Der Fremde im Speisewagen

Der Fremde im Speisewagen

Marc Maurer


EUR 25,90
EUR 15,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 450
ISBN: 978-3-903271-11-1
Erscheinungsdatum: 07.02.2019
„Weshalb haben Sie Angelique umgebracht?“ Diese Frage stellt ein Unbekannter dem Schriftsteller Claude Mombaron, unterlegt mit der Drohung sich dafür zu rächen. Damit beginnt ein Verwirrspiel auf Leben und Tod …
26. Juli vormittags

Der TGV, der mich, in weniger als vier Stunden, nach Paris-Marne la Vallée-Chessy bringen sollte, glitt nahezu geräuschlos und wie erhofft pünktlich um sechs Uhr elf aus dem kantonalen Bahnhof Genève-Cornavin. Obwohl sich mir die Reise in einem eher ungünstigen Moment aufdrängte und ich sie deshalb kurzfristig und in aller Hast buchen musste, hatte ich problemlos zwei Plätze auf meinen Namen vorbestellen können. Einen wie gewohnt in einem der vorderen Waggons und einen zweiten im rollenden Speisewagen. Wie üblich, wenn ich gut bei Kasse war, verwirklichte ich meine Absicht, die Bahnfahrt größtenteils in einem Abteil erster Klasse zurückzulegen. Ich verglich die Zeiger meiner „IWC“ mit jenen der Bahnhofsuhr, die, an einem breiten Mast hängend, das Ende des Fahrsteigs markierte. Ich hatte die edle Armbanduhr von meinem Vater für den erlangten Abschluss des Studiums erhalten. „Sekundengenaue Übereinstimmung!“, stellte ich mit einer zur Gewohnheit gewordenen Zufriedenheit fest. Ich war stolz auf Vaters Präsent, das, auch nach all den Jahren, nicht das geringste Zeichen von Altersschwäche zu erkennen gab. Aber ich trug auch Sorge zu dem handgefertigten Meisterstück; benutzte sie nur bei ganz besonderen Anlässen und brachte sie in regelmäßigen Abständen einem der besten Uhrmacher Genfs zur Revision. „Ist heute ein besonderer Anlass?“, fragte ich mich.
Die zweite Sitzgelegenheit wartete, wie erwähnt, im Waggon-Restaurant auf mich. Für gewöhnlich, wenn ich zu früher Stunde den Zug nach Paris bestieg, verpflegte ich mich dort. Das Frühstück war zu einer Art Ritual für mich geworden. Obzwar diesmal warnende Signale meines Magens ausblieben, entschied ich, nicht auf ein einfaches Morgenessen zu verzichten. Denn bis zum späten Abend würde es die einzige Mahlzeit sein, die ich mir und meinem Pansen gegebenenfalls gönnen durfte. Es war keine Frage des Geldes, obwohl ich zugeben musste, dass ich aktuell etwas knapp bei Kasse war. Nein, eine Frage des Schotters war es, wie schon erwähnt, ganz bestimmt nicht. Denn Liquides, so hoffte ich wenigstens, sollte ich in absehbarer Zeit wieder mehr als genug haben. Schließlich war das Honorar für den ersten Teil meines Manuskripts längst überfällig. Mein Verleger hätte es schon vor Wochen überweisen sollen. Eine nicht unbescheidene Summe, die es mir erlauben sollte, für die nächsten sechs Monate gut und sorglos über die Runden zu kommen. Der Grund für meine Überlegung mit dem Frühstück war, dass ich davon ausgehen konnte, dass mein kurzer Pariser Aufenthalt mit endlosen Sitzungen ausgelastet sein würde. Ich tat also gut daran, allfälliger kulinarischer Mangelerscheinungen vorzubeugen.
