Atmen in der Dunkelheit

Atmen in der Dunkelheit

Peter Toresk


EUR 16,90
EUR 10,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 240
ISBN: 978-3-95840-122-8
Erscheinungsdatum: 29.11.2016
Wo bin ich? Wie bin ich in diese Zelle ohne Ausgang geraten, einsam, ohne Farbe, ohne Lebendiges hinter dem Fenster, ohne die Gewissheit über die Wirklichkeit meines Lebens? Und wer ist dieser Kerl in meinen Erinnerungen, die mich ständig aufs Neue heimsuchen?
Für meine Großmutter

Respice Finem
Du hast mich das Lachen gelehrt,
und Güte,
du hast mich Freude am Leben gelehrt,
und den Blick auf das Immaterielle.
Deine heitere Laune war ansteckend,
und dein Lächeln pittoresk.
Dein Lachen wird auf ewig in mir widerhallen,
und sollte ich in meinem Leben fallen,
ziehe ich mich wieder hoch,
am Gedanken an dich,
denn er wird mich durch die größte Dunkelheit führen,
auf das wir uns im Geist berühren.
Du bist mein Anker aus Licht,
und ich verspreche,
ich vergesse dich nicht!



Prolog

Du bist edlen Gemüts, die Gussform des perfekten Mannes, ein Charmeur der alten Schule, ein funkelndes Juwel, das heller scheint als alle Sterne am Firmament!
Hannes las die Worte in Ruhe und ohne das Beisein fremder Ohren. Seine Frau hatte sich nach mittlerweile acht Jahren Beziehung mal wieder etwas Tolles einfallen lassen, um seinen Geburtstag phänomenal werden zu lassen. Denn Hannes liebte Überraschungen, im Gegensatz zu seiner Frau. Und so fing ein wunderbarer Tag mit diesen Worten an, welche er am Badezimmerspiegel auf einem grünen Zettel fand, während seine Frau nicht aufzufinden war, und Hannes bereits seinen morgendlichen Ritualen nachging.

Wochen später erwache ich schweißnass und panikerfüllt. Ich haste in unser meerblaues Bad, reiße dabei etliche Gegenstände zu Boden und schütte mir eine Handvoll eiskaltes Wasser ins Gesicht. Ich blicke in den Spiegel, in meine Augen, direkt in meine Seele. Ich beginne zu denken:
„Ich schreite durch den Spiegel und erblicke den wahren Geist meiner Selbst. Wie meine Schönheit wächst, so wächst auch der Frauenreichtum, der sich um mich schart wie die Löwinnen um ihren König, wie üppiges Gras der Steppe sich dichter aneinanderreiht und wie die Truppen um ihren Heeresführer! So schreite ich dahin durch die Sonne meines Spiegels und das Meer meiner Herrlichkeit! Es sind die einzelnen Gesichtszüge, die meinen Anblick zu etwas himmlisch, apollinisch prachtvoll Glänzendem formen!
Denn gefangen zu sein in dieser Arroganz und übermäßigen Schönheit bürdet mir eine Last auf, welche sich nur schwer und nur mit dem Ausgleich des Auslebens meines Trieblebens an Frauen ertragen lässt. Ich verhöhne die Götter, mir solch Knechtschaft anzumaßen. Auf multilaterale Weise tausche ich dieses Geschenk mit vielen Gesichtern des anderen Geschlechts!“
Ich muss lachen, denn in wenigen Sekunden werde ich mein Gedankengut meiner Frau vortragen. Diese wird ebenso lachen und mich ermahnen, dass ich es mit meinem Sarkasmus nicht zu weit treiben sollte.



Die Gegenwart

Irgendein Tag in irgendeinem Monat.
Wir schreiben das Jahr 2015. Den genauen Monat kann ich nicht angeben, nur erahnen. Die Tage verstreichen wie der Sand, welcher durch eine Sanduhr läuft. Manch ein Tag ist wie ein winziges Korn, fällt schnell durch den mittleren Spalt, ohne dass man überhaupt gemerkt hat, dass der Tag begonnen, noch dass er bereits vorüber ist. Andere Tage sind zäh, erwecken den Anschein, als wollten sie nie zu Ende gehen, wie ein fetter Körnerbrocken, der im Hals zwischen den beiden Glaskolben stecken bleibt. Die Überleitung vom einen Tag hin zum nächsten ist verstopft. Anhand des Wetters der vergangenen Tage schätze ich die Jahreszeit auf Frühling. Ab und an Regen, mal grüßt die Sonne, mal ziehen Wolken in den verschiedensten Formen vorbei. Der Frühling erfüllt mein Herz mit Kummer. Assoziationen von Liebe, Geselligkeit, die Kälte weicht der Wärme, strahlende Farben der Natur. Und was tue ich? Gefangen in grässlichem Grau, ein Abbild meiner Seele, so deucht es mich. Ich weiß nicht, wie lange ich schon in diesem trostlosen Käfig sitze, und ich will es auch gar nicht wissen. Von Tag zu Tag scheinen die Wände näher zu kommen, was einst ein Flüstern war wird nun zu einem Schreien. „Gib auf! Wehr dich nicht! Schließ deine Augen“, höre ich sie rufen, doch sind es womöglich nur Stimmen in meinem Kopf, spielt mein Verstand mir Streiche, oder bin ich ein Gefangener? Ein Gefangener meiner eigenen Fantasie?
Die Wände personifizieren sich, nennt man so etwas nicht einen Anthropomorphismus? Habe ich eventuell Germanistik studiert, woher kam urplötzlich dieser Fachbegriff? Ich weiß es nicht mehr. Mein Gehirn ist müde, mein Gedächtnis gleicht einer in Vergessenheit geratenen uralten Bibliothek. Irgendwo in der Ecke sitzt ein alter Mann mit grauem langem Haar und dichtem Bart. Er schläft, seine Stirn ruht auf dem Schreibtisch zu seiner Front. Neben ihm glimmt schwach eine Petroleumlampe. Sie signalisiert Leben, wohl mehr den letzten Atemzug eines Lebens, ein Hoffen, stets ist der Greis bereit aufzuspringen und die, meine, seine mit Staub befallene Autobiografie aus zahlreichen Büchern zusammenzusetzen. Doch nichts geschieht. Nichts regt sich, kein Luftzug, kein Geräusch, kein Husten, nichts. Habe ich eine Verletzung erlitten, ein Trauma, oder war es ein bewusster Akt des Vergessens?
Meine Finger tauchen aus undurchsichtigem grauem Nebel empor, aus einem dunklen grauen Nichts. Der Unterarm ist noch zu sehen, doch mein Oberarm verblasst, wie Zigarettenqualm, der in die Höhe steigt. Ich taste mit meinen Fingerkuppen über die raue Wand, vor der ich stehe. Die gesamte bröcklige, verfallene Wand ist mit Gekritzel übersät. Es stehen etliche Sätze dort vor mir, endlos erscheinen sie mir, als hätte sie ein Mensch in seinem Wahn darauf geschrieben. Ein Irrer, gegeißelt von schizophrenen Schüben, festgekettet in einer Psychose. Umso näher ich an die Wand trete, desto weniger kann ich erkennen, desto verschwommener werden die Buchstaben. Was steht dort vor mir? Obwohl ich die Zeilen nicht lesen kann, kommen sie mir vertraut vor. Was geht hier vor sich? Mein gesamter Körper ist mit Schweiß bedeckt, Schweißperlen laufen meine Gliedmaßen hinab, tropfen hinunter. Ich bin schwach, kann meinen rechten Arm kaum noch heben, um mit meinem Zeigefinger an den eingeritzten Wörtern entlangzufahren. Mit welchen Werkzeugen wurden hier Kerben in die Wand geschlagen? Mein Blick folgt dabei meinem Zeigefinger. Meine Lippen sind rissig, aufgeplatzt, ich schmecke Blut. Auch meine Augen schmerzen, tränen ununterbrochen, sodass ich stetig die Lider fest zusammenpressen muss. Kein Hunger, kein Durst. Es schmerzt, die Luft einzuatmen. Mein Hals ist trocken und kratzt. Mein passiver Bewegungsapparat ist alt und gebrechlich. Die Knie schmerzen und der Rücken schreit lauthals, dass er bald resigniert, genug Last im Leben getragen zu haben. Das Einzige, was mich daran erinnert, dass ich noch lebe und existiere, ist mein Herz, denn es ist der Körperteil, der nicht bedauert und nicht ist verletzt. Ich spüre den Pulsschlag in meiner Brust. Ich bin von Stille umringt, und in ebendieser Abwesenheit jedweder Geräusche höre ich das Pumpen des Muskels, der mich am Leben erhält.
Ein Vogel kommt angeflogen und legt eine Rast in unmittelbarer Nähe ein. Ich möchte ihn füttern, doch so schnell, wie er kam, ist er auch schon wieder verschwunden.

