Das Gavia-Prinzip

Das Gavia-Prinzip

Management braucht Sport braucht Management

Arno Wohlfahrter


EUR 19,90
EUR 11,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 212
ISBN: 978-3-99003-251-0
Erscheinungsdatum: 02.12.2010

Leseprobe:

1. Einleitung

Sport war von früher Jugend an ständiger Begleiter meines Lebens. In Kärnten auf die Welt gekommen, landete ich im Kindesalter typischerweise beim Skisport: zuerst alpin, später auch nordisch. Irgendwann begann ich im Sommer mit dem Rennrad zu trainieren und nahm an Hobbyrennen teil, von denen ich einige gewann. Plötzlich stand die Faszination Radsport in meinem Leben. Ich löste eine Lizenz und fuhr bald bei den „ganz großen“ Rennen mit. Erste Siege stellten sich ein, ich entwickelte mich weiter. Im Alter von sechzehn war mir klar, dass ich Radprofi werden wollte, am Giro d’Italia teilnehmen, Rad an Rad mit Roberto Visentini, Pepe Saronni, ­Steven Roche.
Nach der Matura hatte ich die Chance, mich im Bundes-Sportzentrum Südstadt voll auf den Sport zu konzentrieren, drei Jahre später war es Realität: Ich unterschrieb meinen ersten Profivertrag. 1988, in meinem ersten Profijahr, nahm ich gleich am Giro d’Italia teil und durfte eine der wohl härtesten Etappen nicht nur des Giro, sondern vor allem meiner Sportlerkarriere erleben. Es war eine Etappe, die nicht planbar war: Das Wetter spielte verrückt. Wegen eines Temperatursturzes mussten wir uns im Schneegestöber über einen der schwersten Alpenpässe kämpfen, rauf auf 2618 Meter Seehöhe, auf Schneefahrbahn, zwischen meterhohen Schneewänden. Rauf auf den Passo di Gavia.
Ich habe im Sport viel gelernt, eine der größten Lektionen allerdings an diesem einen Tag. Vieles davon stellte und stellt bis heute eine große Ressource für meine berufliche Laufbahn dar. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten habe ich die Entwicklung vieler Sportkollegen im und nach dem Sport verfolgt und dabei sehr interessante Karrieren beobachtet.
So manifestierte sich das Gavia-Prinzip, Schritt für Schritt: vom ersten Gedanken zu dem nun vorliegenden Buch. Das Buch zeigt Parallelen zwischen Sport und Wirtschaft. Es ist die Geschichte von Sport und Wirtschaft.
Das Buch lebt von den Erfahrungen außergewöhnlicher Menschen, die ihre Geschichte erzählen. Von der Bedeutung des Sports für ihr Leben. Von der Verflechtung der Wirtschaft im Sport. Und davon, was sie gelernt haben. Wie sehr Sport ihr Leben prägte.
Sie werden feststellen – es gibt keinen Königsweg, kein Patentrezept zum Erfolg. Erfolg stellt sich dann ein, wenn man das macht, was man wirklich, wirklich machen möchte. Wenn man seinen Weg geht, nicht in den Schuhen anderer einer Spur folgt. Zu seinen Schwächen steht, an ihnen arbeitet, ebenso konsequent wie an seinen Stärken. Demut lernt in Niederlagen, zu feiern bei Siegen. Mit jedem Schritt besser wird und vor allem beginnt, seinen Weg zu gehen: Erst das Losgehen bewegt!
Mein aufrichtiger Dank gilt den Menschen, die bereit waren, mir ihre Erfahrungen für dieses Projekt anzuvertrauen. Ich habe so viel von jedem Einzelnen gelernt! Danke!

Arno Wohlfahrter


2. Ich habe mit Arno Wohlfahrter geduscht …

… und würde es jederzeit wieder tun!
Exradprofi Fritz „Magic“ Berein über seine gemeinsame Zeit mit dem Autor
Es ist irgendwann Mitte der Achtziger des vergangenen Jahrhunderts, als ich den Radrennsport für mich entdecke. Wenn ich jetzt „Radrennsport“ schreibe, dann meine ich damit die damals einzige Form von Radrennen mit öffentlicher Wahrnehmung und somit Existenzberechtigung: den Straßenrennsport!
Alle anderen Formen der wettkampfartigen Fortbewegung auf Fahrrädern sind zu dieser Zeit entweder noch nicht erfunden, oder werden als mehr oder weniger skurrile Trotz­winkerln angesehen.
Ich selber bin in diesen Tagen auch mit rasender Geschwindigkeit unterwegs. Körperlich zwar am Rennrad, innerlich aber genau in Richtung dieser exotischen Spielwiesen der verlorenen Seelen des Radfahrens. Denn bei Radrennen kann ich zu dieser Zeit nur durch Neonstyle (die seligen Achtziger!), riesige Sonnenbrillen und Styroporflügel am Sturzhelm, aber sicher nicht mit sportlicher Leistung auffallen.
Arno Wohlfahrter hingegen ist eine große Nummer im heimischen Radsport. Er spielt in einer anderen Liga. Er ist stark. Er ist im Nationalteam. Er bestimmt Rennen. Er gewinnt!!! Rennen. Er lächelt aus dem Fernsehen. Er hat etwas zu sagen. Er ist jemand, der interessiert auf einen jungen Spund wie mich herabblickt … aber auch einer, zu dem man aufschauen kann. Er ist weltberühmt – in Österreich!
Einem Interview von ihm habe ich es zu verdanken, dass meine Hoffnung, doch noch ein erfolgreicher Radrennfahrer zu werden, nicht gleich den Bach runtergeht, sondern erst 20 Jahre später. Danke Arno! Sinngemäß meint er damals nämlich, dass in Österreich jeder noch so talentfreie Poidl ein Radrennen gewinnen wird können, wenn er nur genug trainiert. Also auch ich!
1987 gewinnt Arno Wohlfahrter in seiner Kärntner Heimat am Villacher WM-Kurs den Staatsmeistertitel im Straßenrennen. Zweifellos ein sportlicher Meilenstein im Leben eines jeden Rennfahrers. Ein Radsportler der Leistungsklasse Arno Wohlfahrters hat damals im geschützten Bereich „Österrei­chischer Radsport“ ein recht angenehmes Leben – unterstützt vom Bundesheer, der Sporthilfe und der Mannschaft. Nicht zu vergessen, die persönliche Eitelkeit, schließlich bekommen die damaligen „Berufsamateure“ genau wie die richtigen Stars ihre Bäuche entsprechend gepinselt. Es gibt also absolut keinen vernünftigen Grund, den lustig sprudelnden warmen ­Jacuzzi des heimischen Amateursports gegen das grauslich kalte und sturmgepeitschte Haifischbecken des Profisports zu tauschen.
Arno tut es trotzdem. Österreich ist ihm zu klein geworden. Er biegt vom vorgegebenen Trampelpfad ab und geht seinen eigenen Weg. Vom Zaun, der die Insel des seligen heimischen Sports beschützt, fühlt er sich eingesperrt. Logische Konsequenz: drübersteigen! Arno tauscht Sicherheit und relativ leichte Rennen gegen Mindestsalär und brutales Renngeprügel im internationalen Profigeschäft.
Entgegen gut gemeinter Ratschläge und ohne nennenswerte Unterstützung verlässt er die heimische Szene in Richtung Italien, wo ihm ein Vertrag in einem renommierten Rennstall zur Unterschrift vorgelegt wird. Geschenke gibt’s im neuen Umfeld höchstens vom Christkind: gewaltiger Leistungsdruck, irrsinniger Reisestress, unglaubliche Rennbelastungen, überlegene Gegner, teaminterner Kampf um den Startplatz beim nächsten Rennen … Du darfst dir keine Schwäche erlauben und schon gar keine zeigen, wenn du mit den großen Buben spielst. Arno gelingt diese Umstellung. Er verdient sich den Respekt der Mannschaft und das Vertrauen der Teamleitung. Der Druck wird größer. Die Erwartungen an das Talent steigen. Unter Umständen werden dann irgendwann Dinge an ihn herangetragen, die manche Menschen seiner Umgebung vielleicht als selbstverständlich ansehen. Möglicherweise legen Menschen in seinem Umfeld Verhaltensweisen an den Tag, die für sie seit jeher als normal gelten. Sie stehen aber zu hundert Prozent entgegen der Moralvorstellung von Arno Wohlfahrter. Er ist nicht bereit, seine Überzeugung aufzugeben und persönliche Prinzipien am Altar des schnellen Erfolgs zu opfern. Arno zieht die Konsequenzen und trägt auch jene, die sich daraus für ihn ergeben.
Man muss sich das einmal vorstellen: Das ist etwa so, als ob du mit sechzehn Jahren einen Anruf vom renommierten Formel-1-Konstrukteur und gleichzeitigen Teamchef kriegst, in dem er dich auffordert, doch bitte gefälligst seinen neuen unschlagbaren Geniestreich auf der Rennstrecke zu pilotieren, und du lehnst ab, weil deine Erbtante dir das Versprechen abgenommen hat, ohne Führerschein nicht Auto zu fahren. Punkt. Jahrzehnte später stellt sich dann heraus, dass es damals Colin Chapman war, der dir seinen Lotus 72 umhängen wollte, und du anstelle von Jochen Rindt gegen die Wand rauschen hättest können …
Erneut geht Arno Wohlfahrter also nicht den ausgetrampelten Pfad, sondern bleibt auf seinem Weg. Der ist zwar gerade, aber auch steiniger. Dafür kann er sich noch heute jeden Tag beim Rasieren in den Spiegel schauen.
Nach mehreren Teamwechseln, unter anderem in den Rennstall rund um den italienischen Superstar Moreno Argentin, von Felice Gimondi gemanagt, und 5 prägenden Saisonen als Profi kehrt er 1993 nach Österreich zurück und wird als Kapitän eines vom Verband als Talentschmiede etablierten Rennstalls verpflichtet. Eine gute Wahl, wie sich herausstellt. Nun wieder bei nationalen Rennen am Start, lerne ich den mittlerweile als Routinier geltenden Kärntner persönlich kennen. Auch unter der Dusche.
Übertriebenen persönlichen sportlichen Ehrgeiz darf man Arno Wohlfahrter in diesen Tagen nicht gerade zum Vorwurf machen. Vielmehr widmet er sich mit Hingabe dem Formen einer Mannschaft. Dem Leitwolf gelingt es, aus einer Horde junger wilder Einzelkämpfer, die zufällig das gleiche Teamtrikot tragen, eine effizient funktionierende Mannschaft zu formen. Nicht weniger als sieben Mann schaffen von diesem Sprungbrett aus den Umstieg ins internationale Profigeschäft und fassen dort erfolgreich Fuß. Unterhält man sich heute mit den Teamkollegen von damals, sind sie sich ausnahmslos einig: Alle betrachten die Jahre mit Arno noch immer als lehrreich und wichtig für ihr weiteres Leben. Egal, ob sie heute Mediziner, Techniker, Banker, Radhändler, Manager, Kommunalpolitiker, immer noch erfolgreicher Radprofi mit mehreren Tour-de-France-Starts sind – alle haben in nicht unerheblicher Weise aus ihren Erfahrungen und Erlebnissen mit Arno Wohlfahrter für ihr weiteres Fortkommen Profit schlagen können. (Okay, einer ist auch Polizist geworden.)
Arno selbst widmet sich parallel zum Radsport bereits seiner eigenen beruflichen Zukunft und beschließt Mitte der Saison 1994, sich nie wieder eine Startnummer auf den ­Buckel zu schnallen. Über den ambitionierten Journalismus und dessen billige Schwester – das Marketing – startet er eine beeindruckende Karriere im Wirtschaftsleben. Das Schöne – und gleichzeitig Grausliche – am Spitzensport ist, dass er nicht anders funktioniert als die moderne Wachstumsgesellschaft mit all ihren nicht immer gesunden Ausuferungen. Spitzensport und Wirtschaft sind den gleichen Mechanismen und ­teilweise perversen Abläufen unterworfen, nur passieren diese beim Leistungssport oft viel intensiver und schneller als im „echten Leben“.
Sport ist nicht immer nur Spielwiese. Oft ist er auch Schlachtfeld. Dafür hat jeder ehemalige Leistungssportler mehr Eindrücke und Erlebnisse im kleinen Finger der linken Hand, als sie je in lustigen Managementtrainings oder wissenschaftlich ausgeknobelten Grenzerfahrungsseminaren vermittelt werden könnten.
Ich kenne den Berufsmenschen Arno Wohlfahrter nicht. Aber ich habe den Radfahrer Arno Wohlfahrter erlebt. Und ich bin mir sicher, dass der Manager Wohlfahrter sehr viel vom Sportler Arno gelernt und übernommen hat.
Mich hat immer schon beeindruckt, wie genau er den Kern einer Sache erkennt. Mit der Präzision eines sonargesteuerten Torpedos trifft er den Punkt. Entsprechend kracht es halt auch, wenn er einem seine Sicht der Dinge vermittelt. Hat man das aber einmal geschluckt, wird man dankbar anerkennen, dass seine Analyse den Nagel in der Regel auf den Kopf trifft. Er darf erbarmungslos direkt agieren, denn Arno wird zu sich selbst noch viel härter sein als zu jedem anderen
Schon als Radrennfahrer hat er sein Potenzial richtig eingeschätzt, die Ziele danach definiert und gewusst, seine Prioritäten dementsprechend zu setzen. Man kann sich hundertprozentig darauf verlassen, dass Arno für das Erledigen seiner Aufgabe alles gibt. Er wird dabei aber niemals – ich betone: niemals! – seine persönlichen Prinzipien aufweichen, auch wenn es die Mehrheit eigentlich ohne Bedenken als opportun ansieht. Als Teamkapitän ist er eine der seltenen anzutreffenden Führungsfiguren, die nicht in erster Linie damit beschäftigt sind, ihre Leaderposition zu festigen, sondern sich darum kümmern, jedes einzelne Mitglied ihrer Mannschaft stärker zu machen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass der heutige beruf­liche Erfolg Arno Wohlfahrters auf menschliche Werte und charakterliche Eigenschaften zurückzuführen ist, die ihn schon als Radrennfahrer ausgemacht haben.
Ich habe ja keine Ahnung, wie das in der bunten weiten Welt der Wirtschaft so gehandhabt wird. Sollten Sie aber je vor der Frage stehen, ob Sie jetzt mit Arno Wohlfahrter unter die Dusche steigen sollen oder nicht, so kann ich Sie beruhigen:
Sie werden sicher sauber aus der Sache rauskommen.
Ich für meinen Teil würde es jederzeit wieder tun.


3. Das Gavia-Prinzip

oder: Was man an einem Tag beim Giro d’Italia lernen kann
Gavia
Der Gavia-Pass (ital. Passo di Gávia) ist ein Gebirgspass in den italienischen Alpen. In der Lombardei gelegen verbindet er Bormio im Norden mit Ponte di Legno im Süden und ist 43?km lang. Auf der Nordrampe sind 10 Kehren bis zur 2618 Meter über dem Meer gelegenen Passhöhe zu durchfahren, auf der Südrampe 15 Kehren (zu jeder Kehre gibt es im Folgenden ein Prinzip). Der zu überwindende Höhenunterschied beträgt jeweils etwa 1400 Meter.
Der Pass präsentiert sich auf seiner Nordrampe relativ gut und zweispurig ausgebaut. Die erst Ende der 1990er-Jahre durchgängig asphaltierte Südrampe hingegen weist einige sehr enge Kehren und eine teilweise nur drei Meter breite Fahrbahn mit gelegentlichen Ausweichstellen auf. Hier befindet sich auch ein etwa 200?m langer Tunnel, der als Umfahrung eines mittlerweile für den Verkehr gesperrten, sehr ausgesetzten und engen Abschnitts dient. An stärker frequentierten Tagen kann es insbesondere auf der Südrampe zu chaotischen Verkehrsverhältnissen kommen, da zu wenig Platz ist, als dass zwei Fahrzeuge aneinander vorbeifahren könnten.
Die Passhöhe liegt zwischen dem Monte Gavia (3223?m) und dem Corno dei Tre Signori (3360?m) und bietet einen guten Ausblick auf die Gletscher der Adamellogruppe.
Der Gavia-Pass wird gelegentlich in anspruchsvolle Bergetappen des Giro d’Italia eingebunden und markiert dann in der Regel den höchsten Punkt des Rennens, den sogenannten Cima Coppi, an dem die meisten Bergwertungspunkte ver­geben werden.
1988 war es die 14. Etappe des Giro d’Italia. Eine historische Etappe,120 Kilometer lang: Chiesa–Valmalenco–Bormio, über den Passo dell’Aprica und den Gavia von der Südseite, damals noch teilweise unasphaltiert.
Dazu möchte ich Ihnen wiedergeben, was Bob Roll, damals im 7-Eleven-Team, zu diesem Tag schrieb. Die Gazzetta dello Sport titelte am nächsten Tag: „Der Tag, an dem die harten Männer weinten.“
Der folgende Abschnitt stammt aus „Bobkes Welt: Radsport auf die wilde Tour“ von Bob Roll, Verlag Covadogna. Ich habe den Artikel unter http://www.forum.cycling4fans.com/thread.php?postid=943381 am 06. Dezember 2009 im Web entdeckt. Wie sonst kaum ein Textdokument schildert er, was es damals hieß, diesen Pass im Peloton des Giro zu überwinden:



Der Tag, an dem die harten Männer weinten
Vor der Gavia-Etappe waren schon seit Tagen immer dichtere Wolken aufgezogen, dunkel, wie schwarzes Leder. Und am Vorabend, als wir gerade den Streckenverlauf nach Bormio besprachen, öffnete der Himmel seine Pforten und kalter Regen prasselte darnieder. Keine Frage, uns stand eine epische Etappe bevor …
Der Startschuss erfolgte in garstigem, kalt die Beine hochkriechendem Regen im Tal unterhalb von Chiesa Valmalenco. Angeführt von den Bongos, die Coppino (Franco Chioccioli, den Doppelgänger von Fausto Coppi) im rosa Trikot hatten, rollte das Peloton widerwillig aus der Stadt hinaus. Nicht so aggressiv wie gewöhnlich, eher voller Angst, nahm das Feld Kurs auf die Dolomiten.
Die erste echte Hürde war nach 70 Kilometern der Passo dell’Aprica auf 1181 Metern Höhe. Als wir den Gipfel in geschlossener Formation überquerten, verwandelte sich der Regen schlagartig in Schnee, der auf der Straße liegen blieb. Mit Ausnahme von Ariosteas Hirnchirurgen Stefan Joho, der hier zu Hause war und allein voranfuhr, begnügten sich alle Jungs damit, sich so lange wie möglich in der relativen Sicherheit des Pelotons zu verschanzen. Die Abfahrt vom Aprica jagte mir ziemliche Angst ein, weil die gefrorenen Eisblöcke, die wie meine Hände aussahen, es nicht mehr schafften, die Bremshebel zu betätigen. Ich schlitterte nur so durch die Kurven und rammte andere Fahrer, um irgendwie an Tempo zu verlieren.
Als es wieder flacher wurde, riss Roberto Pagnin aus, konnte aber nur ein paar Sekunden rausholen, da Del Bongo nun zu einem Teamzeitfahren an den Fuß des Gavia ansetzte. Aua! Meine Beine fühlten sich bereits wie versteinerte Bretter an, als wir durch Ponte di Legno kamen, den letzten bewohnten Außenposten vor dem Gavia. Dann, als sich alle Kletterer und Klassementfahrer an die Spitze begaben, passierten wir das Schild für den Bergpreis. 28 verfluchte Kilometer bis nach oben. ummmhhh, ummmhhh, ummmhhh – lecker!
Normalerweise wäre nun der Zeitpunkt gekommen, an dem ich mich ins Gruppetto der Sprinter zurückfallen lassen und mein Bestes versuchen würde, irgendwie im Zeitlimit das Ziel zu erreichen. Ich sprintete also ein letztes Mal zu Andy nach vorne, um ihm seine Regenjacke zu bringen, die ich am Teamfahrzeug geholt hatte. „Viel Glück, Püppchen – brat ihnen eins über“, gab ich ihm mit auf den Weg.
Doch als ich mich endlich zurückfallen lassen konnte und wieder von unserem Mannschaftsauto eingeholt wurde, sah ich einen offenkundig äußerst aufgeregten Mike. Und weil das so selten vorkam, machte mich dieser Anblick schlagartig nervös. Er schrie etwas von einem heftigen Schneesturm auf der Passhöhe, reichte mir Skihandschuhe, eine Wollmütze, eine trockene Jacke und sagte: „Bring das nach vorne zu Andy!“
„Scheiße“, sagte ich: „Machst du Witze?“
„Zur Hölle, nein! Bring endlich Andys Klamotten nach vorne. Auf der Stelle!“
Ich schüttelte meinen Kopf, biss auf die Zähne und begann, Stück für Stück wieder zur Spitzengruppe aufzuschließen. Ich brauchte fünf Kilometer, dann hatte ich sie endlich eingeholt: Andy, Breuk, Giovannetti und Giupponi. Ich brüllte zu Andy: „Hier, nimm den Scheiß. Oben auf dem Pass tobt ein Schneesturm.“

1. Einleitung

Sport war von früher Jugend an ständiger Begleiter meines Lebens. In Kärnten auf die Welt gekommen, landete ich im Kindesalter typischerweise beim Skisport: zuerst alpin, später auch nordisch. Irgendwann begann ich im Sommer mit dem Rennrad zu trainieren und nahm an Hobbyrennen teil, von denen ich einige gewann. Plötzlich stand die Faszination Radsport in meinem Leben. Ich löste eine Lizenz und fuhr bald bei den „ganz großen“ Rennen mit. Erste Siege stellten sich ein, ich entwickelte mich weiter. Im Alter von sechzehn war mir klar, dass ich Radprofi werden wollte, am Giro d’Italia teilnehmen, Rad an Rad mit Roberto Visentini, Pepe Saronni, ­Steven Roche.
Nach der Matura hatte ich die Chance, mich im Bundes-Sportzentrum Südstadt voll auf den Sport zu konzentrieren, drei Jahre später war es Realität: Ich unterschrieb meinen ersten Profivertrag. 1988, in meinem ersten Profijahr, nahm ich gleich am Giro d’Italia teil und durfte eine der wohl härtesten Etappen nicht nur des Giro, sondern vor allem meiner Sportlerkarriere erleben. Es war eine Etappe, die nicht planbar war: Das Wetter spielte verrückt. Wegen eines Temperatursturzes mussten wir uns im Schneegestöber über einen der schwersten Alpenpässe kämpfen, rauf auf 2618 Meter Seehöhe, auf Schneefahrbahn, zwischen meterhohen Schneewänden. Rauf auf den Passo di Gavia.
Ich habe im Sport viel gelernt, eine der größten Lektionen allerdings an diesem einen Tag. Vieles davon stellte und stellt bis heute eine große Ressource für meine berufliche Laufbahn dar. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten habe ich die Entwicklung vieler Sportkollegen im und nach dem Sport verfolgt und dabei sehr interessante Karrieren beobachtet.
So manifestierte sich das Gavia-Prinzip, Schritt für Schritt: vom ersten Gedanken zu dem nun vorliegenden Buch. Das Buch zeigt Parallelen zwischen Sport und Wirtschaft. Es ist die Geschichte von Sport und Wirtschaft.
Das Buch lebt von den Erfahrungen außergewöhnlicher Menschen, die ihre Geschichte erzählen. Von der Bedeutung des Sports für ihr Leben. Von der Verflechtung der Wirtschaft im Sport. Und davon, was sie gelernt haben. Wie sehr Sport ihr Leben prägte.
Sie werden feststellen – es gibt keinen Königsweg, kein Patentrezept zum Erfolg. Erfolg stellt sich dann ein, wenn man das macht, was man wirklich, wirklich machen möchte. Wenn man seinen Weg geht, nicht in den Schuhen anderer einer Spur folgt. Zu seinen Schwächen steht, an ihnen arbeitet, ebenso konsequent wie an seinen Stärken. Demut lernt in Niederlagen, zu feiern bei Siegen. Mit jedem Schritt besser wird und vor allem beginnt, seinen Weg zu gehen: Erst das Losgehen bewegt!
Mein aufrichtiger Dank gilt den Menschen, die bereit waren, mir ihre Erfahrungen für dieses Projekt anzuvertrauen. Ich habe so viel von jedem Einzelnen gelernt! Danke!

Arno Wohlfahrter


2. Ich habe mit Arno Wohlfahrter geduscht …

… und würde es jederzeit wieder tun!
Exradprofi Fritz „Magic“ Berein über seine gemeinsame Zeit mit dem Autor
Es ist irgendwann Mitte der Achtziger des vergangenen Jahrhunderts, als ich den Radrennsport für mich entdecke. Wenn ich jetzt „Radrennsport“ schreibe, dann meine ich damit die damals einzige Form von Radrennen mit öffentlicher Wahrnehmung und somit Existenzberechtigung: den Straßenrennsport!
Alle anderen Formen der wettkampfartigen Fortbewegung auf Fahrrädern sind zu dieser Zeit entweder noch nicht erfunden, oder werden als mehr oder weniger skurrile Trotz­winkerln angesehen.
Ich selber bin in diesen Tagen auch mit rasender Geschwindigkeit unterwegs. Körperlich zwar am Rennrad, innerlich aber genau in Richtung dieser exotischen Spielwiesen der verlorenen Seelen des Radfahrens. Denn bei Radrennen kann ich zu dieser Zeit nur durch Neonstyle (die seligen Achtziger!), riesige Sonnenbrillen und Styroporflügel am Sturzhelm, aber sicher nicht mit sportlicher Leistung auffallen.
Arno Wohlfahrter hingegen ist eine große Nummer im heimischen Radsport. Er spielt in einer anderen Liga. Er ist stark. Er ist im Nationalteam. Er bestimmt Rennen. Er gewinnt!!! Rennen. Er lächelt aus dem Fernsehen. Er hat etwas zu sagen. Er ist jemand, der interessiert auf einen jungen Spund wie mich herabblickt … aber auch einer, zu dem man aufschauen kann. Er ist weltberühmt – in Österreich!
Einem Interview von ihm habe ich es zu verdanken, dass meine Hoffnung, doch noch ein erfolgreicher Radrennfahrer zu werden, nicht gleich den Bach runtergeht, sondern erst 20 Jahre später. Danke Arno! Sinngemäß meint er damals nämlich, dass in Österreich jeder noch so talentfreie Poidl ein Radrennen gewinnen wird können, wenn er nur genug trainiert. Also auch ich!
1987 gewinnt Arno Wohlfahrter in seiner Kärntner Heimat am Villacher WM-Kurs den Staatsmeistertitel im Straßenrennen. Zweifellos ein sportlicher Meilenstein im Leben eines jeden Rennfahrers. Ein Radsportler der Leistungsklasse Arno Wohlfahrters hat damals im geschützten Bereich „Österrei­chischer Radsport“ ein recht angenehmes Leben – unterstützt vom Bundesheer, der Sporthilfe und der Mannschaft. Nicht zu vergessen, die persönliche Eitelkeit, schließlich bekommen die damaligen „Berufsamateure“ genau wie die richtigen Stars ihre Bäuche entsprechend gepinselt. Es gibt also absolut keinen vernünftigen Grund, den lustig sprudelnden warmen ­Jacuzzi des heimischen Amateursports gegen das grauslich kalte und sturmgepeitschte Haifischbecken des Profisports zu tauschen.
Arno tut es trotzdem. Österreich ist ihm zu klein geworden. Er biegt vom vorgegebenen Trampelpfad ab und geht seinen eigenen Weg. Vom Zaun, der die Insel des seligen heimischen Sports beschützt, fühlt er sich eingesperrt. Logische Konsequenz: drübersteigen! Arno tauscht Sicherheit und relativ leichte Rennen gegen Mindestsalär und brutales Renngeprügel im internationalen Profigeschäft.
Entgegen gut gemeinter Ratschläge und ohne nennenswerte Unterstützung verlässt er die heimische Szene in Richtung Italien, wo ihm ein Vertrag in einem renommierten Rennstall zur Unterschrift vorgelegt wird. Geschenke gibt’s im neuen Umfeld höchstens vom Christkind: gewaltiger Leistungsdruck, irrsinniger Reisestress, unglaubliche Rennbelastungen, überlegene Gegner, teaminterner Kampf um den Startplatz beim nächsten Rennen … Du darfst dir keine Schwäche erlauben und schon gar keine zeigen, wenn du mit den großen Buben spielst. Arno gelingt diese Umstellung. Er verdient sich den Respekt der Mannschaft und das Vertrauen der Teamleitung. Der Druck wird größer. Die Erwartungen an das Talent steigen. Unter Umständen werden dann irgendwann Dinge an ihn herangetragen, die manche Menschen seiner Umgebung vielleicht als selbstverständlich ansehen. Möglicherweise legen Menschen in seinem Umfeld Verhaltensweisen an den Tag, die für sie seit jeher als normal gelten. Sie stehen aber zu hundert Prozent entgegen der Moralvorstellung von Arno Wohlfahrter. Er ist nicht bereit, seine Überzeugung aufzugeben und persönliche Prinzipien am Altar des schnellen Erfolgs zu opfern. Arno zieht die Konsequenzen und trägt auch jene, die sich daraus für ihn ergeben.
Man muss sich das einmal vorstellen: Das ist etwa so, als ob du mit sechzehn Jahren einen Anruf vom renommierten Formel-1-Konstrukteur und gleichzeitigen Teamchef kriegst, in dem er dich auffordert, doch bitte gefälligst seinen neuen unschlagbaren Geniestreich auf der Rennstrecke zu pilotieren, und du lehnst ab, weil deine Erbtante dir das Versprechen abgenommen hat, ohne Führerschein nicht Auto zu fahren. Punkt. Jahrzehnte später stellt sich dann heraus, dass es damals Colin Chapman war, der dir seinen Lotus 72 umhängen wollte, und du anstelle von Jochen Rindt gegen die Wand rauschen hättest können …
Erneut geht Arno Wohlfahrter also nicht den ausgetrampelten Pfad, sondern bleibt auf seinem Weg. Der ist zwar gerade, aber auch steiniger. Dafür kann er sich noch heute jeden Tag beim Rasieren in den Spiegel schauen.
Nach mehreren Teamwechseln, unter anderem in den Rennstall rund um den italienischen Superstar Moreno Argentin, von Felice Gimondi gemanagt, und 5 prägenden Saisonen als Profi kehrt er 1993 nach Österreich zurück und wird als Kapitän eines vom Verband als Talentschmiede etablierten Rennstalls verpflichtet. Eine gute Wahl, wie sich herausstellt. Nun wieder bei nationalen Rennen am Start, lerne ich den mittlerweile als Routinier geltenden Kärntner persönlich kennen. Auch unter der Dusche.
Übertriebenen persönlichen sportlichen Ehrgeiz darf man Arno Wohlfahrter in diesen Tagen nicht gerade zum Vorwurf machen. Vielmehr widmet er sich mit Hingabe dem Formen einer Mannschaft. Dem Leitwolf gelingt es, aus einer Horde junger wilder Einzelkämpfer, die zufällig das gleiche Teamtrikot tragen, eine effizient funktionierende Mannschaft zu formen. Nicht weniger als sieben Mann schaffen von diesem Sprungbrett aus den Umstieg ins internationale Profigeschäft und fassen dort erfolgreich Fuß. Unterhält man sich heute mit den Teamkollegen von damals, sind sie sich ausnahmslos einig: Alle betrachten die Jahre mit Arno noch immer als lehrreich und wichtig für ihr weiteres Leben. Egal, ob sie heute Mediziner, Techniker, Banker, Radhändler, Manager, Kommunalpolitiker, immer noch erfolgreicher Radprofi mit mehreren Tour-de-France-Starts sind – alle haben in nicht unerheblicher Weise aus ihren Erfahrungen und Erlebnissen mit Arno Wohlfahrter für ihr weiteres Fortkommen Profit schlagen können. (Okay, einer ist auch Polizist geworden.)
Arno selbst widmet sich parallel zum Radsport bereits seiner eigenen beruflichen Zukunft und beschließt Mitte der Saison 1994, sich nie wieder eine Startnummer auf den ­Buckel zu schnallen. Über den ambitionierten Journalismus und dessen billige Schwester – das Marketing – startet er eine beeindruckende Karriere im Wirtschaftsleben. Das Schöne – und gleichzeitig Grausliche – am Spitzensport ist, dass er nicht anders funktioniert als die moderne Wachstumsgesellschaft mit all ihren nicht immer gesunden Ausuferungen. Spitzensport und Wirtschaft sind den gleichen Mechanismen und ­teilweise perversen Abläufen unterworfen, nur passieren diese beim Leistungssport oft viel intensiver und schneller als im „echten Leben“.
Sport ist nicht immer nur Spielwiese. Oft ist er auch Schlachtfeld. Dafür hat jeder ehemalige Leistungssportler mehr Eindrücke und Erlebnisse im kleinen Finger der linken Hand, als sie je in lustigen Managementtrainings oder wissenschaftlich ausgeknobelten Grenzerfahrungsseminaren vermittelt werden könnten.
Ich kenne den Berufsmenschen Arno Wohlfahrter nicht. Aber ich habe den Radfahrer Arno Wohlfahrter erlebt. Und ich bin mir sicher, dass der Manager Wohlfahrter sehr viel vom Sportler Arno gelernt und übernommen hat.
Mich hat immer schon beeindruckt, wie genau er den Kern einer Sache erkennt. Mit der Präzision eines sonargesteuerten Torpedos trifft er den Punkt. Entsprechend kracht es halt auch, wenn er einem seine Sicht der Dinge vermittelt. Hat man das aber einmal geschluckt, wird man dankbar anerkennen, dass seine Analyse den Nagel in der Regel auf den Kopf trifft. Er darf erbarmungslos direkt agieren, denn Arno wird zu sich selbst noch viel härter sein als zu jedem anderen
Schon als Radrennfahrer hat er sein Potenzial richtig eingeschätzt, die Ziele danach definiert und gewusst, seine Prioritäten dementsprechend zu setzen. Man kann sich hundertprozentig darauf verlassen, dass Arno für das Erledigen seiner Aufgabe alles gibt. Er wird dabei aber niemals – ich betone: niemals! – seine persönlichen Prinzipien aufweichen, auch wenn es die Mehrheit eigentlich ohne Bedenken als opportun ansieht. Als Teamkapitän ist er eine der seltenen anzutreffenden Führungsfiguren, die nicht in erster Linie damit beschäftigt sind, ihre Leaderposition zu festigen, sondern sich darum kümmern, jedes einzelne Mitglied ihrer Mannschaft stärker zu machen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass der heutige beruf­liche Erfolg Arno Wohlfahrters auf menschliche Werte und charakterliche Eigenschaften zurückzuführen ist, die ihn schon als Radrennfahrer ausgemacht haben.
Ich habe ja keine Ahnung, wie das in der bunten weiten Welt der Wirtschaft so gehandhabt wird. Sollten Sie aber je vor der Frage stehen, ob Sie jetzt mit Arno Wohlfahrter unter die Dusche steigen sollen oder nicht, so kann ich Sie beruhigen:
Sie werden sicher sauber aus der Sache rauskommen.
Ich für meinen Teil würde es jederzeit wieder tun.


3. Das Gavia-Prinzip

oder: Was man an einem Tag beim Giro d’Italia lernen kann
Gavia
Der Gavia-Pass (ital. Passo di Gávia) ist ein Gebirgspass in den italienischen Alpen. In der Lombardei gelegen verbindet er Bormio im Norden mit Ponte di Legno im Süden und ist 43?km lang. