Zeit der hundert Abschiede

Zeit der hundert Abschiede

Helmut Hermann


EUR 16,90
EUR 10,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 226
ISBN: 978-3-99048-620-7
Erscheinungsdatum: 17.10.2016
Eine autobiografische, mit vielen persönlichen Eindrücken versehene Dokumentation der letzten beiden Kriegsjahre 1943-45, so wie sie ein siebzehnjähriger Gymnasiast erlebte - in durchaus humorvoller und satirischer Weise nachgezeichnet.
Vorwort

In dem relativ kurzen Zeitraum von Mitte 1943 bis April 1945 erfüllten sich im Hitlerkrieg die Geschicke der Deutschen und Österreicher, die die zweite vernichtende Niederlage innerhalb eines Jahrhunderts erleben mussten. Viele Tausende Menschen haben die Kriegswirren nicht überlebt, andere verloren Haus, Hof, Eigentum und alles, was ein Mensch verlieren kann. Mir persönlich kommt es heute noch wie ein Wunder vor, alle diese Ereignisse relativ heil überstanden zu haben. Im Vergleich zu anderen Menschen lagen meine Lebensabläufe während dieser zwei Jahre stets am Rande einer Katastrophe, jedoch nie im Zentrum derselben, ohne dass ich viel dazutun musste. Wesentlich war vielleicht mein Entschluss, alles zu unternehmen, dem Beitritt zur Waffen-SS zu entkommen. Ich denke, dass meine Initiative, mich freiwillig als Offiziersanwärter zu einer anderen Waffengattung zu melden, richtig war, obgleich meine weitere militärische ‚Karriere‘ auch sehr oft zu einem Desaster hätte führen können. Ziemlich häufig geriet ich im Kriegseinsatz in unmittelbare Lebensgefahr; dass ich ihr entkam, verdanke ich in erster Linie meinem Schutzengel.
Alles in allem jedoch entdeckte ich, nicht zuletzt mit Hilfe meines Vetters Berti, dass man beim Militär seinen Alltagsablauf mitunter durch ein Quäntchen Opportunismus verbessern konnte, aber da waren wir zwei ganz sicher nicht allein.
War das Schreiben am Anfang noch ein chronologisches Aneinanderreihen von Ereignissen, so erkannte ich bald die Zusammenhänge zwischen mir und dem Zeitgeschehen im wahrsten Sinn des Wortes: Alles geschah mit mir, ob ich wollte oder nicht. Ich hatte nur zu versuchen, dabei nicht zu stolpern. In diesem Kontext entdeckte ich zum einen, dass Diktaturen wie der Nationalsozialismus durch den tierischen Ernst, mit dem nicht nur der Parteialltag, sondern auch Aufmärsche, Kundgebungen und öffentliche Veranstaltungen abliefen, nicht selten an den Rand von Lächerlichkeit und unfreiwilligem Humor gerieten, zum andern konnte man insgeheim sogar darüber lachen und so die Härte des Daseins etwas mildern. Da mit dem Schreiben auch Erinnerungen an bereits Vergessenes lebendig wurden, konnte ich solche Begebenheiten zu Papier bringen und sie mit entsprechenden satirischen und ironischen Bemerkungen garnieren. Hier vermischt sich oft das eigene Wissen aus Gegenwart und Vergangenheit, was durchaus positiv gesehen werden kann.
Ich wurde von meinen Kindern, Freunden und Verwandten im Verlauf vieler Jahre, vielleicht sogar von Jahrzehnten, immer wieder nach meinen Kriegserlebnissen befragt. Ab und zu wurde auch der Wunsch geäußert, ich solle alles aufschreiben, doch ich zögerte immer, nicht weil ich nicht wollte, sondern weil ich im Grunde zu bequem war, nach so langer Zeit alles wieder ins Gedächtnis zurückrufen zu müssen. Der unmittelbare Anlass war dann im Jahre 2012 das zufällige Wiederfinden meines Kriegsfreundes Walter N. nach sage und schreibe 67 Jahren, in denen wir nichts voneinander gehört hatten. Unmittelbar nach diesem Event kam mir die Idee, doch wieder ideell in die Vergangenheit zurückzukehren und darüber zu schreiben, und danach, so dachte ich, sollte auch Walter seine eigenen Kriegserinnerungen hinzufügen, denn er war ebenfalls im Kampfgeschehen gewesen und so wie ich auch leicht verwundet worden. Dazu kam es leider nicht.
So blieb es bei meiner Schilderung der Abenteuer eines Siebzehnjährigen, der durch Krieg und Nazipräsenz um die schönsten Jahre seiner Jugend betrogen worden war. Jetzt habe ich Enkelkinder, die schon ein oder zwei Jahre älter sind, als ich damals war. Trotz aller Negativerfahrungen der letzten Jahrzehnte mit Kindersoldaten in Afrika, mit Flüchtlingswaisen im Nahen Osten und vielem mehr, fehlt mir die Vorstellungskraft, dass sie eines Tages Ähnliches erleben könnten wie ich 70 Jahre zuvor.