Ein Tag danach in irgendeinem Monat.
Ich erinnere mich wieder. Aber das war nicht mein Plan. Ich sollte, durfte mich nicht auf meine Vergangenheit besinnen und doch sinnierte ich. Denn die Erinnerung korreliert mit dem Schmerz, eine Qual, gebunden an Sehnsucht. Die menschliche Neugier ist zu stark, nicht zu bremsen. Sie lässt sich nicht einsperren, sie ist wie etwas, was wir immer mit uns herumtragen, ohne uns darüber bewusst zu sein, und ab und an kommt sie zum Vorschein. Wie die Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen vielleicht. Man denkt, man hat das Leiden überwunden, doch irgendwo tief in uns haftet die Erinnerung, und so auch die Pein. Die Zeit heilt alle Wunde, heißt eine allerorts und generationenübergreifende Weisheit des Lebens. Jetzt, in dem Augenblick, in dem ich mich erinnere, mir bewusst werde meiner Fehler, Makel und insbesondere meiner Verluste, merke, spüre ich, wie vernarbt meine Seele doch ist.
Wie ein Band, welches ständig reißt und wieder zusammenwächst. Es ist wie die Narbe auf der Haut, sie hinterlässt einen unschönen Fleck, und wer mal über die eigene Narbe getastet hat, weiß, dass man dort nichts mehr fühlen kann. Der taktile Sinn ist an dieser Stelle außer Kraft gesetzt. Genauso fühlt sich bzw. fühlt sich eben nicht meine Seele an. Manche Erinnerungen rufen Leere und Emotionslosigkeit hervor, andere narbenartige Erinnerungen verursachen tiefes seelisches Leiden, wie ein Lebensabdruck auf meinem Geiste, der wehtut und nie wieder verschwindet. Ich sitze mit dem Rücken an eine Wand gelehnt, die Beine angewinkelt und die Füße seitlich von mir nach rechts gestreckt, sodass die linke Außenseite meines linken Beines den Boden berührt. Ich halte mich mit der linken Hand an einem Gitter fest. Ich weiß nicht mehr, was Hunger ist und das Empfinden von Durst ist mir fremd. Ich schaue an mir herab und sehe Haut, die Knochen und Muskeln umschließt. Ich bin dünn geworden, fast mager.
Ich weiß, ich darf mich nicht erinnern, aber solange der Prozess des Erinnerns noch anhält, muss ich jemandem meine Geschichte erzählen. Eine Geschichte von Glückseligkeit, aber auch von Trauer, von Höhen und Fehltritten, die mich zu einem stärkeren Menschen machten. Auf dass, wenn ihr das Folgende lest, ihr euer Leben ein wenig mehr zu schätzen wisst. Denn schon morgen könnte ich wieder vergessen haben, und schon morgen, könntet ihr das verpasst haben, was ihr am Vortag leisten wolltet. Eine Entschuldigung, nur einmal über euren Schatten springen, nicht stur sein oder einen alten Freund anrufen, einen Verwandten. Tut es (jedoch) wie ich, und eure Seele wird sein wie ein Muskel nach unzähligen Muskelkatern, ständig kleine Risse im Muskelgewebe, die sich wieder schließen, als wäre nie etwas geschehen und die Risse nie da gewesen.



Meine Geschichte

Ich war jung. Ich war wild. Bin mit wenig Rücksicht durchs Leben getanzt. Gelaufen und gegangen. Seltener gekrochen. Die Welt stand mir offen und ich war ihr Gast. Der Boden war meine Bühne und ich war ihr Künstler. Doch dann kam Sie. Die Welt war nun nicht mehr meine Bühne, sie war unsere. Der Boden war unser Gerüst und wir waren die Handwerker, die Architekten und die Maler. Wir schwammen in schillernden Bächen, ein Gemisch bunter Farben, ab und an stieß uns die Realität zurück ins Leben. Gegen Ende umso häufiger. Ein Team. Eine Symbiose. Kein Sommer war uns zu heiß, kein Winter zu kalt, kein Schatten ließ uns erzittern und kein Schlag uns verbluten. Sie küsste mich, das allererste Mal, und ich wusste, was meine Aufgabe war. Sie beschützen, sie festhalten, sie teilhaben lassen an meinem Leben.

