen. Die Landungstruppen und das Führungspersonal haben Paradeuniform anzuziehen, Prachtfederschmuck aufzusetzen und Kriegsbemalung auf Körper und Gesichter aufzuzeichnen. Die Waffenmeister öffnen gleichzeitig die Kriegsgerätekammer und lassen Steinschleudern, Keulen, Lanzen und Pfeilebögen an Deck bringen. Die rückwärtigen Dienste rüsten die Landungstruppen mit warmen Decken, mit Fackeln inklusive Zündzeug und mit Feldproviant für drei Tage aus. Die Offiziere und ich erhalten mit Gold verzierte Ehrendolche. Ein paar minderwertige Goldblechbarren habe ich in meinem Führungstornister gelegt. Sie sollen bei Bedarf als Geschenk verwendet werden. Nach ein paar Minuten ist die Crew aller drei Schiffe in höchster Alarmbereitschaft und landgangbereit. Ich hatte angewiesen, mit ausreichendem Sicherheitsabstand gemeinsam zu ankern und die Segel einzuholen. Wir wollen erst die Entwicklung an Land abwarten, denn wir können ein paar niedrige primitive Steinhütten, ein größeres Steinhaus mit höherem Turm und ein paar Eingeborene mit merkwürdigen Säcken in der Hand erkennen. Etwas weiter oben über der Siedlung grasen vereinzelt komische Wesen mit zottigem dichtem Fell auf grünen Wiesen. Das müssen Tiere sein, denn sie lassen sich durch unsere Ankunft nicht stören. Vielleicht sehen wir die sagenumwobenen heiligen Kühe? Die Regel, dass sie nicht gegessen werden dürfen, sollte nicht zwingend für uns als Gäste gelten, denn Nahrungsaufnahme ist dringend geboten. So vergeht ein Stunde, die der jeweiligen Gegenseite respektablen Abstand signalisieren soll. Ich kann jetzt deutlich erkennen, dass ein großer hagerer Mann in schwarzer fußlang schmuckloser Bekleidung mit einem vor die Brust gehaltenen kreuzähnlichen Gegenstand langsam zum Ufer schreitet und dabei murmelnd etwas gen Himmel spricht. Das muss ein wichtiger Inder sein, denn die Sackträgergruppe schließt sich ihm zögerlich und mit einigem Abstand an. Sie sehen friedlich aus, waffenähnliche Gegenstände sind nicht zu erkennen. Der Häuptling der Inder streckt uns klar erkennbar beide Hände entgegen und geht danach auf die Knie. Seine Sackträgergruppe folgt ihm. Alle senken jetzt die Köpfe. Das ist für mich das klare Zeichen, dass wir jetzt nicht mit Waffen in der Hand die Begegnung suchen sollten. Ich lege fest, dass ich mit Kaleutl und ein paar wenigen Matrosen mit einem einzigen Ruderboot den Landgang wage. Der Rest auf unseren Schiffen soll sich bereithalten und nur bei einer zweifelsfrei erkennbaren Stresssituation eingreifen.

Ich gebe mich als Anführer zu erkennen. Instinktiv kreiere ich ein paar Laute, die die friedliche Absicht unserer Landung ausdrücken soll. Unverständnis und Achselzucken der Gruppe der Eingeborenen ist das Resultat. Ich erweitere mein Repertoire der Kontaktaufnahmemittel mit antrainierter Körpersprache. Entscheidend ist, dass die turnerischen Übungen der Darstellung meiner Anliegen mittels Mimik und Lautkonstruktionen Unterstützung erfährt. Diese Kombination scheint erfolgreich zu sein, denn die Minen unserer Gegenüber erhellen sich merklich. Ein erster Erfolg. Kaleutl übergibt mir die bereits in Betrieb genommene Friedenspfeife, die ich anrauche und dem Kittelträger weiterreiche. Wir stehen uns jetzt sehr nah gegenüber. Er zittert ein wenig und seine Augen flackern, aber er nimmt seinen ganzen Mut zusammen und zieht den Rauch des glimmenden Tabaks ein. Das Augenflackern geht in den Zustand des Flimmerns über und augenblicklich überfällt den armen Mann ein fürchterlicher Hustenanfall.

Das Eis ist gebrochen. Ein Heiterkeitsausbruch beider Delegationen ist die Folge. Aggressive Handlungen scheinen nun ausgeschlossen, nur einer hat zu kämpfen. Ich fühle mich erleichtert und lasse meine Leute erst einmal auslachen. Es wird Zeit, die Eingeborenen näher in Augenschein zu nehmen. Es sind durchweg ungepflegte Kerle, strähnige Haare, Pickel in den Gesichtern und ganz besonders abstoßend ist der Haarbewuchs in den Gesichtern. Das bisschen Haut, das durch das Dickicht der Haare durchschimmert, erinnert an das Weiß des Schnees auf den aztekischen Vulkanen. Ihre Anzugsordnung ist bemitleidenswert. Sie tragen Röcke aus kariertem Stoff und überall sind kleine Stoffbommeln an der Kleidung befestigt. Statt Federn tragen die bleichen Gesichter komische Kappen auf den Köpfen, die auch noch liederlich schief aufgesetzt sind.