Ursprünglich hatte ich die Absicht, einige Tage bei meiner Schwester in Stockholm zu verbringen. Seit Claire in Schweden lebte, und das waren nun doch schon etliche Jahre, hatte ich sie, von einigen wenigen Skype-Sitzungen ausgenommen, nicht mehr gesehen. In welchem Kontinent sich unser biologischer Vater zurzeit aufhielt, war weder mir noch Claire bekannt. Aber das war nichts Beunruhigendes. Seit seiner Trennung von unserer Mutter hatten wir uns damit abgefunden, dass sich seine jährlichen Anrufe oder Besuche auf ein Minimum beschränkten. Man konnte sie leicht an einer Hand abzählen. Trotzdem, jedes Mal, wenn ich seine Stimme hörte oder ihn sogar sah, war ich bewegt. In der Vergangenheit gab es Momente, da fehlte er mir mehr, als ich es mir selber eingestehen wollte. Ob es Claire ebenso erging, entzog sich meiner Kenntnis. Wir hatten nie über das Thema gesprochen. Und seit unsere gemeinsame Mutter im Familiengrab lag, war die Materie sowieso tabu.
Aus meinem Vorhaben, Claire mit meinem Besuch zu überraschen, war nun, zu meinem großen Leidwesen, nichts geworden. Mein Verleger, Pierre Delessert, hatte mir die Entscheidung am Vortag eigenmächtig abgenommen. Ihm zu widersprechen, wäre einem unverzeihlichen Affront gleichgekommen. Mein momentaner Arbeitgeber hatte mich gestern, ausgerechnet zur Mittagsstunde, wie er das übrigens regelmäßig zu tun pflegte, anrufen lassen und mich zu einer Unterredung „unter vier Augen“ zu sich gebeten. Oder, um es noch präziser auszudrücken, ich wurde aufgefordert, mich unverzüglich bei ihm und seinem Pariser Verlag im Business-Viertel „La Défense“ zu melden. „Mich noch vor den Sommerferien zu treffen, komme höchste Priorität zu!“, hatte seine Telefonistin behauptet und eventuelle Einwände meinerseits, noch bevor ich sie hatte aussprechen können, im Keime ersticken lassen. Ich fand es befremdend, dass er sich nicht persönlich mit mir in Verbindung gesetzt hatte, maß dem Argument aber keine besondere Bedeutung zu. Ich kannte den alten Hasen und die Bipolarität seines Charakters.

Ich schob meine Reisetasche in den Stauraum unter meinem Sitz, vorsichtig bedacht, sie nicht über den Boden zu schleifen; ihr hässliche Kratzspuren zu ersparen. Es lag nicht nur daran, dass das Stück fast neu und aus diesem Grund besonders wertvoll für mich war. Ich gehe mit allen Dingen, die ich mein Eigen nenne, geflissentlich achtsam um. Den Aktenkoffer, in dem sich mein Laptop auf Arbeit sehnte, platzierte ich in unmittelbare Griffnähe. Im Moment machte es den Anschein, als ob ich heute das ganze Zugsabteil für mich allein beanspruchen durfte. Wenn ich etwas Glück hatte, würde niemand zusteigen, der mir die Vorfreude auf die Reise vergällen konnte.
Ich hatte mich kaum an die angenehme Vorstellung gewöhnen können, als unvermittelt eine ältere Dame die Schiebetüre öffnete. Sie zwängte ihren fülligen Körper durch die Luke und sah sich suchend um. Obwohl die unerwartete Belästigung mein Vorhaben, den Komfort des Alleinseins zu genießen, sich in nichts auflöste, konnte die Programmänderung meiner euphorischen Stimmung wenig anhaben. Entweder hatte die Frau meinen einladenden Gruß überhört oder sie war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, auf jeden Fall blieb meine Galanterie vergeblich. Leicht verwirrt konfrontierte die Dame die gedruckten Zahlen auf ihrer Fahrkarte mit jenen im Messing gestanzten Nummernschildchen über den Kopfstützen. Augenscheinlich erleichtert, aber schwer keuchend, ließ sie sich direkt mir gegenüber auf den Sitz plumpsen. Eine zufriedene Gelassenheit breitete sich auf ihrem rundlichen Gesicht aus. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie sich nicht allein im Abteil befand. Sie grüßte kurz und entschuldigte sich für ihre Unhöflichkeit. „Keine Ursache“, hörte ich mich versöhnend sagen.