Sie war in einer trostlosen, kargen, endlosen Einöde die einzige Blume, die blühte.

Doch jetzt gibt es nichts mehr, was mich hier hält. Nur Leere und Einsamkeit. Erinnerungen und Frust. Ich ging. Und jetzt erzähle ich eine Geschichte.



Vergangenheit

Lilian erwacht. Sie öffnet langsam und noch vom Schlaf benommen ihre Augen.
Einsam liegt sie in ihrem sehr breiten, mit flauschigen Kissen ausgestatteten Bett. Ähnlich der Belagerung eines Popstars, umgeben sie die Kissen wie eine ausdauernde Schar treuer und fanatischer Anhänger. Irgendetwas heute Morgen ist anders. Ihr Kopf scheint leicht zu dröhnen. Nicht allzu stark, kein Anzeichen einer sich nähernden Erkrankung, jedoch ausreichend, um präsent zu sein. Lilian setzt sich in ihrem Bett auf und reibt sich langsam und mehrere Male die Augen. Der lange Vorhang ihres Fenster, welcher bis zum Boden reicht, ist nicht vollständig zugezogen und so dringen die ersten Sonnenstrahlen eines neuen Tages in ihr Schlafzimmer. Nachdem sie den Fesseln des Schlafens entkommen konnte, welche von solch enormer Kraft sind in diesen frühen Morgenstunden, vollführt sie die übliche morgendliche Prozedur des sich Zurechtmachens. Sie steht vor dem Spiegel ihres Badezimmers. In der rechten Hand hält sie eine Zahnbürste, deren Kopf in ihrem rechten Mundwinkel verschwunden ist. Ein leichter Schaum geschrubbter Zahnpasta umrandet ihre Lippen. Sie steht regungslos da und blickt sich eigens in ihre maronenbrauen Augen. Die Farbe ihrer Augen erinnert an die Rinde eines Baumes und zugleich an den Duft des Waldes, zwei Augen in den Tiefen der Natur geboren, um zu wachen und zu wärmen. Ihr Pony steht noch vom Schlaf geprägt wild in alle Richtungen. Das restliche Haar tut es ihm gleich, ein blondes Haupt, das lebendig wirkt. Vereinzelt haben sich Sommersprossen auf und in Nasennähe niedergelassen. Ein Pyjama kleidet Lilian. Was? Wer? Wen? Wieso? Lilian kann sich nicht von dem Gefühl befreien, irgendetwas würde nicht stimmen, anders sein. Nach ihrem morgendlichen Ritual begibt sie sich zu ihrer Arbeit, dem Ort, an welchem sie ihren Unterhalt verdient. Den ganzen Tag wird Lilian geplagt von dem Gedanken, dass etwas fehle. Sie kann nicht konzentriert ihrer beruflichen Tätigkeit nachkommen, und auch die sonst so belustigende freundliche Arbeitskollegin Maggy, mit den erheiternden rot gefärbten Locken, kann ihr an diesem Tage kein Lächeln abtrotzen, zumindest kein echtes. Wieder zu Hause angelangt sitzt Lilian im Dunkeln ihres Wohnzimmers. Die Rollläden sind heruntergelassen. Nur eine Kerze, welche auf dem Esstisch platziert ist, erhellt den Raum. An diesem Tisch sitzt Lilian. Lediglich ein weißes Blatt Papier und ein Bleistift bedecken den Tisch zu ihrer Vorderen. Ihre Gedanken laufen um die Wette, in den tiefsten Katakomben ihrer Erinnerungen sucht sie nach der Antwort auf eine Frage, welche sie selbst nicht ganz versteht. Eine undefinierte, unausgesprochene, unartikulierte Frage. Wie kann auf eine Frage eine Antwort gefunden werden, deren Existenz unklar erscheint, wie ein Baum, der im Nebel verschwindet. Wie ein kraftloser Schatten, der das Ergebnis einer nur schwach scheinenden Sonne ist. In all diesem Chaos von Überlegungen entspringt er auf einmal. Der Name. Der Name, der die Antwort zu sein scheint.
Urplötzlich steht er da. Nur der Name, Hannes, auf dem eben noch reinweißen Papier, dem Tabula rasa.
Als Lilian den Namen liest, durchfährt sie ein wärmendes Gefühl. Immer und immer wieder, wenn sie an den Namen Hannes denkt, dringt dieses Gefühl zu ihr durch, aus der tiefsten Tiefe ihrer Seele. Doch mehr nicht, nur der Name und dieses Empfinden von Wonne. Nach einiger Zeit gewinnt die Müdigkeit Oberhand über Lilians Versuche des Sich-Entsinnens. Matt und enttäuscht, vielleicht über sich selbst, geht sie in ihr Schlafgemach. An diesem Abend hatte sie vergessen zu essen, zu trinken und sich dem Fertigmachen im Bade zu widmen. Jeder weitere Morgen scheint eine erneute Qual. Ein Erwachen in einem Feld von Brennnesseln, einer Matratze aus Nägeln. Zu dem Gefühl der Wärme hat sich die Emotion des Vermissens gesellt, eine Emotion, welche von Tag zu Tag mehr gedeiht und sprießt, sich entfaltet. Etliche Bemühungen des Gedächtnisses, Erinnerungen zu aktivieren, abzurufen, bleiben unbelohnt, der Hippocampus versagt, das limbische System schuftet rudimentär. Retrogrades mentales Wieder-Auffloppen im Gehirn strauchelt.
Bis auf diesen einen Tag. Den fünften Tag in Folge, an dem sie meinte, ihr fehle etwas. Sie liegt im Garten des Hauses, zu welchem ihr Apartment gehört, auf einer Liege, verstellbar in Kopf- und Fußhöhe. Ihre Augen sind geschlossen. Der Nachbarshund hat sich abermals zu ihr geschlichen und sich rechts von ihr ins Gras gelegt. Auf mysteriöse Art und Weise muss er es wohl geschafft haben, ein Loch unter dem Zaun hindurch zu graben, unter irgendeiner Hecke vermutlich. Bisher konnte weder ihr Vermieter noch der Besitzer des Hundes den Fluchtweg ausfindig machen. Ein knuffiger Maremmano Abruzzese. Ein Tier, welches Lilian bei dem Anblick seines schneeweißen Felles immer an den Winter erinnert. Ein schönes und erfüllendes Memorieren. An Winter und Berge, an Pisten und Poilen. Schöne Erinnerungen vergangener Skiausflüge.
