Heldentod und Mutterkreuz

Heldentod und Mutterkreuz

Eine Familie erlebt das Kriegsjahr 1944

Eberhard Sievers


EUR 16,90
EUR 10,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 150
ISBN: 978-3-903067-58-5
Erscheinungsdatum: 03.02.2016
1944 ist das schwerste Jahr des Zweiten Weltkrieges. Familie Sievers erlebt es in Gronau und erfährt die täglichen Schrecken des Krieges, doch auch die geistigen und seelischen Veränderungen der Familienmitglieder werden in diesem Roman beschrieben.
Vorwort

Vor über 70 Jahren tobte in Deutschland, in Europa, ja in der ganzen Welt der Zweite Weltkrieg. Dieser Roman wirft ein Licht auf einen kleinen Ausschnitt des Kriegsgeschehens wie durch ein Vergrößerungsglas, um das detaillierte Erleben und Erleiden einer einzigen Familie konkret nachzuzeichnen. Im Schicksal dieser Familie „in der Heimat“ spiegeln sich die militärischen Kämpfe an den Fronten und der politisch-ideologische Hintergrund des weltweiten Konfliktes.
Wie in jedem Krieg der Völker hatten nicht nur die Soldaten in die gewaltsame Auseinandersetzung aktiv einzugreifen und diese passiv zu erleiden, sondern es war in höchstem Maße auch ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Die Grausamkeit des Krieges betraf die deutsche Bevölkerung aber nicht nur im Bombenhagel der Städte und nicht nur in der Fluchtbewegung aus dem Osten. In diesem Roman geht es im dramatischen Kriegserlebnis um Leben und Tod einer bürgerlichen Familie in einer deutschen Kleinstadt im Jahre 1944, dem Tiefpunkt des Krieges kurz vor seinem Ende, das die Familie überlebte.
Das Jahr 1944 mitten in Deutschland war geprägt von der gespannten Erwartung der Menschen auf die von Westen immer näher heranrückende Front des Krieges und gleichzeitig auf die kommende ungewisse Veränderung ihrer gesellschaftlich-politischen Einstellung mit dem Ende des Nationalsozialismus.
Der Roman weist über die Berichte historischer Ereignisse, auf die er zurückgeht, weit hinaus, indem er einen Einblick vermittelt in nationale Ideologien, in größte Kriegsgefahren, in persönliche Schicksale und in Lebensleiden und Lebenswillen einer Generation im 20. Jahrhundert.



Silvester 1943/1944

Wie es in der Familie Sievers der Brauch war, bestand am Silvesterabend 1943 das Abendessen aus Kartoffelsalat mit Würstchen. Die Mutter Liselotte hatte in kluger Sparsamkeit den Fleischverbrauch der Familie im Dezember so eingeteilt, dass die Lebensmittel-Fleischmarken noch für drei Würstchen reichten. Danach blieben alle bis Mitternacht in der warmen Stube auf. Das Radio war eingeschaltet, um den Jahreswechsel auf die Sekunde genau zu erleben. Liselotte chenkte in drei Gläser gewärmten Apfelsaft ein und meinte dabei mit verschämter, doch allgemein verständlicher Entschuldigung lächelnd: „Ich hab ja leider keinen Sekt.“ Die Mutter Liselotte, der Vater Heinrich und der Sohn Eberhard warteten stehend mit ihren Gläsern in der Hand – dann beendeten zwölf Pieptöne im Radio das Warten auf den Jahreswechsel. Man stieß miteinander mit „Prost“ ohne viele Worte an und fühlte in diesem ungewöhnlichen Brauch zur ungewöhnlichen Sekunde einen kurzen Lichtblick luxuriöser Leichtigkeit in der gewöhnlichen ernsten Zeit. Die Stimmung in der Familie war mehr gedrückt als hoffnungsvoll, denn die Siegesphase des Weltkrieges war längst vorbei, der weitere Verlauf eher ungewiss. Silvester, ein Punkt in der Zeit zum Innehalten und Nachdenken, war mehr ein großes Fragezeichen.

„Lass uns mal nach draußen vor die Tür gucken“, schlug der 13-jährige Eberhard vor.
„Warum?“, fragte Heinrich, sein Vater. Aber der Junge war schon auf dem Weg zur Haustür, knipste das Flurlicht aus und öffnete die Haustür. Beide Eltern folgten.
Sie standen frierend auf der Treppe vor dem Haus. Es war wie zu erwarten stockdunkel und still wie in jeder Silvesternacht in diesen Kriegsjahren. Fröhliches Raketenleuchten und Böllerknallen war wegen der vorgeschriebenen allgemeinen Verdunkelung streng verboten, um feindlichen Flugzeugen keine Orientierung auf der Erde zu ermöglichen. Natürlich gab es überhaupt keine Straßenbeleuchtung. Die Straßenlaternen standen ausgeschaltet dunkel vor dem fahlen Mitternachtshimmel.

Doch dann läuteten die Glocken vom fernen Kirchturm und lösten Gedanken, Fragen und Ängste für das neue Jahr 1944 bei jedem Mitglied der kleinen Familie aus, als sie so wortlos lauschten. Wie würde der Krieg weitergehen? Wie lange würde er noch dauern? Konnte man den prahlenden Parolen vom „Endsieg“ glauben? Dann kehrte man fröstelnd wieder in die warme Stube und zu dem ernsten Kriegsalltag zurück.
„Wie mag es wohl Reinhard und Detlef ergehen?“, fragte Liselotte und dachte dabei an ihre anderen Kinder, fern und in Uniform. „Jedenfalls hat heute mein Vater wie in jedem Jahr am 1. Januar Geburtstag. Dem sollten wir in Gedanken gratulieren.“ – Aber es lag allen die Sorge und die Ungewissheit über das kommende Jahr schwer auf der Seele. Schweigend gingen alle aus der warmen Stube nach oben in die kalten Betten. Außerdem gab es unter den dreien ein Geheimnis, an das alle dachten und das sie doch verschwiegen. War dieses Geheimnis wenigstens ein Lichtschimmer der Hoffnung? Nur ganz kurz: „Gute Nacht.“

Das Schlafzimmer oben in dem Einfamilienhaus war dunkel und kalt. Liselotte überzeugte sich, dass die Verdunkelungsrollos vor den Fenstern heruntergelassen waren, ehe sie das Licht einschaltete. Wegen der Verdunkelungsvorschrift waren alle Fenster mit dunklen Rollos abgedichtet. Betrat man abends ein Zimmer, so galt unbedingt die Regel: erst zum Fenster und das Rollo herunterziehen, dann erst zurück zum Lichtschalter. In jeder Straße kontrollierte ein Luftschutzwart die gewissenhafte Befolgung der Verdunkelungsvorschrift. Er sah und bemängelte jeden kleinsten Lichtblitz aus den Fenstern der Wohnungen.



Einkaufen

Einige Tage nach Neujahr schickte Liselotte den Jungen zum Einkaufen los. Der Weg die lange Wilhelm-Gustloff-Straße entlang von dem Eigenheim Nr. 14 in der „Siedlung“, wie die Gronauer sagten, bis zum Zentrum des Städtchens mit den Geschäften war weit. Darum war Eberhard es gewohnt, das Einkaufen für die Familie zu besorgen, wie er überhaupt seinen Beitrag zum Überleben der Familie klaglos leistete, soweit die Schule und der Hitlerjugend-Dienst Zeit ließen. Die Mutter legte die drei Lebensmittelmarken auf den Küchentisch, und anhand der Möglichkeiten, die die rationalisierten Nahrungsmittel boten, sprachen beide über die Einkäufe beim Bäcker, beim Schlachter, im Milchgeschäft und im Kolonialwarenladen: 125 g Käse, ein Paket Kaffee-Ersatz, 200 g Mett, 1000 g Brot …

Mit Einkaufstaschen, Portemonnaie und Lebensmittelmarken zog Eberhard los.
Er nahm auch das Familien-Geheimnis mit, ohne dass die Eltern wussten, dass er es längst kannte: Liselotte war schwanger. Die Eltern trauten sich nicht, mit ihrem Sohn darüber zu sprechen. Dabei war Eberhard nicht dumm und wusste in seinem Alter über die Zusammenhänge zwischen Sex und Geburt besser Bescheid, als seine Eltern ahnten. Er hatte unübersehbare Zeichen einer bevorstehenden Geburt eines Kindes in der Familie wohl bemerkt. Aber da das Thema in der Familie tabu war – nicht unter Freunden in der Schule – behielt er das Geheimnis auch für sich. Zu diesen Anzeichen gehörte, dass bereits seit geraumer Zeit auf der Wäscheleine im Garten die handbreiten länglichen weißen Tücher fehlten, die die Mutter sonst regelmäßig zum Trocknen aufhängte. Nicht die Mutter, sondern die Schulfreunde erklärten Eberhard den Gebrauch dieser Tücher für die Frauen, warum sie nun nicht mehr nötig waren und was man aus dieser Tatsache erkennen konnte.
Eberhard musste in jedem Laden zusammen mit seinem Kaufwunsch die Lebensmittelmarken auf den Ladentisch legen. Dann schnitt die Verkäuferin die entsprechend bedruckten Abschnitte mit einer Schere ab. Die Bäckersfrau hatte Eberhard einmal, als es im Laden leer war, erzählt, wie es mit den Lebensmittelmarken weiterging. Das Geschäft musste die Abschnitte beim Wiedereinkauf dem Großhandel vorlegen, sortiert, gebündelt und aufgelistet, der Großhandel dem Ernährungsamt. Nach dieser Lebensmittelmarken-Liste konnte das Bäckergeschäft dann wieder Mehl und Zutaten einkaufen.