Außer einer großen Stofftasche hatte sie kein Reisegepäck dabei. Sie stellte das Bündel auf den Boden, zog den Reißverschluss, der sich aber nur ein Stück weit bewegen ließ. Nach mehreren nervösen Versuchen gelang ihr doch noch das Vorhaben. Augenblicklich zwängte sich der Kopf einer französischen Bulldogge ins Freie. Vermutlich hatte ich als Erstes seine Aufmerksamkeit erregt, denn seine schwarzen Knopfaugen verfolgten von nun an argwöhnisch jede einzelne meiner Bewegungen. Seine hervorstehend unregelmäßigen Zähne hatten etwas gefährlich Aggressives an sich. Er schnaubte unüberhörbar, als gelte es Präsenz zu markieren. Ich versuchte, so gut es eben ging, den Hund zu ignorieren, indem ich durch das Fenster an meiner linken Seite die an mir vorbeiflitzende Landschaft betrachtete. Ab und zu warf ich dennoch einen neugierigen Blick auf das Tier, das mich, auch nicht für den Bruchteil einer Sekunde, aus den Augen ließ. Ich fühlte mich bedroht und wägte ab, ob ich der unangenehmen Situation ein Ende setzen oder mich hinter meinem Laptop verstecken sollte.
Früher als ursprünglich geplant, der Zug war erst vor zehn Minuten aus dem Bahnhof Cornavin gefahren, kehrte ich kurzentschlossen dem Abteil meinen Rücken zu. Ich durchlief mehrere Waggons, bis ich endlich auf die beschriftete Türe des Speisewagens stieß. Einmal mehr hatte man ihn nicht am üblichen Ort in die Zugskomposition integriert. Die Mappe mit meinem Laptop hatte ich mitgenommen. Ich trennte mich nur ungern, oder zumindest höchst selten, von ihm. Sogar nachts, wenn ich den Rechner nicht benutzte, pflegte ich ihn unter meiner Bettstätte aufzubewahren. Eine Marotte von mir.
Der beflissene Angestellte des fahrenden Restaurants, ein Tamile, erkannte mich, kaum hatte sich die letzte, automatische Tür zischend hinter mir zugetan.
„Guten Morgen Monsieur, schön Sie auch heute bei uns begrüßen zu dürfen“, sagte er sichtlich erfreut. Seine Zähne strahlten, als ginge es darum, Werbung für eine Zahnpasta zu machen. „Als ich Ihren Namen auf der Passagierliste entdeckte, habe ich sofort umdisponiert und Ihnen Ihren Lieblingstisch freigehalten“, versicherte er und ging mir voraus. Ich setzte mich dankend an meinen gewohnten Platz, der sich im hintersten Teil des Waggons befand.
Der Kellner hatte soeben ein frisches Tuch über das Tischchen gestülpt und mit farbigen Metallklammern befestigt, als sich ein ganz in Dunkel gekleideter Herr erkundigte, ob er sich auf den freien Platz gegenübersetzen dürfe. Die Kadenz in seiner Aussprache deutete auf eine ausländische Abstammung hin, obwohl er den Satz in perfektem Französisch formuliert hatte. „Bestimmt Engländer.“ Ich war mir meiner Sache beinahe sicher. Irgendwie kam mir der Klang seiner Stimme bekannt vor. Nur konnte ich mich weder an den Ort erinnern, noch zu welchem Zeitpunkt das gewesen war. Dem Angestellten des Speisewagens war mein flehender Blick nicht entgangen. Er hob bedauernd Schultern und Hände, als müsse er sich für das unvermeidbare Malheur entschuldigen. Ohne eine einladende Antwort abzuwarten, drängte sich der ungebetene Gast an ihm vorbei; ließ sich schwerfällig, dank- und grußlos auf die Bank fallen. Derweil er die Menükarte aus ihrem Halter nahm und sie eingehend studierte, musterte ich ihn diskret. Seine armseligen, künstlich gefärbten