Die Natur erleben. Lillian hat ihre Skier abgelegt, weit oben, auf dem höchsten Gipfel des Skigebiets, gerade nachdem sie aus dem Skilift gestiegen ist. Sie ist über das Band, welches die Piste umschließt beziehungsweise von nicht zu befahrenem Gelände abgrenzt, geklettert, um sich für einen Augenblick innerer Ruhe auf den schneelosen Felsen des Berges niederzulassen. Der Blick in das Tal zwischen dem Berg unter ihr und dem Berg, zu welchem sie ihre Augen richtet, ist ihr wegen der aufsteigenden Wolken verwehrt. Ebenso ist der Himmel über ihr von üppig daherziehenden Wolkenschwaden erfüllt und es dauert nicht lange, bis auch sie in dichte, undurchsichtige Nebelschauer gehüllt sein wird. Lilian genießt den Moment. Es gibt kein Gestern und kein Morgen. Das Jetzt existiert. Sie schaut in die Ferne und ihre Gedanken verschmelzen mit der Natur. Mit dem Wind, welcher ihr Gesicht streift, welcher sanft bläst und beruhigende Klänge von sich gibt. Mit dem Schnee, welcher auf so eigene Weise nach Freiheit und grenzenlosem Dasein duftet. Die Wolkendecke öffnet sich für wenige Minuten. Gerade in günstiger Formation, sodass die Sonne freigelegt wird und ihre Wärme zu ihrer Haut durchdringen kann. Ein herrliches Gefühl. Die Sonne, die ihren Körper aufheizt und der Wind, der belebende Frische mit sich bringt.
So liegt Lilian da auf dem Rücken, die Lider geschlossen, die rechte Hand streichelt den Nacken der Hündin Susie und sie lässt Revue passieren, was einst geschah, in ihrer Welt.
Womöglich war es die unbewusste Finte des sich momentanen Nicht-An-Hannes-Erinnern-Wollens, welches das Bild manifestierte. Wie ein Falke schoss es vorbei. Wie ein Blitz. Das Gesicht eines Mannes, eines Mannes mit Bart. Augenblicklich reißt Lilian die Lider auseinander und starrt in den blauen wolkenlosen Himmel, von der Sonne geblendet, welche eben noch ihrer Haut mehr Bräune verleihen sollte.
Jetzt ist sie zu unruhig, um sich in femininer Lust der Vorteile der Sonne zu widmen, nämlich ihrer Haut einen brauen Teint zu verleihen. Um sich einer besseren Konzentration zu bemächtigen, schließt Lilian erneut ihre Augen. Nervös und beinahe konvulsivisch rutscht Lilian auf ihrer Liege herum und kneift ihre Augen zusammen, als könnte sie sich dabei besser erinnern, dem Gesicht des Mannes mehr Kontur und einen dazugehörigen Körper verleihen. Geistig abwesend packt Lilian fester in das Fell der Hündin und unerwartet flackert ein intensives Bild vor ihr auf, stärker als ein Traum, beinahe als wäre sie dort.
Ihre Brust berührt den Boden, vielmehr den Teppich. Ihr Oberkörper ist unbekleidet, ihre Brüste sind freigelegt, nackt und auf den weichen Untergrund gepresst. Ebenso liegt ihre linke Wange fest auf dem Teppich. Lilian spürt etwas in ihrem Nacken, eine kräftige, robuste Hand hat sich um ihre Haare gewickelt, packt ihren Schopf und drückt ihren Kopf gegen den Boden, gerade noch so vermag sie zu atmen. Ihre Lippen sind feucht. Sie hört sein Schnaufen und nimmt seinen warmen Atem in ihrem Nacken wahr. Ihre Beine sind leicht gespreizt, ihr Gesäß ein wenig angehoben. Ihre Vagina berührt nicht den Boden, doch ihre Knie und Schienbeine sind bereits leicht gereizt, aufgescheuert. Er dringt tief in sie ein, mal langsam, mal schnell, mal sanft und mal heftig. Sie keucht und stöhnt laut. Er flüstert „Lauter“ und sie antwortet. Die Arme hat sie vorne von sich gestreckt, ebenfalls angewinkelt. Und ihre Hände … ihre Hände greifen fest, krampfhaft in den Stoff des Hochflorteppichs.
Lilian schreckt innerlich auf. Von der Intensität dieses Tagtraums und vom Jaulen der Hündin, zu fest hat sie deren Fell mitsamt Haut gekrallt. Noch immer merkt sie den warmen Atem in ihrem Nacken, riecht seinen strengen männlichen Körpergeruch, schmeckt den Dunst frischen feuchten Schweißes, entsprungen einem koitiven Akt, auf ihrer Zunge und spürt das Kratzen seines Bartes auf Hals und Wangen.
Urplötzlich verdunkelt sich der Tag. Durch ihre Lider nimmt Lilian wahr, wie anstelle von Helligkeit Schatten getreten ist. Sie öffnet achtsam ihre zusammengekniffenen Augen und hält mit ihrer linken Hand ihren Hut fest, der gerade dabei war, den Weg auf den saftig grünen Rasen zu finden. Dort, wo vor wenigen Sekunden noch die Sonne war, lächelt ihr nun ein fremder Mann entgegen. Anzug, Krawatte, Sonnenbrille, gestylte Haare. Oder ist es doch ein dunkler elegant geschnittener Blazer auf schwarzer Anzug- oder gar Lederhose und unter dem Blazer ein hellrosa Shirt? Kurz verzerrt sich der Anblick, das eine Outfit legt sich über das andere und wieder retour. Lilians visuelle Wahrnehmung spielt ihr wohl einen Streich. Anzug oder Blazer, was macht das schon. Sein Lächeln so weiß, dass Lilian sich sicher ist, dass dieser Unbekannte Werbung für Zahnpasta machen musste. Er breitet die Arme aus, als erwarte er, sie würde sich in seine muskulös wirkenden Arme schmeißen. Dann sagte er etwas, was sie verdutzt.
„Schatz ich bin wieder zu Hause.“
Für meine Großmutter