I. Kriegstage
Beginn des Exodus aus unbeschwerter Jugendzeit

An einem kühlen Morgen in den Apriltagen des Jahres 1943 wehte der kräftige Frühlingssturm einen fremden Mann zur breiten Eingangstür unseres Gymnasiums in Neutitschein herein. Zielstrebig begab er sich zum Konferenzzimmer, wo er nur einmal kurz anklopfte, und ohne auf ein ‚Herein‘ zu warten, sofort eintrat. Keiner der Schüler, die ihn beobachtet hatten, erinnerte sich an einen ähnlichen Fall; stets musste gewartet werden, bis man die Erlaubnis bekam, einzutreten. Das galt für alle Besucher, auch für Eltern und ganz besonders für uns Schüler.
Es dauerte nicht lange und die Schüler wussten, dass es sich hier um jemanden handeln musste, der genug Einfluss besaß, sich über herrschende Gepflogenheiten hinwegzusetzen. Und weil wir damals in einer Zeit lebten, in der nichts normal war und die Obrigkeit absolutistische Befugnisse besaß, denen niemand widersprechen durfte, ahnten wir, was den Besucher betraf, nichts Gutes. Fredi John, der Phlegmatischste und Unerschütterlichste in der Klasse, schaute nachdenklich drein: „Dass sich unser Direktor das ohne Widerspruch gefallen hat lassen, hätte ich nicht gedacht. Noch nie ist so etwas vorgekommen!“
„Vielleicht hat er sich’s gar nicht gefallen lassen“, sagte einer aus der sechsten Klasse, der gerade dazukam, „als ich an der Tür vorbeiging, hörte ich laute und erregte Stimmen, die alles andere als freundschaftlich klangen! Ich habe keine Ahnung, wer der Mann ist, aber ich denke, wir werden es bald erfahren.“
Die Geschichtsstunde unter Professor Knopp begann wie immer. Wir mochten den alten weißhaarigen Herrn, den man nach vielen Jahren Ruhestand wieder aktiviert hatte, wie viele andere auch. Die jungen Lehrer waren irgendwo an der Front, um das deutsche Vaterland gegen den Rest der Welt zu verteidigen, ein Unterfangen, das schon zum Scheitern verurteilt war, bevor es begonnen hatte.
Professor Knopp nahm es mit der Einhaltung des Lehrplanes nicht so genau und erzählte uns Fronterlebnisse aus dem Ersten Weltkrieg, Dinge, die für uns große Aktualität besaßen. Und weil er wusste, dass wir Fünfzehn- und Sechzehnjährigen über kurz oder lang auch in den Kampf würden ziehen müssen, versuchte er, uns auf seine Weise ein bisschen die Angst vorm Schießen und Erschossenwerden zu nehmen.