Haare waren nach hinten gekämmt. Eine markante Nase dominierte sein kantiges Gesicht. Die strenge, schwarzgefasste Brille mit ihren dicken Gläsern verriet ein ophthalmologisches Problem. Seine schmalen, leicht nach unten gezogenen Lippen waren meines Erachtens augenfällige Anzeichen eines zynischen Charakters. Es war schon eine Weile her, seit ich Freuds Bücher und Erkenntnisse verschlungen hatte, aber an die Beschreibung der verschiedenen Mundstellungen konnte ich mich noch sehr gut erinnern. Ab und zu bediente ich mich bei meinen schriftlichen Abhandlungen dem reichen Fundus, den er seiner Nachwelt hinterlassen hatte. Mein Blick fiel relativ spät auf seine Hände. Im Normalfall ist es das Organ, das mich bei einem Menschen als Erstes interessiert und in den Bann zieht, oder auch nicht. Eine weitere Marotte von mir. Eine Absonderlichkeit vielleicht, auf die ich mich aber bis anhin immer verlassen konnte. Es gibt Hände, die eine Faszination auf mich ausüben, dann gibt es solche, vor denen ich mich ekle, die mich abstoßen, bei deren Anblick ich augenblicklich Gänsehaut kriege. Nur schon der Gedanke, besagten Körperteil berühren zu müssen, bringt meinen Magen für gewöhnlich zur Rebellion. In derartigen Momenten fühle ich mich unwohl, habe das Gefühl, mich unvermeidlich übergeben zu müssen.
Und so verhielt es sich auch diesmal. Es lag nicht nur am sonderbaren Verhalten des Fremden. Nein, bestimmt nicht! Damit hatte meine Einschätzung nichts zu tun. In meinen Augen waren es hauptsächlich seine Hände, die keine Gnade bei mir fanden. Sie waren schwulstig, die Fingernägel ungepflegt, und für einen Mann trug er sie viel zu lang. Ich schätzte sein Alter auf etwa vierzig. Wobei ich anfügen muss, dass ich in solchen Dingen nicht sehr talentiert bin und mit meinem Kalkül ab und zu arg danebenliege.
Der ungebetene Gast, mit dem ich nun den Tisch notgedrungen teilen musste, steckte die Speisekarte wieder in den dafür vorgesehenen Metallständer. Er lehnte sich zurück. Seine stahlgrauen Augen, deren Fassungskraft durch die dicken Brillengläser noch an Volumen zunahm, waren streng auf mich gerichtet. Lange und ohne sich von mir abzuwenden, saß er ganz einfach da. Stumm und unbeweglich. Ich fühlte mich unbehaglich in seiner Gegenwart. Noch selten hatte mich jemand so unverblümt angestarrt. Ich versuchte seine, nach meinem Befinden, an Arroganz grenzende Taktlosigkeit zu ignorieren. „Zuerst der Hund in meinem Zugsabteil und nun dieser Mann!“ Etwas viel für einen einzigen Morgen. „Vielleicht ein Leser, der meine Fotographie auf der Rückseite eines meiner Bücher gesehen hat?“, versuchte ich meine Irritation zu vertreiben. Ich ließ meinen Blick aus dem Fenster schweifen, über die vorübereilenden Felder und den Horizont gleiten. Dass der Fremde mich weiterhin ungeniert fixierte, konnte ich unmissverständlich im Spiegelbild des Waggon-Fensters erkennen. Ein geradezu beängstigendes Gefühl! Minuten, die mir wie Stunden vorkamen, vergingen, ohne dass der Kerl den leisesten Versuch unternahm, seine Augen von mir abzuwenden. Langsam wurde mir das Ganze zu dumm. „Genug ist genug!“, fand ich. Ich spürte meine seit Tagen verlorengeglaubte Migräneanfälle zurückkehren. Waren sie einmal da, konnte ich sie für Stunden nicht mehr loswerden. Ich wollte soeben protestieren, dem Fremden unmissverständlich zu verstehen geben, dass ich mich durch sein aufdringliches Verhalten belästigt fühlte, als er mich von sich aus ansprach:
„Weshalb haben Sie Angelique umgebracht?“, fragte er in einem Tonfall, der das Blut in den Adern zum Kochen brachte. Seine Stimme war tief und von einer angsteinflößenden Härte, die mich zusammenfahren ließ. Er sprach fehlerloses Französisch, was ich bereits zuvor festgestellt hatte. Trotzdem gelang es ihm nicht, das fremdländische Kolorit seiner Sprache vollends zu kaschieren. „Wie bitte? Ich habe Sie vermutlich nicht richtig verstanden!“, fragte ich, ebenso überrascht wie verwirrt. „Kennen wir uns etwa?“
„Ob wir uns kennen oder nicht, tut nichts zur Sache!“, unterstrich der Unbekannte, ohne seinen Gletscherblick von mir abzuwenden. „Also beantworten Sie meine Frage und bringen wir die Sache hinter uns!“
„Ein Paranoiker!“, dachte ich entsetzt. „Ein Irrer, der vermutlich aus irgendeiner psychiatrischen Anstalt entwichen ist!“ Obwohl mich meine angeborene Neugier zwickte, nahm ich mir vor, nicht weiter auf seine impertinente Frage einzugehen. Ich beschloss, ihn und sein seltsames Gebaren zu ignorieren, in der stillen Hoffnung, er würde von selbst einsehen, dass er sich an den Falschen gewandt, sich in der Person getäuscht hatte.
Ich wendete mich von ihm ab, öffnete vorsichtig den Aktenkoffer, den ich auf den Sitz neben mir gelegt hatte, zog meinen Laptop aus dem Innenfutter und wollte ihn auf den Tisch vor mich hinstellen. Blitzschnell und ohne Vorwarnung packte mich mein Gegenüber am linken Unterarm; drückte ihn unsanft nach unten. Es hatte wenig gefehlt und ich hätte mein Arbeitsgerät auf den harten Belag des Tisches fallen lassen. Der Mann hatte sich dermaßen in meinen Arm verkrallt, dass ich jeden einzelnen seiner langen, ungepflegten Fingernägel zu spüren glaubte. „Was in aller Welt fällt Ihnen ein? Nehmen Sie augenblicklich Ihre Hände von mir!“, wollte ich entrüstet protestieren, aber noch bevor meine Worte den Rand meiner Lippen übersprangen, ließ sie der frostige Blick des Fremden im Ansatz ersticken. „Ich habe eine ganz präzise Frage an Sie gerichtet. Und ich erwarte eine ebenso explizite und unmissverständliche Antwort darauf!“ Während der Mann dies sagte, machte er keine Anstalten, seinen eisernen Griff auch nur einen Zoll weit zu lockern. Was sollte ich tun? Wie reagiert man auf die Attacke eines Verrückten, ohne dabei die Situation zu verschlimmern, zu riskieren, dass sie außer Kontrolle gerät? „Der Chef des Speisewagens“, überlegte ich, „er muss mir zu Hilfe kommen!“ Meine Augen suchten verzweifelt, aber der Angestellte der Eisenbahngesellschaft hielt sich, ausgerechnet jetzt und im ungünstigsten Zeitpunkt, in der Kombüse des Waggons auf. Ich hörte das Klappern der Teller; keine Chance, mit seinem sofortigen Beistand zu rechnen. Mein Arm begann unter dem Druck meines Widersachers und seiner Finger zu schmerzen. Ich fixierte die Personen am Nebentisch. In der Hoffnung, ihr Interesse auf mich zu lenken, nässte ich mit der Zunge die Finger meiner freien Hand. Mit meinem speichelfeuchten Zeigefinger fuhr ich leicht über den Rand meines zu einem Viertel gefüllten Wasserglases. Ein glockenähnlicher Ton erklang. Zu wenig laut, denn meine musikalische Einlage verflog sich unbemerkt.