Respice Finem
Du hast mich das Lachen gelehrt,
und Güte,
du hast mich Freude am Leben gelehrt,
und den Blick auf das Immaterielle.
Deine heitere Laune war ansteckend,
und dein Lächeln pittoresk.
Dein Lachen wird auf ewig in mir widerhallen,
und sollte ich in meinem Leben fallen,
ziehe ich mich wieder hoch,
am Gedanken an dich,
denn er wird mich durch die größte Dunkelheit führen,
auf das wir uns im Geist berühren.
Du bist mein Anker aus Licht,
und ich verspreche,
ich vergesse dich nicht!



Prolog

Du bist edlen Gemüts, die Gussform des perfekten Mannes, ein Charmeur der alten Schule, ein funkelndes Juwel, das heller scheint als alle Sterne am Firmament!
Hannes las die Worte in Ruhe und ohne das Beisein fremder Ohren. Seine Frau hatte sich nach mittlerweile acht Jahren Beziehung mal wieder etwas Tolles einfallen lassen, um seinen Geburtstag phänomenal werden zu lassen. Denn Hannes liebte Überraschungen, im Gegensatz zu seiner Frau. Und so fing ein wunderbarer Tag mit diesen Worten an, welche er am Badezimmerspiegel auf einem grünen Zettel fand, während seine Frau nicht aufzufinden war, und Hannes bereits seinen morgendlichen Ritualen nachging.

Wochen später erwache ich schweißnass und panikerfüllt. Ich haste in unser meerblaues Bad, reiße dabei etliche Gegenstände zu Boden und schütte mir eine Handvoll eiskaltes Wasser ins Gesicht. Ich blicke in den Spiegel, in meine Augen, direkt in meine Seele. Ich beginne zu denken:
„Ich schreite durch den Spiegel und erblicke den wahren Geist meiner Selbst. Wie meine Schönheit wächst, so wächst auch der Frauenreichtum, der sich um mich schart wie die Löwinnen um ihren König, wie üppiges Gras der Steppe sich dichter aneinanderreiht und wie die Truppen um ihren Heeresführer! So schreite ich dahin durch die Sonne meines Spiegels und das Meer meiner Herrlichkeit! Es sind die einzelnen Gesichtszüge, die meinen Anblick zu etwas himmlisch, apollinisch prachtvoll Glänzendem formen!
Denn gefangen zu sein in dieser Arroganz und übermäßigen Schönheit bürdet mir eine Last auf, welche sich nur schwer und nur mit dem Ausgleich des Auslebens meines Trieblebens an Frauen ertragen lässt. Ich verhöhne die Götter, mir solch Knechtschaft anzumaßen. Auf multilaterale Weise tausche ich dieses Geschenk mit vielen Gesichtern des anderen Geschlechts!“
Ich muss lachen, denn in wenigen Sekunden werde ich mein Gedankengut meiner Frau vortragen. Diese wird ebenso lachen und mich ermahnen, dass ich es mit meinem Sarkasmus nicht zu weit treiben sollte.



Die Gegenwart

Irgendein Tag in irgendeinem Monat.
Wir schreiben das Jahr 2015. Den genauen Monat kann ich nicht angeben, nur erahnen. Die Tage verstreichen wie der Sand, welcher durch eine Sanduhr läuft. Manch ein Tag ist wie ein winziges Korn, fällt schnell durch den mittleren Spalt, ohne dass man überhaupt gemerkt hat, dass der Tag begonnen, noch dass er bereits vorüber ist. Andere Tage sind zäh, erwecken den Anschein, als wollten sie nie zu Ende gehen, wie ein fetter Körnerbrocken, der im Hals zwischen den beiden Glaskolben stecken bleibt. Die Überleitung vom einen Tag hin zum nächsten ist verstopft. Anhand des Wetters der vergangenen Tage schätze ich die Jahreszeit auf Frühling. Ab und an Regen, mal grüßt die Sonne, mal ziehen Wolken in den verschiedensten Formen vorbei. Der Frühling erfüllt mein Herz mit Kummer. Assoziationen von Liebe, Geselligkeit, die Kälte weicht der Wärme, strahlende Farben der Natur. Und was tue ich? Gefangen in grässlichem Grau, ein Abbild meiner Seele, so deucht es mich. Ich weiß nicht, wie lange ich schon in diesem trostlosen Käfig sitze, und ich will es auch gar nicht wissen. Von Tag zu Tag scheinen die Wände näher zu kommen, was einst ein Flüstern war wird nun zu einem Schreien. „Gib auf! Wehr dich nicht! Schließ deine Augen“, höre ich sie rufen, doch sind es womöglich nur Stimmen in meinem Kopf, spielt mein Verstand mir Streiche, oder bin ich ein Gefangener? Ein Gefangener meiner eigenen Fantasie?
Die Wände personifizieren sich, nennt man so etwas nicht einen Anthropomorphismus? Habe ich eventuell Germanistik studiert, woher kam urplötzlich dieser Fachbegriff? Ich weiß es nicht mehr. Mein Gehirn ist müde, mein Gedächtnis gleicht einer in Vergessenheit geratenen uralten Bibliothek. Irgendwo in der Ecke sitzt ein alter Mann mit grauem langem Haar und dichtem Bart. Er schläft, seine Stirn ruht auf dem Schreibtisch zu seiner Front. Neben ihm glimmt schwach eine Petroleumlampe. Sie signalisiert Leben, wohl mehr den letzten Atemzug eines Lebens, ein Hoffen, stets ist der Greis bereit aufzuspringen und die, meine, seine mit Staub befallene Autobiografie aus zahlreichen Büchern zusammenzusetzen. Doch nichts geschieht. Nichts regt sich, kein Luftzug, kein Geräusch, kein Husten, nichts. Habe ich eine Verletzung erlitten, ein Trauma, oder war es ein bewusster Akt des Vergessens?
Meine Finger tauchen aus undurchsichtigem grauem Nebel empor, aus einem dunklen grauen Nichts. Der Unterarm ist noch zu sehen, doch mein Oberarm verblasst, wie Zigarettenqualm, der in die Höhe steigt. Ich taste mit meinen Fingerkuppen über die raue Wand, vor der ich stehe. Die gesamte bröcklige, verfallene Wand ist mit Gekritzel übersät. Es stehen etliche Sätze dort vor mir, endlos erscheinen sie mir, als hätte sie ein Mensch in seinem Wahn darauf geschrieben. Ein Irrer, gegeißelt von schizophrenen Schüben, festgekettet in einer Psychose. Umso näher ich an die Wand trete, desto weniger kann ich erkennen, desto verschwommener werden die Buchstaben. Was steht dort vor mir? Obwohl ich die Zeilen nicht lesen kann, kommen sie mir vertraut vor. Was geht hier vor sich? Mein gesamter Körper ist mit Schweiß bedeckt, Schweißperlen laufen meine Gliedmaßen hinab, tropfen hinunter. Ich bin schwach, kann meinen rechten Arm kaum noch heben, um mit meinem Zeigefinger an den eingeritzten Wörtern entlangzufahren. Mit welchen Werkzeugen wurden hier Kerben in die Wand geschlagen? Mein Blick folgt dabei meinem Zeigefinger. Meine Lippen sind rissig, aufgeplatzt, ich schmecke Blut. Auch meine Augen schmerzen, tränen ununterbrochen, sodass ich stetig die Lider fest zusammenpressen muss. Kein Hunger, kein Durst. Es schmerzt, die Luft einzuatmen. Mein Hals ist trocken und kratzt. Mein passiver Bewegungsapparat ist alt und gebrechlich. Die Knie schmerzen und der Rücken schreit lauthals, dass er bald resigniert, genug Last im Leben getragen zu haben. Das Einzige, was mich daran erinnert, dass ich noch lebe und existiere, ist mein Herz, denn es ist der Körperteil, der nicht bedauert und nicht ist verletzt. Ich spüre den Pulsschlag in meiner Brust. Ich bin von Stille umringt, und in ebendieser Abwesenheit jedweder Geräusche höre ich das Pumpen des Muskels, der mich am Leben erhält.
Ein Vogel kommt angeflogen und legt eine Rast in unmittelbarer Nähe ein. Ich möchte ihn füttern, doch so schnell, wie er kam, ist er auch schon wieder verschwunden.