Dieses Mal las Eberhard vor einem Kolonialwarengeschäft auf einem Plakat an der Schaufensterscheibe: „Sonderzuteilung von Butter und Käse für Frauen mit Kleinkindern und für Schwangere.“ Sonderzuteilungen gab es in unregelmäßigen Abständen zusätzlich über Lebensmittelmarken hinaus. Sie galten immer nur, „solange der Vorrat reicht“. Eberhard stutzte und fand sich in arger Verlegenheit. „Nur für schwangere Frauen?“ Also für die Mutter! Man musste bei solchen Ankündigungen immer schnell handeln, um jede Gelegenheit gegen den bohrenden Hunger zu nutzen, brauchte aber für diese spezielle Sonderzuteilung den Schwangeren-Ausweis.
Eberhard rannte mit beiden vollen Taschen nach Hause, und da blieb ihm nun nichts anderes übrig, als die Mutter aufzuklären. Ihr blieb bei dieser Eröffnung die Spucke weg, dann nahm sie lachend ihren Sohn in den Arm und gestand ihm: „Ja, ich bekomme ein Kind. Und du eine Schwester oder einen Bruder.“ – „Und was wünschst du dir?“ – „Am liebsten nach drei Jungen ein Mädchen.“ Die Mutter rückte nun den Schwangeren-Ausweis heraus, den sie bisher immer vor ihrem Sohn versteckt hatte. „Nun lauf los!“ Eberhard rannte, so schnell er konnte. Von nun an nahm er vorsichtshalber den Schwangeren-Ausweis stets bei jedem Einkauf mit.



Schnee schippen

Als Eberhard nach den Weihnachtsferien wieder zu seiner Schule ging, der Kreismittelschule Gronau, erlebte er eine Überraschung, die sonst eigentlich von Schülern freudig quittiert, hier aber mit gemischten Gefühlen aufgenommen wurde: Die Schule fiel während des Monats Januar aus! Der Grund war, dass die Heizungsration an Kohlen für die Schule erschöpft war und keine neue bewilligt worden war. Im Winter konnte man aber in eiskalten Klassenräumen keinen Unterricht erteilen. Die Lehrer und Lehrerinnen eilten nun von Klasse zu Klasse und gaben Aufgaben auf für die lange unterrichtsfreie Zeit: Mathematik-Aufgaben, Fremdsprachen-Lektionen, Aufsätze … Dann wurden die Schülerinnen und Schüler wieder nach Hause geschickt.

Eberhard traf sich in diesen Wochen ein paar Mal mit einigen Freunden bei seinem Freund Walter, um die gelösten Aufgaben zu vergleichen, die Lektionen durchzugehen und so weiter. Die Jungen und Mädchen machten in diesem Notfall für sich selbst Schule! Sie verabredeten und halfen sich gegenseitig, zum Beispiel um bei dieser Gelegenheit die ganze lange Ballade „Die Bürgschaft“ von Friedrich von Schiller auswendig zu lernen.

Nach der winterlichen Zwangspause, den durch „Kohlenferien“ über den ganzen Monat Januar verlängerten Weihnachtsferien, wollten die Schüler der Kreismittelschule im Februar nun wieder im gewöhnlichen Schulbetrieb weiter lernen. Aber da erlebten sie eine erneute Überraschung: Es hatte tags zuvor stundenlang dick geschneit. Eberhard und sein Vater mühten sich gleich morgens früh ab, die Berge von Schnee auf der Straße vor dem Haus von der Fahrbahn wegzuschaufeln und die Zufahrt zum Haus freizukriegen. Das winterliche Unwetter hatte aber auch die Reichsstraße 3 erwischt, die einen Kilometer westlich an Gronau vorbeiführte und eine äußerst wichtige Verkehrsverbindung von Nord nach Süd darstellte. Den Ämtern und Betrieben, die für den Straßenzustand verantwortlich waren, fehlten aber in dieser Kriegszeit sämtliche Fahrzeuge und Arbeitskräfte, um mit diesen riesigen Schneemassen auf den Reichsstraßen fertig zu werden. Die einzigen Arbeitskräfte, die für die kriegswichtige Arbeit in dieser Notsituation zur Verfügung standen, waren Schüler.

Also wurden alle Schüler der Kreismittelschule Gronau aufgefordert, wieder nach Hause zu gehen und Schaufeln, Schneeschieber und Spaten zu holen und sich danach gleich wieder in der Schule einzufinden, um zur Reichsstraße 3 zum Schneeräumen zu gehen. Weil eine Reihe von Schülern von auswärts kam, mussten für diese zusätzlich auch Werkzeuge mitgebracht werden. So musste auch Eberhard an diesem Tag Schnee schippen, statt die Schulbank zu drücken. Als die Schüler die Reichsstraße erreichten, hatten sich dort tatsächlich hohe Schneeberge auf der Fahrbahn aufgetürmt, die der eisige scharfe Westwind zusammen geweht hatte. Die Schüler – auch die Schülerinnen und auch die Lehrer und Lehrerinnen – wurden in Straßenabschnitte eingeteilt und machten sich an die schwere Arbeit. Stundenlang, mit kurzen Erholungspausen, schufteten sie, bis die Fahrbahn einigermaßen wieder frei und befahrbar war. Rechts und links türmten die Schüler meterhohe Schneeberge auf.

Sie arbeiteten nicht nur, sondern machten wie alle Kinder in dem Alter auch viel Quatsch. Für Schneeballschlachten verging ihnen der Spaß, aber irgendeiner kam auf die Idee, die Parole zu zitieren, die seit einiger Zeit an der Backsteinwand des Güterschuppens am Bahnhof prangte: „Räder müssen rollen für den Sieg.“ Daraus machte einer der Schüler: „Schnee müssen wir schippen für den Sieg.“
Der Spruch sprach sich in Windeseile unter allen Schneeschippern herum und wurde dauernd wiederholt, nur die Lehrer, die mehr herumstanden und hier und dort Anweisungen oder Ratschläge gaben, ließ man davon lieber nichts merken. Sowie kein Lehrer in Sicht war, lebten die ironischen Sprechchöre wieder auf.
Bis einer der Schüler sich an den „Kohlenklau“ erinnerte. Als wenn die Versorgung der Bevölkerung mit Kohlen für ihre Öfen nicht knapp genug war und viele Menschen in ihren Wohnungen nicht oft frieren mussten, wollte die Regierung mit Propaganda noch darüber hinaus gegen Kohlenverschwendung angehen und malte an einige Häuserwände die Schattenkarikatur eines Mannes mit Schlägermütze, der einen Sack mit Kohlen auf dem Rücken schleppt, den „Kohlenklau“. Nun hatten einige Schüler von woher auch immer das dazu gehörige Spottlied gehört: „Das ist der Kohlenklau! Fiederum-bum-bum! Der Kohlenklau geht rum.“ Dieser gesungene Spruch machte sich nun zum Lachen bei den Schneeschippern breit und wurde zur beliebten kurzweiligen Unterhaltung, und sogar die Lehrer lachten mit.

Erst am Nachmittag schleppten sich alle todmüde wieder nach Hause zurück. Und am nächsten Tag saßen sie wieder auf ihren Bänken in der Schulklasse. So forderte der Krieg den Einsatz auch in der Heimat und auch für Kinder. Dass diese Aktion ein tatkräftiger Beitrag der Heimat für den „Endsieg“ war, wurde zwar propagandistisch öffentlich in der Lokalzeitung gewürdigt, aber hinter vorgehaltener Hand zitierten die Jungen und Mädchen der Schule einen Satz wie „Schnee müssen wir schippen für den Sieg“ nur mit unverhohlener Ironie.