Plötzlich hebt ein freudiges Gejohle in der Gruppe der Sackträger an. Augenblicklich beginnen ein paar von ihnen, Stöcke in den Mund zu stecken, die aus den Säcken herausragen und blasen hinein. Dabei klemmen sie sich die Säcke unter den Arm und halten ihre Finger auf ein paar Löcher, die auf anderen Stöcken platziert sind. Einer zählt an und es beginnt ein unglaublicher Lärm. Meine Leute erschrecken. Ein paar halten sich die Ohren zu. Ich bemühe mich, dem Orkan der schrägen Töne mittels Zeichensprache Einhalt zu gebieten, vergebens. Im Gegenteil, der Lärm schwillt noch einmal an, als zwei Eingeborene mit großen flachen Tabletts auf uns zukommen, auf denen viele kleine Gefäße stehen, die mit einer bräunlichen Flüssigkeit gefüllt sind. Die Neuen sehen völlig anders aus. Sie erscheinen mit gepflegten Röcken, die bis zu den Füßen reichen. Die Fußnägel sind hübsch farbig angestrichen. Sie haben gepflegte Haare und der Teint ihrer Gesichter ist mir sympathisch. Ihre Körper kommen mir geschmeidig näher. Die Wesen bevorzugen die feinere Art der Fortbewegung im Vergleich zu ihren Artgenossen. Ich denke, das müssen ihre Weibchen sein.
Nun bekomme ich das Getränk überreicht und kann erkennen, dass das Gefäß, in dem sich die braune Flüssigkeit befindet, durchsichtig ist. Sofort denke ich an den Gegenstand, den wir auf der kleinen unbewohnten Insel gefunden haben und stelle Übereinstimmung beim Material fest. Er ist faszinierend, dass ein so festes Zeug dann auch noch durchsichtig sein kann. Alle haben ein Getränk bekommen und warten auf das Trinkzeichen. Ich halte mich in der Annahme zurück, dass es sich um ein landesübliches Begrüßungsritual handelt und die Eingeborenen somit das Recht haben, das Trinken zu eröffnen. Tatsächlich, ich liege richtig. Der schwarze Anführer der Inder hebt jetzt sein Gefäß und ruft uns komische Laute zu. Es klingt, als würde er seine Sprache kauen. Der Unterkiefer bewegt sich nicht nur auf und ab, sondern auch hin und her. Gelegentlich führt er beim Sprechen seine Zunge an den Gaumen, so dass der Klang der Sprache ausgeleiert klingt. Jedenfalls muss er etwas Freundliches sagen, denn die Minen der Inder hellen sich zufrieden auf. Es ist so weit. Das Getränk kann jetzt eingenommen werden. Ich und meine Azteken machen die Trinkbewegung unserer Gastgeber nach und schütten die braune Flüssigkeit vertrauensvoll mit einem Zug hinunter.
„Wow …, wow … Ohhhh … äähhhh!“
Mehr gelingt mir nicht. Es beißt, es kratzt und es brennt mir meine Aztekenkehle durch. Das muss Schnaps aus destilliertem Feuer sein. Meinen Gefährten geht es ähnlich. Alle haben furchtbare Symptome und verarbeiten die Attacke mit Keuchen, mit Japsen und Starkhusten. Nur langsam erholen wir uns und wischen die Tränen aus den Augen. Unsere indischen Gastgeber amüsieren sich prächtig. Jetzt haben sie allein das Vergnügen. Die Frauen kommen mit nachgefüllten Tabletts wieder und laden uns charmant ein, die gastfreundliche Prozedere zu wiederholen. Entsetzt weichen wir zurück. Das verstärkt die Heiterkeit der Eingeborenen enorm. Sie beginnen wieder, auf ihren Säcken zu spielen und machen erste Tanzbewegungen mit unglaublich schnellen synchronen Schrittfolgen. Jedenfalls sind wir der Party nicht gewachsen. Der hagere schwarze Kreuzträger beendet unsere Verwirrung und gibt seinerseits mit Zeichensprache zu verstehen, dass wir morgen früh bei Sonnenaufgang hierher zur gleichen Stelle kommen sollen. Ich versichere mich bei Kaleutl, ob ich den Vorschlag richtig verstanden habe. Der bestätigt und hat offensichtlich das Verlangen, einen zweiten Schluck des Feuerwassers zu konsumieren. Ich verbiete ihm die diesbezügliche Kontaktaufnahme. Ich gebe zu erkennen, dass wir bei Tagesanbruch pünktlich zur Stelle sein werden. Wir verabschieden uns und begeben uns in das Ruderboot zur Rückreise auf unser Schiff. Die Eingeborenen winken uns nach und ziehen vom Ufer hinauf zu dem Steinhaus mit dem langen hohen Turm. Unterwegs spielen sie ihre Säcke und kauen ein paar Lieder. Wir sehen, wie sie sich vor dem Haus versammeln und ein großes Feuer anzünden. Ihr Gesang und der dudelige Lärm sollten uns bis tief in die Nacht begleiten. Feiern können sie, zweifelsfrei!
Auf halber Strecke zu unserem Schiff stößt mich Kaleutl in die Seite.
„Schade Chef, hätte gern weitergetrunken. Ich fühle eine wunderbare warme Leichtigkeit um mein Herz. Das Zeug hat mir richtig gutgetan. Alle Sorgen waren mit einem Schlage weg. Da ist unser Tequila dagegen wie eine dünne Diätgemüsebrühe.“
Ich muss gestehen, dass auch in mir eine wohlige Wärme entstanden ist, die ich als überaus wohltuend empfinde. In meiner Kajüte angekommen, krame ich einen gestohlenen Getränkebehälter aus meinem Lendenschurz und vergleiche das Material mit unserem geheimnisvollen Fund auf der einsamen Insel. Tatsächlich, es ist gleich. Ich denke, dass es schwer sein wird, einzuschlafen. Was für ein Tag! Wir haben das sagenhafte Land erreicht und ich werde als großer Entdecker in die Geschichte der Azteken eingehen. Wäre doch Inka hier.

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