Ein Tag danach in irgendeinem Monat.
Ich erinnere mich wieder. Aber das war nicht mein Plan. Ich sollte, durfte mich nicht auf meine Vergangenheit besinnen und doch sinnierte ich. Denn die Erinnerung korreliert mit dem Schmerz, eine Qual, gebunden an Sehnsucht. Die menschliche Neugier ist zu stark, nicht zu bremsen. Sie lässt sich nicht einsperren, sie ist wie etwas, was wir immer mit uns herumtragen, ohne uns darüber bewusst zu sein, und ab und an kommt sie zum Vorschein. Wie die Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen vielleicht. Man denkt, man hat das Leiden überwunden, doch irgendwo tief in uns haftet die Erinnerung, und so auch die Pein. Die Zeit heilt alle Wunde, heißt eine allerorts und generationenübergreifende Weisheit des Lebens. Jetzt, in dem Augenblick, in dem ich mich erinnere, mir bewusst werde meiner Fehler, Makel und insbesondere meiner Verluste, merke, spüre ich, wie vernarbt meine Seele doch ist.
Wie ein Band, welches ständig reißt und wieder zusammenwächst. Es ist wie die Narbe auf der Haut, sie hinterlässt einen unschönen Fleck, und wer mal über die eigene Narbe getastet hat, weiß, dass man dort nichts mehr fühlen kann. Der taktile Sinn ist an dieser Stelle außer Kraft gesetzt. Genauso fühlt sich bzw. fühlt sich eben nicht meine Seele an. Manche Erinnerungen rufen Leere und Emotionslosigkeit hervor, andere narbenartige Erinnerungen verursachen tiefes seelisches Leiden, wie ein Lebensabdruck auf meinem Geiste, der wehtut und nie wieder verschwindet. Ich sitze mit dem Rücken an eine Wand gelehnt, die Beine angewinkelt und die Füße seitlich von mir nach rechts gestreckt, sodass die linke Außenseite meines linken Beines den Boden berührt. Ich halte mich mit der linken Hand an einem Gitter fest. Ich weiß nicht mehr, was Hunger ist und das Empfinden von Durst ist mir fremd. Ich schaue an mir herab und sehe Haut, die Knochen und Muskeln umschließt. Ich bin dünn geworden, fast mager.
Ich weiß, ich darf mich nicht erinnern, aber solange der Prozess des Erinnerns noch anhält, muss ich jemandem meine Geschichte erzählen. Eine Geschichte von Glückseligkeit, aber auch von Trauer, von Höhen und Fehltritten, die mich zu einem stärkeren Menschen machten. Auf dass, wenn ihr das Folgende lest, ihr euer Leben ein wenig mehr zu schätzen wisst. Denn schon morgen könnte ich wieder vergessen haben, und schon morgen, könntet ihr das verpasst haben, was ihr am Vortag leisten wolltet. Eine Entschuldigung, nur einmal über euren Schatten springen, nicht stur sein oder einen alten Freund anrufen, einen Verwandten. Tut es (jedoch) wie ich, und eure Seele wird sein wie ein Muskel nach unzähligen Muskelkatern, ständig kleine Risse im Muskelgewebe, die sich wieder schließen, als wäre nie etwas geschehen und die Risse nie da gewesen.



Meine Geschichte

Ich war jung. Ich war wild. Bin mit wenig Rücksicht durchs Leben getanzt. Gelaufen und gegangen. Seltener gekrochen. Die Welt stand mir offen und ich war ihr Gast. Der Boden war meine Bühne und ich war ihr Künstler. Doch dann kam Sie. Die Welt war nun nicht mehr meine Bühne, sie war unsere. Der Boden war unser Gerüst und wir waren die Handwerker, die Architekten und die Maler. Wir schwammen in schillernden Bächen, ein Gemisch bunter Farben, ab und an stieß uns die Realität zurück ins Leben. Gegen Ende umso häufiger. Ein Team. Eine Symbiose. Kein Sommer war uns zu heiß, kein Winter zu kalt, kein Schatten ließ uns erzittern und kein Schlag uns verbluten. Sie küsste mich, das allererste Mal, und ich wusste, was meine Aufgabe war. Sie beschützen, sie festhalten, sie teilhaben lassen an meinem Leben.

Sie war in einer trostlosen, kargen, endlosen Einöde die einzige Blume, die blühte.

Doch jetzt gibt es nichts mehr, was mich hier hält. Nur Leere und Einsamkeit. Erinnerungen und Frust. Ich ging. Und jetzt erzähle ich eine Geschichte.



