Das Kind aus dem ICE-Zug

Das Kind aus dem ICE-Zug

Werner Arn


EUR 19,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 246
ISBN: 978-3-99146-332-0
Erscheinungsdatum: 08.11.2023
Ein junges Paar mit Kinderwunsch, der sich trotz großer Anstrengungen nicht zu erfüllen scheint. Eine verzweifelte, junge Mutter mit einem Baby, das es nicht geben sollte. Das Schicksal will es, dass ihre Wege sich kreuzen.
Der ICE-Zug steht schon bereit, als Beat Käser am Bahnhof eintrifft. Halb neun, die Pendler sind schon weg und der Ausflugsverkehr beginnt erst. Einen guten Sitzplatz zu finden, ist heute kein Problem, viele Abteile sind leer und man kann sich den Platz aussuchen.
Er macht sich auf eine gemütliche Fahrt. Entspannt fährt er Richtung Ilanz, nimmt eine Tageszeitung zur Hand, liest uninteressiert die Schlagzeilen. «Wäre es mit dem Auto nicht besser», denkt er, als er gedankenabwesend die großen Buchstaben überfliegt. Mit dem Auto ist es immer ein Stress, man kommt, wenn es gut geht, müde und nervös nach zwei Stunden am Bestimmungsort an, und bis man sich ein wenig erholt hat, vergeht noch eine Stunde, dann erst kann man sich auf die Arbeit konzentrieren.
Viel angenehmer ist es mit dem Zug, man kann sich noch auf dieses oder jenes vorbereiten, Skizzen für eine Problemlösung erstellen, so manches gibt es zu studieren. Samstags wird Beat seinen Wohnsitz sowieso an seinen Arbeitsort verlegen, somit hat sich das Problem mit Zug oder Auto gelöst. Seine Frau war nicht gerade in Begeisterungsstürme ausgebrochen, wollte zuerst gar nicht mitkommen, aber mit der Zeit hat sie eingesehen, dass eine Wochenendbeziehung nach der fünfjährigen Ehe nicht das Beste ist.
Seit er den Auftrag für eine Überbauung mit 50 Wohnungen bekommen hat, ist er finanziell abgesichert. Den Wettbewerb hat er ganz knapp vor einem Einheimischen gewonnen, nur weil der Bauherr Probleme mit Dorfbewohnern hatte, bekam Beat den Auftrag. Der Bauherr ist ein Kapitalist aus Zürich, der auf die Einheimischen nicht gut zu sprechen ist. «Nur Knebel zwischen die Beine werfen, alles verhindern, wo es nur geht, dazu kleinlich, eigensinnig und stur», pflegt er immer wieder zu sagen. Ein Dorf mit 11’000 Einwohnern, nicht weit von Ilanz entfernt. Ein wunderbarer Flecken Erde, mit schöner Aussicht auf Berge und Vorterrain. Dort darf er die Überbauung mit 50 Wohneinheiten erstellen, so beglücken ihn die Gedanken.
Die Sitze beidseitig des Ganges sind beim Einsteigen leer gewesen. Beat will die Zeitung eigentlich weglegen, aber ein Artikel interessiert ihn doch noch. Er handelt davon, wie eine Frau nach langer Kinderlosigkeit wie durch ein Wunder doch noch Kinder bekommen hat. Da er und seine Frau dieses Problem auch kennen, fesselt ihn der Artikel doch noch, er achtet nicht auf das Geschehen um sich herum. Als er zur Entspannung den Kopf hebt, sitzt eine Frau auf der Nebenbank, die hinter Kragen und Kopftuch nicht zu erkennen ist, neben ihr eine große Tragtasche, die sie krampfhaft festhält, die Beine eng übereinandergeschlagen, den Kopf gesenkt. Er hatte sie gar nicht bemerkt, als sie Platz nahm. Ohne sie weiter zu beachten, liest er weiter. Kurz bevor sich der Zug in Bewegung setzt, ist die Frau verschwunden, aber die Tragtasche ist immer noch da. «Die wird aufs WC gegangen sein und kommt bald zurück. Was geht mich die Tasche an?», sagt er genervt zu sich. Aber immer wieder schaut er, sie lässt ihm einfach keine Ruhe, von lesen war schon lange keine Rede mehr. Nach zehn Minuten ist die Frau immer noch nicht zurück. Dann hört er ein leises Wimmern. Als das Wimmern immer stärker wird, denkt er sich: «Mir egal, ich will sehen, was in der Tasche ist, mir wird schon etwas einfallen, wenn die Frau unverhofft auftaucht.» Schnell geht er hin, öffnet den Reißverschluss ganz langsam, und was sieht er? Da ist ein Kind, ein Neugeborenes, höchstens eine Woche alt. Er setzt sich neben die Tragtasche, hält sie fest, dass sie nicht hinunterfällt. «Was soll ich machen?»
Wie auf Kommando kommen Gedanken. «Ich bin 31, meine Frau 29, und schon lange wünschen wir uns ein Kind, was haben wir schon Geld ausgegeben, beim Arzt, bei der Kindervermittlung, überall, und keine Hoffnung auf ein Kind, gerade vor zwei Tagen haben wir wieder eine Absage bekommen – und jetzt dieses Kind hier, vielleicht wurde es ausgesetzt. Eine höhere Kraft, die uns auf diesem Weg ein Kind geschenkt hat. Wahrscheinlich wird die Frau bald kommen, der das Kind gehört. Aber etwas muss ich unternehmen, sonst werde ich noch angezeigt wegen Kindesentführung, gut, ich gehe den Weg, den man gehen muss in so einem Fall.»
Beat sucht den Zugbegleiter, der ist ungefähr fünf Wagen weiter in Richtung der Lokomotive. «Eine Frau hat mich gefragt, ob ich nicht schnell zu ihrem Kind schauen würde, bis sie zurückkommt. Da ich an der nächsten Station aussteigen muss, kann ich das Kind nicht länger beaufsichtigen», sagt er dem Zugbegleiter. Beat nennt das Alter des Kindes nicht, würden sie die Mutter ausrufen? «Ich weiß den Namen der Mutter nicht. Fünf Wagen zurück, da warte ich auf euch, oder die Mutter.» Beat ist schon wieder an seinem Platz, als die Durchsage kommt: «Kind sucht Mutter, da Aufsichtsperson aussteigen muss.»
Kurz bevor der Zug in Pfäffikon hält, kommt der Kondi. Beat hat die Zeitung aufgeschlagen, über die Tasche gelegt, das Kind hat sich unterdessen wieder beruhigt. Er tut so, als ob er läse. «Alles in Ordnung mit dem Kind?», fragt jemand. Beat antwortet: «Ja, ja» und hebt den Kopf ruckartig, als ob er sich erschrocken hätte.
«Die Mutter ist gekommen, hat sich entschuldigt und das Kind mitgenommen, sie habe eine Bekannte getroffen, da sie ihr Kind in guten Händen wusste, einen Schwatz gemacht und ganz vergessen, dass der Zug bald hält.»
«Gut, dann ist ja alles in Ordnung. Was da nicht alles verloren geht, glauben Sie gar nicht, Beinprothese, Gebiss, teure Fotokamera.»
Beat will gar nicht hören, was alles verloren geht, wenn der nur verschwindet, bevor sich das Kind bemerkbar macht. «Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag», sagt der Zugbegleiter und verlässt das Abteil, Beat fällt ein Zentner Stein vom Herzen, als er weg ist.
Als der Zug endlich hält, steigt er aus und ruft seine Frau an. «Du musst sofort mit dem Auto nach Pfäffikon kommen, ich habe ein Kind gefunden, frag nicht, was, wie und warum, komm einfach.» Beat schreitet aufgeregt mit der Tasche hin und her, dann öffnet er sie wieder ein wenig, schaut, ob alles in Ordnung ist. Nach einer Weile fängt das Kleine an, unruhig zu werden. «Nur nicht schreien», hofft er, setzt sich auf eine Bank, hält die Tasche ein wenig geöffnet auf dem Knie, wippt dazu und unterhält, sich so gut er es kann, mit dem Kind. Etwa eine Stunde später erscheint, zur Erleichterung von Beat, Elisabeth.
Sofort geht er ihr entgegen. «Gehen wir zum Kofferraum, dort ist es etwas bequemer.» Er breitet eine Decke aus, die er immer im Kofferraum hat, dann öffnet er die Tasche. Elisabeth staunt nicht schlecht, als sie das Kind sieht. Sie nimmt es ganz vorsichtig aus der Tasche und legt es behutsam auf die Decke. Das Kind ist sehr gut gewickelt, die Person wusste, wie man das macht. Die Windel ist aber voll, also muss sie gewechselt werden. «Wir haben aber nichts, keine Windeln, kein Puder, keinen Schoppen, rein gar nichts», sagt Elisabeth.
Elisabeth geht in den nächsten Laden und besorgt das Nötigste. Sie erklärt der Verkäuferin, sie habe zu Hause alles in einer Tragtasche im Wohnzimmer parat gemacht, jetzt stehe es immer noch dort. «Können Sie mir bitte alles, was man braucht, einpacken, auch eine Schoppenflasche und einen Thermokrug mit warmem Wasser.»
Es ist ein Mädchen, stellen sie beim Trocknen fest. «Oh watsch», bemerkt Beat, als er die Kleine bewundert, «das ist ein Ausländerkind.» «Egal», meint Elisabeth, «auch Ausländerkinder brauchen Eltern.» Als es ohne Probleme getrunken hat, ist es wieder ruhig. «Und jetzt, wie weiter?», fragt Beat. «Es gibt zwei Möglichkeiten: Wir legen sie in die Babyklappe oder wir behalten sie.»
«Behalten», sagt Elisabeth mit überzeugender Stimme, «das ist jetzt unser Kind.»
«Wie willst du das unseren Verwandten und Bekannten mitteilen?», fragt Beat.
«Wir fahren gleich ins Graubünden, dort weiß kein Mensch, dass wir kein Kind haben, und in Zürich sagen wir einfach, dass die Adoption erfolgreich war.»
«Das könnte klappen», meint Beat, «also ab ins Graubünden, die Wohnung ist bezugsbereit, den Schlüssel habe ich. Nur nicht möbliert, die Möbel kommen erst in 14 Tagen, aber ein Zimmer können wir sicher bewohnbar machen.»
Elisabeth setzt sich auf den Rücksitz, hält die Kleine im Arm, lächelt sie an, als hätte sie sie geboren. Ihre Augen strahlen das Mädchen voller Bewunderung an und sie denkt: «Jetzt haben wir ein Kind. Ein eigenes Kind.»
«Hast du dir schon überlegt, wie sie heißen soll?», platzt Beat in ihre Gedanken. «Hat noch Zeit, morgen werden wir einen Namen für sie aussuchen.»
«Weißt du eigentlich, dass das schon längst registriert sein sollte?»
«Du wirst dir schon etwas einfallen lassen, dass wir unser Kind legal bekommen haben», erwidert Elisabeth mit Überzeugung.
Am anderen Tag wird als Erstes das Zimmer nach dem Geschmack von Elisabeth eingerichtet. Sie kann alles nach ihren Gefühlen und Empfindungen gestalten. Keine Verwandten oder guten Freunde wollen ihr etwas andrehen, das sie nicht mehr brauchen können und das doch so gut ins Kinderzimmer passen würde.
Der Name, ja, der Name ist ein Problem. Trotz Internet haben sie Mühe, einen Namen zu finden. Nach langer Diskussion kann man sich auf «Lea» einigen.
Ans Zurückgeben oder daran, das Mädchen in die Babyklappe zu legen, denken sie nicht mehr. «Das ist eine Fügung des Schicksals, also haben wir ein Recht darauf, es zu behalten.» Einen Aufruf, dass ein Kind vermisst wird, haben sie nie gesehen oder gehört, das Kind wurde ausgesetzt und sie haben es gefunden, also gehört das kleine Wunder ihnen. So diskutieren sie miteinander. Von der Hautfarbe her muss es ein Türkenkind sein oder aus dem Nahen Osten kommen.
Aber etwas ist ihnen von Anfang an bewusst: Jemandem müssen sie die Wahrheit sagen, denn das Kind muss eine Identität und einen Pass haben.

***

Zwei Tage später, das Wetter zeigt sich von der schönsten Seite. Elisabeth legt Lea, nachdem sie ihr das schönste Kleid angezogen hat, in den neuen Kinderwagen, spaziert selbstbewusst, mit gemächlichen Schritten auf einer Nebenstraße. Die beiden sind kaum fünf Minuten unterwegs, als sie sieht, dass noch andere Mütter die gleichen Gedanken gehabt haben. Sie steuert ihren Wagen direkt gegen ein Gespann, das ihnen entgegenkommt. Elisabeth grüßt freundlich, hält ihren Wagen, als sie auf gleicher Höhe ist, an, um ihr Gegenüber in ein Gespräch zu verwickeln. Annette, so heißt die Frau, ist nicht abgeneigt, ein wenig zu plaudern. So macht Elisabeth Bekanntschaft mit einer Frau, die die gleichen Probleme und Interessen hat. Als sie voneinander wissen, wie die Kinder heißen, das Alter und so manches, was beide interessiert, fragt Elisabeth, wo der nächste Arzt und die Säuglingsberatung seien. Annette gibt bereitwillig Auskunft. «Ich möchte dich zu Kaffee und Kuchen einladen, aber wir sind noch nicht fertig eingerichtet», bedauert Elisabeth. «Komm doch mit deinem Mann heute Abend zu uns, wenn mein Mann auch zu Hause ist», entgegnet Annette, «nimm die Kleine mit, die kann bei Björn schlafen, dann können wir auf ein ‹Du› anstoßen.» «Wir kommen sehr gerne», sagt Elisabeth.
Der Zufall will es, dass der Mann der Kinderwagenbekanntschaft Rechtsanwalt ist. Nach langem Überlegen entschließen sich Käsers dazu, den Anwalt in ihr Geheimnis einzuweihen. Am Morgen ruft Beat Annette an. «Ich habe am Freitag Geburtstag und möchte Sie zum Essen in den Hirschen einladen.» Elisabeth weiß, das Kind muss so schnell wie möglich registriert werden.
Zum Essen ein guter Wein, nicht wenig, anschließend ein Kaffee, Schnaps, zwei, drei Appenzeller, bis alle einen kleinen Schwips haben. Sie brauchen keine Angst zu haben wegen des Fahrens, da alle zu Fuß gekommen sind. Diskutiert wird vor allem über die große Überbauung. Es ist ein lustiger Abend, unter anderem fragt Beat, ob er auch Leuten, die in Not sind, helfen kann, indem man, ohne anderen einen Schaden zuzufügen, das Gesetz umgeht. «Wie meinst du das?», fragt Kaspar, so heißt der Mann von Annette. Unter anderem will Beat wissen, ob Kaspar auch schon Kindern auf illegale Weise den Schweizerpass vermittelt hat. Beat hat das Gefühl, Kaspar werde gleich nüchtern, er starrt Beat an, als käme er von einem anderen Stern. «Das geht nicht, das ist strafbar, ist euer Kind etwa illegal hier, habt ihr einen Krampf gedreht?», wollte Kaspar wissen. «Nein, nein, alles in bester Ordnung, ich wollte es nur wissen.»
«Dann bin ich beruhigt.»
«Ich habe einen Bekannten, der möchte ein Kind adoptieren, aber das kostet eine Unmenge Geld hier in der Schweiz, was er nicht besitzt, da hat er mit dem Gedanken gespielt, eines im Ausland zu kaufen und dann mit gültigen Papieren in die Schweiz zu bringen.»
«Da gibt es natürlich immer Mittel und Wege für solche Spielchen, aber da biete ich nicht Hand, ich weiß, dass es italienische oder Tessiner Anwälte gibt, die das schon gemacht haben.»
«Könntest du mir eine Adresse angeben?»
«Ja, könnte ich, wenn ich wollte, aber zuerst möchte ich die Familie kennenlernen.»
«Nein, das geht nicht, gib mir die Adresse vom Anwalt oder wir vergessen das Ganze.»
Auf einmal kommt Beat der Gedanke ans Internet. Käsers verabschieden sich eine halbe Stunde später.
Beat öffnet noch am selben Abend das Internet und sucht nach einem Anwalt. Etwa zwei Seiten voller Anwälte findet er im Tessin. «Aber welcher ist der richtige, bei einem Stand auf Italienisch und Deutsch, ich helfe Ihnen auch bei einem Ausländerkind, einen Schweizerpass zu besorgen, das ist mein Anwalt», brummt er vor sich hin.
Auf dem schnellsten Weg fährt er am nächsten Tag ins Tessin, ohne die schöne Aussicht zu genießen, dafür mit einem mulmigen Gefühl im Bauch. Nach einer Stunde Fahrt steht er dank Fahrthilfe im Büro des Anwalts. «Sind Sie angemeldet?», fragt eine ziemlich unfreundliche Empfangsdame auf Italienisch. Beat tut so, als hätte er nichts verstanden, dann probiert sie es auf Deutsch. «Nein», erwidert er, «gut, dann können Sie wieder nach Hause», sagt sie in schlechtem Deutsch. Ohne weitere Erklärungen abzuwarten, setzt er sich auf einen Stuhl, der eigentlich für Wartende reserviert ist, und tut so, als hätte er nichts verstanden. «Bitte gehen Sie, mein Chef hat Termine, heute den ganzen Tag», sagt sie auf Englisch. Beat erwidert sehr energisch auf Mundart: «Ich will den Chef sprechen, ich habe drei Stunden Autofahrt hinter mir und habe nicht im Sinn, ohne eine Antwort wieder nach Hause zu fahren.» Er merkt, dass die Dame nur Bahnhof verstanden hat, als sie ihn mit offenem Mund anschaut. Beat sagte das sehr verärgert und bleibt einfach sitzen, die Dame gibt das Unterfangen auf, ihn loszuwerden. Ohne ihn zu beachten, gehen Leute an ihm vorbei, treten an den Schalter, verschwinden in einem Zimmer, kommen nach kurzer oder langer Zeit wieder heraus. Beat wartet einfach, weiß nicht, worauf und auf wen.
Nach einer Stunde kommt ein älterer Herr in Krawatte, gut angezogen, dazu ein sicheres Auftreten, eine Mappe unter dem Arm, ein fester Gang, mit einem scharfen Blick. «Das muss der Anwalt sein, den ich suche», geht es Beat durch den Kopf, er steht auf und stellt sich einfach vor ihn hin, versperrt ihm den Weg. «Sind Sie Herr Salvadore, der Anwalt?»
«Nein, der bin ich nicht, ich bin sein Vater.» Er spricht ganz gut Deutsch. «Haben Sie ein Problem?», fragt er unfreundlich, fast verärgert.
Beat erklärt ihm den Sachverhalt, dass die Sekretärin ihn einfach nicht angemeldet habe, er habe einfach hier gewartet. «Worauf?», will der Anwalt wissen. «Ich weiß nicht, wahrscheinlich auf Sie», entgegnet Beat spontan. «In zehn Minuten lasse ich Sie rufen, das muss eine interessante Sache sein, wenn Sie einfach warten», sagt der Anwalt und verschwindet im Nebenzimmer.
«Ich bin Salvadore Sen und war auch Anwalt, jetzt bin ich im Ruhestand, aber manchmal übernehme ich noch Fälle, die nicht allzu aufwendig sind, also erzählen Sie, los, wo drückt der Schuh.»
«Ich weiß nicht so recht», gibt Beat zu bedenken. «Ich bin Anwalt und bin vereidigt, bin zum Schweigen verpflichtet», probiert er, ihn zu beruhigen.
Beat erzählt ihm die Geschichte vom gefundenen Kind und dass Käsers es einfach behalten möchten.
Er hört geduldig zu. «Ja, das ist eine schwierige Sache, das geht schon unter Strafe, was sie hier gemacht haben.»
«Weiß ich selber», murmelt Beat.
Er verlässt den Raum, nachdem er die Adresse aufgeschrieben hat, und kehrt kurz darauf wieder zurück. «Das ist eine heikle Aufgabe, das kann bis zwei Jahre Gefängnis geben, für Sie und mich, aber ich habe schnell nachgeschaut, den Fall übernehme ich, ein solcher Fall in meinem Alter, da ist bestimmt etwas Spannung drinnen, das kostet Sie 10’000 Schweizer Franken. Aber erst, wenn sie das Kind ihr Eigen nennen dürfen. An diesem Fall ist Fleisch am Knochen, vielleicht ein paar schlaflose Nächte, in meinem Alter tut das gut, macht dazu Spaß. Wissen Sie, Rauschgiftsüchtige, Scheidungen, Zigarettenschmuggel, vielleicht noch kleinere Betrüger, von denen hatte ich Hunderte. Aber einem Kind durch einen Pass zum Glück zu verhelfen, das hatte ich noch nie. Ein Pass, ein Dokument, ein Blatt Papier, das es braucht fürs Leben, ja, das werde ich machen. Dann hat das Kind eine glückliche Jugend, rechtschaffene Eltern, deren größter Wunsch in Erfüllung geht.»

***

Der Anwalt empfiehlt Beat, in Lugano für sich und seine Frau ein Hotelzimmer zu buchen. «Ich habe eine Idee, wie es klappen könnte. In ein bis zwei Tagen haben Sie ein eigenes Kind mit gültigen Papieren.»
Nachdem er in einem guten Hotel Zimmer für drei Personen reserviert hat, macht Beat einen kleinen Spaziergang durch das schöne Städtchen Lugano, er hat gute Laune, könnte die halbe Welt umarmen. Bei jedem Laden mit Babykleidern verweilt er eine Weile, stellt sich vor, wie seine Tochter in bestimmten Kleidern wohl aussieht, aber seine Frau macht das bestimmt viel besser. Beat freut sich jetzt schon, wenn er legal, erhobenen Hauptes, mit dem Kinderwagen durch das Dorf spazieren kann. «Unsere Lea geben wir nicht mehr her, koste es, was es wolle.»

Nach dem Essen will sich Beat noch einen Drink in der Hotelbar genehmigen, um seine Freude zu begießen. Es sind wenig Gäste im Lokal, so kann er sich ungestört mit der Bedienung unterhalten.
Er wird sehr aufgeregt, als das Handy klingelt und er sieht, dass es der Anwalt ist. «Ich habe die Lösung gefunden, so sollte es gehen, Details folgen später. Kommen Sie morgen um neun Uhr in meine Kanzlei, dann werde ich Sie aufklären.»
Beat bestellt noch einen Whisky, dann noch einen, bis er einen kleinen Schwips hat, damit er gut schlafen kann, denn er ist so aufgeregt, kann das Glück kaum fassen.
Er ist in Gedanken versunken, malt sich das Glück mit seinem Kind aus, als ein besoffener Gast schwankend das Lokal betritt. «Ach, der schon wieder», meint die Bedienung, mehr zu sich. «Was willst?», fragt sie auf Italienisch. «Ein Whiskysoda», lallt er. «Geh heim zu deiner Familie, deinen Kindern und deiner Frau, die auf dich warten, anstatt dich hier vollzusaufen.» Zuerst wird er zornig, beleidigt die Bedienung, dann beruhigt er sich, bestellt noch einmal dasselbe, wird immer stiller, auf einmal fängt er an zu weinen, er hat das heulende Elend bekommen.
Die Serviertochter erklärt Beat, dass der Mann fünf Kinder hat und seine Frau ihn mit anderen Männern betrügt, am Abend ist er meistens betrunken, aber zur Arbeit geht er alle Tage.
Dann kommt ein etwa zwölf Jahre alter Knabe ins Restaurant gerannt und redet auf den betrunkenen Mann ein, der erschrickt sehr und Beat hat das Gefühl, dass der Mann auf der Stelle nüchtern geworden ist. Augenblicklich verlässt er das Lokal, ohne zu zahlen. «Das war sein Junge, seine Frau ist von einem Auto angefahren worden und ist verletzt», erklärt ein Gast, der inzwischen neben Beat Platz genommen hat und Italienisch versteht. «Ich werde die Konsumation von dem Herrn, der eben gegangen ist, übernehmen», erklärt Beat spontan, «Warum eigentlich», geht es ihm durch den Kopf, «Morgen wird er wieder saufen, probieren, seinen Kummer im Alkohol zu ertränken.» Mit aufgewühlten Gedanken verlässt er das Lokal, dann legt er sich schlafen.

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