Heinrich

Heinrich musste täglich um 7 Uhr im Überlandwerk Leinetal sein, dem Elektrizitätswerk für den Landkreis Alfeld. Heinrich war als Elektroingenieur seit Jahren in diesem Werk tätig. Als der Krieg ausbrach, wurde der Betriebsleiter als Soldat eingezogen, und Heinrich, damals 54 Jahre alt, musste die Leitung übernehmen. So ging er täglich 15 Minuten zu Fuß ins Werk, kam zur Mittagspause nach Hause und ging am Nachmittag wieder zur Arbeit. Da war an achtstündige Arbeitszeit nicht zu denken. Die verantwortungsvolle Stellung zur technischen Aufrechterhaltung der Energieversorgung erforderte seinen ganzen Einsatz. Er hatte keinen Stellvertreter, erhielt keinen Urlaub, konnte keine Überstunden abbummeln, war täglich 24 Stunden in Rufbereitschaft. Er war ein kleiner, drahtiger Mann, fleißig, pflichtbewusst, zäh, aber auch oft kleinkariert genau und politisch der nationalsozialistischen Ideologie treugläubig ausgeliefert. Heinrich Sievers war Mitglied der NSDAP, aber kein überzeugter Nationalsozialist, sondern ein unkritischer Mitläufer. 1933 war er froh, dass die Straßenkämpfe zwischen Kommunisten und Nazis aufgehört hatten und eine große Volkssympathie der neuen „Nationalen Bewegung“ entgegengebracht wurde. Heinrich trat in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSDAP und in die SA ein, eine halbmilitärische Partei-Organisation. Die SA marschierte in Reih und Glied durch die Straßen im wöchentlich regelmäßigen SA-Dienst. Als Heinrich merkte, was für ein rauer, oft rüpelhafter Ton unter den „Kameraden“ herrschte, die meistens Arbeiter waren, war diese Gruppe nicht sein Umgang, und er trat aus der SA nach einem Jahr wieder aus.

Nachts sprang er beim ersten Ton eines Fliegeralarms aus dem Bett und machte sich auf den Fußweg zur Arbeitsstätte, wie es seine Pflicht war. Die Frau und der Sohn nahmen es inzwischen lässiger, eilten nicht sofort in den Luftschutzkeller des Hauses, sondern warteten gelassen im Bett, bis sie gegebenenfalls Flugzeugmotoren hörten. Dann schauten sie von der Straße aus, ob feindliche Flugzeuge, explodierende Flakgranaten oder herumsuchende Flak-Scheinwerfer das Herannahen feindlicher Flugzeuge anzeigten. Nach der Entwarnung – manchmal schon nach einer halben Stunde, manchmal erst nach Stunden – kam der Vater zurück, und alle setzten die unterbrochene Nachtruhe fort, ohne den fehlenden Schlaf am nächsten Morgen nachholen zu können.

Das Überlandwerk Leinetal durfte einen Pkw unterhalten, um die Versorgung des Kreises mit elektrischer Energie sicherzustellen. Deshalb kam Heinrich oft in der Umgebung herum für Kontrollen und Reparaturen am elektrischen Leitungsnetz. Manchmal gelang es ihm, bei Bauern in den Dörfern etwas für die eigene Familie abzustauben, zum Beispiel einen halben Sack voll Kartoffeln, ein Stück Schinken oder ein geschlachtetes Huhn. Es gab Landwirte, die ein Herz dafür hatten, bürgerlichen Familien in der Stadt gelegentlich etwas gegen ihren Hunger zukommen zu lassen. Eines Tages kam Heinrich mit einem Beutel Körner als Hühnerfutter nach Hause. Diese glückliche Überraschung zugunsten des im Garten des Eigenheimes angelegten Hühnerhofes wurde mit Begeisterung empfangen.

Der Elektroingenieur Heinrich Sievers hatte unter kriegsmäßigen Bedingungen die äußerst schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe, im ganzen Landkreis Alfeld die elektrische Energie für Privathaushalte, öffentliche Einrichtungen, Geschäfte und Fabriken sicherzustellen. Er hatte lediglich ältere Arbeiter und Angestellte zur Verfügung für die vielfältigen Aufgaben, die keine Neubauten, sondern die Instandhaltung des Stromnetzes und der örtlichen über- und unterirdischen Leitungen betrafen sowie der Hochspannungs- und Niederspannungsanlagen (Transformatoren). In den Wohnungen reichte die Zuständigkeit des Elektrizitätswerkes lediglich bis zum Stromzähler, zum Ablesen des Verbrauchs und zum Kassieren der Stromrechnung. Die Elektrizität wurde in Wohnungen außer für Glühlampen lediglich für Elektroherde und Kochplatten, Wasserkocher, Bügeleisen und Radios gebraucht. Für das Überlandwerk Leinetal wichtig waren weniger die elektrischen Energieverbraucher in den Haushalten als vielmehr die Fabriken, die Krankenhäuser, die militärischen Anlagen. Heinrich versah diese Aufgaben mit fachlicher Gewissenhaftigkeit, mit Fleiß und Sorgfalt. Da blieb nur wenig Zeit für die von ihm so geliebte Arbeit im Garten, der die gesamte Versorgung der Familie mit Obst und Gemüse sicherstellte. Ein Obst- und Gemüsegeschäft gab es in Gronau nicht. Alle Menschen in ländlichen Gegenden waren für frische Vitamine auf ihren eigenen Garten angewiesen.

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