Vergangenheit

Lilian erwacht. Sie öffnet langsam und noch vom Schlaf benommen ihre Augen.
Einsam liegt sie in ihrem sehr breiten, mit flauschigen Kissen ausgestatteten Bett. Ähnlich der Belagerung eines Popstars, umgeben sie die Kissen wie eine ausdauernde Schar treuer und fanatischer Anhänger. Irgendetwas heute Morgen ist anders. Ihr Kopf scheint leicht zu dröhnen. Nicht allzu stark, kein Anzeichen einer sich nähernden Erkrankung, jedoch ausreichend, um präsent zu sein. Lilian setzt sich in ihrem Bett auf und reibt sich langsam und mehrere Male die Augen. Der lange Vorhang ihres Fenster, welcher bis zum Boden reicht, ist nicht vollständig zugezogen und so dringen die ersten Sonnenstrahlen eines neuen Tages in ihr Schlafzimmer. Nachdem sie den Fesseln des Schlafens entkommen konnte, welche von solch enormer Kraft sind in diesen frühen Morgenstunden, vollführt sie die übliche morgendliche Prozedur des sich Zurechtmachens. Sie steht vor dem Spiegel ihres Badezimmers. In der rechten Hand hält sie eine Zahnbürste, deren Kopf in ihrem rechten Mundwinkel verschwunden ist. Ein leichter Schaum geschrubbter Zahnpasta umrandet ihre Lippen. Sie steht regungslos da und blickt sich eigens in ihre maronenbrauen Augen. Die Farbe ihrer Augen erinnert an die Rinde eines Baumes und zugleich an den Duft des Waldes, zwei Augen in den Tiefen der Natur geboren, um zu wachen und zu wärmen. Ihr Pony steht noch vom Schlaf geprägt wild in alle Richtungen. Das restliche Haar tut es ihm gleich, ein blondes Haupt, das lebendig wirkt. Vereinzelt haben sich Sommersprossen auf und in Nasennähe niedergelassen. Ein Pyjama kleidet Lilian. Was? Wer? Wen? Wieso? Lilian kann sich nicht von dem Gefühl befreien, irgendetwas würde nicht stimmen, anders sein. Nach ihrem morgendlichen Ritual begibt sie sich zu ihrer Arbeit, dem Ort, an welchem sie ihren Unterhalt verdient. Den ganzen Tag wird Lilian geplagt von dem Gedanken, dass etwas fehle. Sie kann nicht konzentriert ihrer beruflichen Tätigkeit nachkommen, und auch die sonst so belustigende freundliche Arbeitskollegin Maggy, mit den erheiternden rot gefärbten Locken, kann ihr an diesem Tage kein Lächeln abtrotzen, zumindest kein echtes. Wieder zu Hause angelangt sitzt Lilian im Dunkeln ihres Wohnzimmers. Die Rollläden sind heruntergelassen. Nur eine Kerze, welche auf dem Esstisch platziert ist, erhellt den Raum. An diesem Tisch sitzt Lilian. Lediglich ein weißes Blatt Papier und ein Bleistift bedecken den Tisch zu ihrer Vorderen. Ihre Gedanken laufen um die Wette, in den tiefsten Katakomben ihrer Erinnerungen sucht sie nach der Antwort auf eine Frage, welche sie selbst nicht ganz versteht. Eine undefinierte, unausgesprochene, unartikulierte Frage. Wie kann auf eine Frage eine Antwort gefunden werden, deren Existenz unklar erscheint, wie ein Baum, der im Nebel verschwindet. Wie ein kraftloser Schatten, der das Ergebnis einer nur schwach scheinenden Sonne ist. In all diesem Chaos von Überlegungen entspringt er auf einmal. Der Name. Der Name, der die Antwort zu sein scheint.
Urplötzlich steht er da. Nur der Name, Hannes, auf dem eben noch reinweißen Papier, dem Tabula rasa.
Als Lilian den Namen liest, durchfährt sie ein wärmendes Gefühl. Immer und immer wieder, wenn sie an den Namen Hannes denkt, dringt dieses Gefühl zu ihr durch, aus der tiefsten Tiefe ihrer Seele. Doch mehr nicht, nur der Name und dieses Empfinden von Wonne. Nach einiger Zeit gewinnt die Müdigkeit Oberhand über Lilians Versuche des Sich-Entsinnens. Matt und enttäuscht, vielleicht über sich selbst, geht sie in ihr Schlafgemach. An diesem Abend hatte sie vergessen zu essen, zu trinken und sich dem Fertigmachen im Bade zu widmen. Jeder weitere Morgen scheint eine erneute Qual. Ein Erwachen in einem Feld von Brennnesseln, einer Matratze aus Nägeln. Zu dem Gefühl der Wärme hat sich die Emotion des Vermissens gesellt, eine Emotion, welche von Tag zu Tag mehr gedeiht und sprießt, sich entfaltet. Etliche Bemühungen des Gedächtnisses, Erinnerungen zu aktivieren, abzurufen, bleiben unbelohnt, der Hippocampus versagt, das limbische System schuftet rudimentär. Retrogrades mentales Wieder-Auffloppen im Gehirn strauchelt.
Bis auf diesen einen Tag. Den fünften Tag in Folge, an dem sie meinte, ihr fehle etwas. Sie liegt im Garten des Hauses, zu welchem ihr Apartment gehört, auf einer Liege, verstellbar in Kopf- und Fußhöhe. Ihre Augen sind geschlossen. Der Nachbarshund hat sich abermals zu ihr geschlichen und sich rechts von ihr ins Gras gelegt. Auf mysteriöse Art und Weise muss er es wohl geschafft haben, ein Loch unter dem Zaun hindurch zu graben, unter irgendeiner Hecke vermutlich. Bisher konnte weder ihr Vermieter noch der Besitzer des Hundes den Fluchtweg ausfindig machen. Ein knuffiger Maremmano Abruzzese. Ein Tier, welches Lilian bei dem Anblick seines schneeweißen Felles immer an den Winter erinnert. Ein schönes und erfüllendes Memorieren. An Winter und Berge, an Pisten und Poilen. Schöne Erinnerungen vergangener Skiausflüge.
Die Natur erleben. Lillian hat ihre Skier abgelegt, weit oben, auf dem höchsten Gipfel des Skigebiets, gerade nachdem sie aus dem Skilift gestiegen ist. Sie ist über das Band, welches die Piste umschließt beziehungsweise von nicht zu befahrenem Gelände abgrenzt, geklettert, um sich für einen Augenblick innerer Ruhe auf den schneelosen Felsen des Berges niederzulassen. Der Blick in das Tal zwischen dem Berg unter ihr und dem Berg, zu welchem sie ihre Augen richtet, ist ihr wegen der aufsteigenden Wolken verwehrt. Ebenso ist der Himmel über ihr von üppig daherziehenden Wolkenschwaden erfüllt und es dauert nicht lange, bis auch sie in dichte, undurchsichtige Nebelschauer gehüllt sein wird. Lilian genießt den Moment. Es gibt kein Gestern und kein Morgen. Das Jetzt existiert. Sie schaut in die Ferne und ihre Gedanken verschmelzen mit der Natur. Mit dem Wind, welcher ihr Gesicht streift, welcher sanft bläst und beruhigende Klänge von sich gibt. Mit dem Schnee, welcher auf so eigene Weise nach Freiheit und grenzenlosem Dasein duftet. Die Wolkendecke öffnet sich für wenige Minuten. Gerade in günstiger Formation, sodass die Sonne freigelegt wird und ihre Wärme zu ihrer Haut durchdringen kann. Ein herrliches Gefühl. Die Sonne, die ihren Körper aufheizt und der Wind, der belebende Frische mit sich bringt.
So liegt Lilian da auf dem Rücken, die Lider geschlossen, die rechte Hand streichelt den Nacken der Hündin Susie und sie lässt Revue passieren, was einst geschah, in ihrer Welt.
Womöglich war es die unbewusste Finte des sich momentanen Nicht-An-Hannes-Erinnern-Wollens, welches das Bild manifestierte. Wie ein Falke schoss es vorbei. Wie ein Blitz. Das Gesicht eines Mannes, eines Mannes mit Bart. Augenblicklich reißt Lilian die Lider auseinander und starrt in den blauen wolkenlosen Himmel, von der Sonne geblendet, welche eben noch ihrer Haut mehr Bräune verleihen sollte.
Jetzt ist sie zu unruhig, um sich in femininer Lust der Vorteile der Sonne zu widmen, nämlich ihrer Haut einen brauen Teint zu verleihen. Um sich einer besseren Konzentration zu bemächtigen, schließt Lilian erneut ihre Augen. Nervös und beinahe konvulsivisch rutscht Lilian auf ihrer Liege herum und kneift ihre Augen zusammen, als könnte sie sich dabei besser erinnern, dem Gesicht des Mannes mehr Kontur und einen dazugehörigen Körper verleihen. Geistig abwesend packt Lilian fester in das Fell der Hündin und unerwartet flackert ein intensives Bild vor ihr auf, stärker als ein Traum, beinahe als wäre sie dort.
Ihre Brust berührt den Boden, vielmehr den Teppich. Ihr Oberkörper ist unbekleidet, ihre Brüste sind freigelegt, nackt und auf den weichen Untergrund gepresst. Ebenso liegt ihre linke Wange fest auf dem Teppich. Lilian spürt etwas in ihrem Nacken, eine kräftige, robuste Hand hat sich um ihre Haare gewickelt, packt ihren Schopf und drückt ihren Kopf gegen den Boden, gerade noch so vermag sie zu atmen. Ihre Lippen sind feucht. Sie hört sein Schnaufen und nimmt seinen warmen Atem in ihrem Nacken wahr. Ihre Beine sind leicht gespreizt, ihr Gesäß ein wenig angehoben. Ihre Vagina berührt nicht den Boden, doch ihre Knie und Schienbeine sind bereits leicht gereizt, aufgescheuert. Er dringt tief in sie ein, mal langsam, mal schnell, mal sanft und mal heftig. Sie keucht und stöhnt laut. Er flüstert „Lauter“ und sie antwortet. Die Arme hat sie vorne von sich gestreckt, ebenfalls angewinkelt. Und ihre Hände … ihre Hände greifen fest, krampfhaft in den Stoff des Hochflorteppichs.
Lilian schreckt innerlich auf. Von der Intensität dieses Tagtraums und vom Jaulen der Hündin, zu fest hat sie deren Fell mitsamt Haut gekrallt. Noch immer merkt sie den warmen Atem in ihrem Nacken, riecht seinen strengen männlichen Körpergeruch, schmeckt den Dunst frischen feuchten Schweißes, entsprungen einem koitiven Akt, auf ihrer Zunge und spürt das Kratzen seines Bartes auf Hals und Wangen.
Urplötzlich verdunkelt sich der Tag. Durch ihre Lider nimmt Lilian wahr, wie anstelle von Helligkeit Schatten getreten ist. Sie öffnet achtsam ihre zusammengekniffenen Augen und hält mit ihrer linken Hand ihren Hut fest, der gerade dabei war, den Weg auf den saftig grünen Rasen zu finden. Dort, wo vor wenigen Sekunden noch die Sonne war, lächelt ihr nun ein fremder Mann entgegen. Anzug, Krawatte, Sonnenbrille, gestylte Haare. Oder ist es doch ein dunkler elegant geschnittener Blazer auf schwarzer Anzug- oder gar Lederhose und unter dem Blazer ein hellrosa Shirt? Kurz verzerrt sich der Anblick, das eine Outfit legt sich über das andere und wieder retour. Lilians visuelle Wahrnehmung spielt ihr wohl einen Streich. Anzug oder Blazer, was macht das schon. Sein Lächeln so weiß, dass Lilian sich sicher ist, dass dieser Unbekannte Werbung für Zahnpasta machen musste. Er breitet die Arme aus, als erwarte er, sie würde sich in seine muskulös wirkenden Arme schmeißen. Dann sagte er etwas, was sie verdutzt.
„Schatz ich bin wieder zu Hause.“
5 Sterne
Anders! - 06.05.2017
Jan

Anders als all das,was mir bisher unter die Augen kam. Eine schöne Abwechslung, tiefgründig, vll ein Tupfen zu viel Gefühlsduselei, aber fesselnd!Für ein Debüt wirklich gelungen :)JW

5 Sterne
Spannendes Debüt von Peter Toresk - 20.04.2017
Lea D.

Das erste Werk "Atmen in der Dunkelheit" von Peter Toresk handelt von einem jungen Mann, Hannes, gefangen in einer dunklen Zelle ohne jegliche Erinnung an sein vorheriges Leben. Während er versucht, herauszufinden, was mit ihm geschehen ist, erfährt der Leser nach und nach immer mehr Details aus dem früheren Leben der Hauptfigur. Zum Teil sind die "Visionen" oder Rückblicke aus Hannes' Leben sehr traurig und dramatisch, doch ebenso gibt es friedvolle und glückliche Momente, an die er sich plötzlich erinnert. So erfährt man ständig mehr über Hannes und fragt sich dennoch, was mit ihm passiert ist. Denn die Frage, was nun wirklich geschehen ist, bleibt bis zu den letzen Buchseiten offen. Die nötige Spannung ist daher immer vorhanden und regt sehr zum Weiterlesen an, da das Ende ganz und gar nicht vorhersehbar ist.Die Sprache ist zum Teil etwas fremd oder ungewohnt, doch man gewöhnt sich schnell an diesen außergewöhnlichen, lyrischen Schreibstil.Alles in Allem ein gelungenes Werk und sehr zu empfehlen, wenn man auch gerne mal etwas Tiefgründigeres lesen möchte.

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