Mittlerweile hatte das fahrende Restaurant seine Kapazität ausgeschöpft. Keine freien Plätze mehr auszumachen! Nur an unserem Tisch warteten noch zwei Sitzgelegenheiten auf Kunden. Aber niemand zeigte Interesse, sich mit uns zusammenzutun. Ich konzentrierte mich auf die übrigen Gäste. Schnell musste ich feststellen, dass jeder mit sich selbst beschäftigt war, bestimmt nicht erpicht, sich in irgendeine Geschichte hineinziehen zu lassen. Eine Sache, die sie im Grunde genommen auch gar nichts anging. „Ich bin auf mich allein gestellt, muss versuchen, die Angelegenheit ohne Hilfe Dritter in den Griff zu bekommen.“ Meine Lage wurde zusehends ungemütlicher. Ich hatte den Eindruck, mein Unterarm sei nur noch ein lebloses, blutleeres Ding, das gar nicht mir gehörte. Abgesehen von den höllischen Schmerzen, fühlte sich mein Antebrachium wie tot an. „Wo bleibt nur der verdammte Kellner?“
Mehr und mehr wuchs in mir die Überzeugung, dass ein vernünftiger Dialog mit meinem Gegenüber ein Ding der Unmöglichkeit war. Der Kerl war buchstäblich von Sinnen. Ich ging von der Voraussetzung aus, dass ihm sein ungelenker, aber unmissverständlicher Anbiederungsversuch Genuss bereitete. „So eine Art Droge, die er vermutlich braucht, um sein krankes Hirn funktionsfähig zu erhalten; ihm die erforderliche Menge an Nahrung zukommen zulassen?“ Trotzdem, ich konnte mir keinen Reim darauf machen, weshalb er ausgerechnet mich zu seinem Opfer auserkoren hatte. „Liegt es daran, dass genau in dem Moment, in dem er den Shit benötigte, niemand anders als ich zur Stelle war? Ein unglücklicher Zufall oder doch kaltblütige Berechnung, weil ausgerechnet ich der Typ von Mann bin, der ihn anmacht, den er für seine pathologischen Eskapaden braucht?“ Beängstigende Fragen, die mir wie Blitze durch den Kopf schossen, aber keine abschließende Antwort gebaren. Es war selbstredend, dass ich etwas unternehmen musste, bevor die Situation noch weiter eskalierte. Zudem, lange konnte ich die Schmerzen an meinem Unterarm nicht mehr aushalten. Aber allzu viele Möglichkeiten standen mir nicht offen! „Nur, wie geht man mit einem Geisteskranken um, ohne ihn zu brüskieren, ihn zu noch Schlimmerem zu verleiten?“
„Ich hätte nie gedacht, dass Sie so naiv sind!“, machte sich der Fremde wieder verbal bemerkbar. Ich wurde das eigentümliche Gefühl nicht los, dass er sich über mich lustig machte. Es war unvermeidlich, dass er meinen hilflosen Versuch, andere mit meinem gläsernen Glockenspiel auf mich und meine ungemütliche Lage aufmerksam zu machen, mitgekriegt hatte. Ein hämisches Grinsen in seinen nach unten gezogenen Mundwinkeln untermauerte meine Beurteilung. Und wieder dachte ich an Freud. „Haben Sie Angst?“, fragte er. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Was hätte ich ihm antworten sollen? Natürlich hatte ich Angst! „Ich kann es in Ihren Augen lesen: Sie haben Angst, fürchterliche Angst! Und das ist gut so. Sie sollen Angst haben, leiden, sich vor lauter Schiss in die Hosen machen! Aber Sie werden in der kurzen Zeit, die Sie noch zu leben haben, noch viel, viel mehr Angst bekommen, bis Sie am Schluss daran verrecken werden! Das, was Sie Angelique und meiner Familie angetan haben, verdient nichts Besseres!“
Es brauchte seine Zeit, bis ich mich auch nur halbwegs von meinem Schrecken erholt hatte. „Lassen Sie unverzüglich meinen Arm los, oder ich werde den Schaffner rufen!“ Ich war selbst erstaunt, dass ich meine Stimme wiedergefunden hatte, auch wenn sie kaum mehr als ein Bruchteil ihrer normalen Tonlage ausmachte. „Tun Sie das, wenn Sie denn Mumm dazu haben!“, höhnte der Fremde. „Weshalb regen Sie sich so auf? Es wäre für uns beide besser, wenn wir zur Sache kommen und Sie sich kooperativer als bis anhin verhalten würden. Ich habe eine simple Frage an Sie gerichtet und erwarte eine ebenso einfache Antwort darauf. Also, fangen wir nochmals von vorne an: Weshalb haben Sie Angelique umgebracht?“ „Angelique? Ich kenne niemanden, der auf diesen, seien wir ehrlich, doch eher seltenen Namen hört!“, gab ich hastig zur Antwort, obwohl ich zugeben musste, dass ich den Namen Angelique in der Vergangenheit schon einmal gehört haben musste. Nur gelang es mir in diesem Augenblick beim besten Willen nicht, ihn einem bestimmten Ereignis zuordnen.
„Wenn Sie jetzt die Güte hätten, unverzüglich meinen Arm loszulassen“, beharrte ich. Diesmal hatte meine Stimme wieder ihren gewohnt festen Klang gefunden.
Es geschah, womit ich schon nicht mehr gerechnet hatte: Der Fremde lockerte merklich seinen Griff, bis er meinen Arm schlussendlich ganz freigab. Gleichzeitig erhob er sich abrupt. Aber bevor er seinen Platz räumte, fixierte er mich mit seinem kalten Blick. „Sie schulden mir eine Antwort“, fauchte er. „Ich werde auf meine Frage zurückkommen! Es hat mich etliche Mühe gekostet Sie aufzuspüren. Aber jetzt, wo ich Sie gefunden habe, werde ich Sie nicht mehr zur Ruhe kommen lassen. Ich werde Sie im Auge behalten, Sie verfolgen, Sie wie ein Wildschwein hetzen und am Ende werden Sie für Ihre Tat büßen. Ich oder die Umstände werden Sie kaltmachen. Denn nur mit Ihrem Tod wird Angelique die Gerechtigkeit widerfahren, die ihr zusteht.“ Ohne weitere Worte zu verlieren, ging der Fremde zur Waggons-Tür, wartete, bis sie sich von selbst öffnete, und war plötzlich verschwunden. Eine Bestellung hatte er nicht aufgegeben.
Ich stülpte meinen Hemdsärmel zurück. Die Marter hatte blaurote, schmerzende Nagelspuren auf meinem Unterarm hinterlassen. Es würde seine Zeit brauchen, bis ich mich wieder ärmellos in der Öffentlichkeit zeigen konnte. „Und das ausgerechnet jetzt im Hochsommer!“, überlegte ich verärgert und trotzdem glücklich die unheilvolle Situation überstanden zu haben.

Das Ereignis hatte mich entschieden aus meiner gewohnten Bahn geworfen. Es beschäftigte mich in einer Weise, dass ich nur wenig Lust auf mein Frühstück verspürte; es dann aber dennoch, wenn auch pomadig, hinunterwürgte. Obwohl mir, wie schon zuvor erwähnt, der Vorname Angelique nicht vollkommen unbekannt war, konnte ich mich nach wie vor nicht mehr an ein weibliches Wesen erinnern, das diesen Namen trug. Ich war nicht geneigt, mich weiterhin mit dem Geschehen auseinanderzusetzen; versuchte mir einzureden, dass es sich um eine Verwechslung gehandelt haben musste. Ich ging auch nicht von der Annahme aus, dass der Unbekannte seine Warnung wahrmachen würde. „Vermutlich ist er gerade daran, sich an sein nächstes Opfer heranzumachen.“

***

Ich befand mich wieder in meinem Zugsabteil. Die ältere Dame schlief fest. Sie hatte ja nichts zu befürchten, schließlich hielt ihr Raubtier Wache. Ich konnte das Gefühl nicht loswerden, dass das Tier mit seinen hervorquellenden Augen mich nicht mochte. Dennoch fand ich seinen Blick weitaus angenehmer als jenen, den mir der Fremde im Speisewagen mit auf den Weg gegeben hatte. „So schnell werde ich den Kerl nicht vergessen!“

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