„Die Natur hat uns Menschen die Fähigkeit gegeben“, pflegte er zu sagen, „dass wir die Angst vor einer großen Gefahr zu verdrängen imstande sind, noch bevor sie wirksam wird. Stürmen Soldaten gegen den Feind, so wird das Denken an den Tod zurückgesetzt oder sogar ganz ausgeschaltet! Ich habe es immer wieder erlebt.“ Und als wollte er den Beweis für seine Behauptung erbringen, pflegte er die linke Hand hochzuheben; zwei Finger hatte man ihm im Ersten Weltkrieg weggeschossen und den Rest konnte er nur beschränkt gebrauchen.
Ich hatte meine Zweifel, ob die Sache funktionierte. Die Bestätigung meiner Skepsis erlebte ich anderthalb Jahre später bei einem Sturmlauf auf amerikanische Stellungen. Als die feindlichen Granaten um uns herum einschlugen, hätten wir uns am liebsten in ein Mauseloch verkrochen. Die Angst stand uns allen ins Gesicht geschrieben und sie blieb allgegenwärtig, so als hätte der gute alte Professor nichts zu uns gesagt. Vielleicht waren die Soldaten des Ersten Weltkrieges mutiger gewesen als wir!
Während der Geschichtestunde kam dann die Lösung des Rätsels um den geheimnisvollen Besucher: Begleitet vom Direktor, der ihn als Werber für die Waffen-SS vorstellte, suchte er die oberen Klassen auf, um möglichst viele von uns zu überreden, der Waffen-SS beizutreten, und zwar sollten wir uns freiwillig melden; ein Widerspruch in sich, denn wenn jemand einen anderen auffordert, etwas freiwillig zu tun, wird wieder Zwang daraus. Zur Ehrenrettung meiner Klassenkameraden. Es meldete sich kein Einziger, trotz eindringlicher Worte dieses militärischen Menschenfängers, eines hohen SS-Offiziers, dekoriert mit Eisernen Kreuzen aller Klassen, wie er sagte. Er, der vorsorglich nicht in seiner schwarzen Uniform erschienen war, sondern in schlichtem Zivil, war bei uns trotzdem erfolglos geblieben, denn im ganzen Land war die SS zu dieser Zeit ihrer unmenschlichen Härte wegen schon arg verschrien und verrufen. Allein der Anblick der schwarzen Uniformen mit einem Totenkopf als Emblem verbreitete schon Unbehagen, auch wenn man mit der ‚Schutzstaffel‘, wie die SS mit dem vollen Namen hieß, nicht direkt zu tun hatte. Sie war 1925 zum Schutz der Person Adolf Hitlers gegründet worden und erhielt 1940 den Namen ‚Leibstandarte‘, ein Terminus, der mehrere Deutungen zulässt, denn Standarte ist zum einen ein fahnenähnliches Feldzeichen und zum anderen der Schwanz eines Fuchses oder eines Wolfes in der Jägersprache. Ob sie das bei der Namensgebung gewusst hatten?
Das Auftreten des SS-Mannes in unserer Schule hatte zwar keinen unmittelbaren Erfolg beim Akquirieren von neuem Kanonenfutter für die SS, aber für mich und meine Freunde stellte sich in diesem Zusammenhang eine sehr wichtige Frage. Was wäre, wenn jeder von uns eines Tages per Post einen Einberufungsbefehl für die SS bekäme? Dann müssten wir ihr doch Folge leisten, ohne Wenn und Aber, und wir wären dann dort, wo wir absolut nicht sein wollten. Auch waren wir größer als einen Meter siebzig, einem wichtigem Parameter für die Tauglichkeit eines zukünftigen ?SS-Mannes. Gab es da einen Ausweg?
Wir trafen uns in der Konditorei Luchesi, unserem Stammlokal, mein Vetter Hubert Lacheta, der stets lustige Herbert Krumel, der Herbert Pfertner, und noch ein paar andere. Im Hinterzimmer saßen wir auf den rot gepolsterten Stühlen; es war unser Stammlokal, und der Herr Luchesi, ein lange vor dem Einmarsch der Deutschen in die Tschechoslowakei zugewanderter Italiener, sorgte persönlich dafür, dass die ‚Herren Studenten‘, wie er uns liebevoll nannte, ungestört blieben. Ob er ahnte, dass wir mit dem, was die Nazis wollten, nicht unbedingt konform gingen? Ich weiß es nicht, aber ich denke eher ja als nein, denn wir waren schon rein äußerlich anders als jene, die vom Regime begeistert waren und am liebsten von früh bis spät eine Uniform getragen hätten, die Frisur auf Streichholzlänge gekürzt trugen und schon von Weitem mit ‚Heil Hitler‘ und zackig ausgestrecktem Arm zu grüßen pflegten. Eine lächerliche Sache, dachte ich, denn sprach man ‚Heil Hitler‘ etwas schneller aus, wurde automatisch ‚Haitla‘ daraus, was eher finnisch oder indianisch als deutsch klang.

Auch in unserer Klasse hatten wir ein paar Verrückte, die sich so benahmen und von uns toleriert werden mussten, vor allem, weil wir unsere Ruhe haben wollten; auch war es nicht ratsam, seine Abneigungen öffentlich zur Schau zu stellen.
Manchmal musste man mit den Wölfen heulen und gute Miene zum bösen Spiel machen. Natürlich gab es auch in der Professorenschaft schwarze, richtiger sollte man sagen, braune Schafe. Mit einem dieser sonderbaren Tiere hatte ich eine Begebenheit, die für die Nazimentalität bezeichnend war. Immer wieder mussten wir zu irgendwelchen Parteiveranstaltungen, die im Turnsaal des Gymnasiums stattfanden und deren Besuch Pflicht war, antreten. Auch wurden sie während der Unterrichtszeit abgehalten, so dass wir kaum die Möglichkeit hatten, uns zu verdrücken. Stets trachteten wir, uns möglichst weit hinten im Saal aufzuhalten; dort war man weniger beobachtet und musste weder Aufmerksamkeit noch Begeisterung heucheln. Denn die Themen waren meistens stinklangweilig, was in der Natur der Sache lag. Zum Abschluss mussten die Anwesenden aufstehen und mit erhobener rechter Hand das Deutschlandlied singen, eine Sache, die mich in keine große Begeisterung versetzte, und da ich immer schon ein schlechter Schauspieler war, dürfte man mir diese Aversion wohl angesehen haben. Einer der jüngeren Professoren stand plötzlich vor mir und brüllte wutschnaubend: „Wenn ich noch einmal sehe, dass du dich beim Singen der Deutschen Hymne so respektlos benimmst, werde ich dich zur Anzeige bringen; frage nicht, was dir dann blüht!“ Ich hatte keine andere Wahl als mich umzudrehen und wegzugehen, ohne etwas zu antworten. Was ich mir dachte, stand auf einem anderen Blatt. Was ihn dazu veranlasst hatte, so außer Rand und Band zu geraten, ist mir allerdings immer ein Rätsel geblieben.
Natürlich konnte man seine Kritik auch anders kundtun als durch Worte. Als eines Tages wieder so eine solche Veranstaltung im Turnsaal stattfand, bei der ein hochdekorierter Leutnant seine Fronterlebnisse schilderte, in einer monotonen und einschläfernden Art, dass ein großer Teil des Auditoriums bereits nach kurzer Zeit Mühe hatte, die Augen offenzuhalten. Als der wackere Krieger kurz innehielt, um Atem zu schöpfen und einen Schluck Wasser zu sich zu nehmen, da knallte plötzlich ein lauter Furz durch den Raum, dass die Fensterscheiben zitterten. Ich weiß nicht mehr, wie lange die Stille dauerte, die dann folgte.

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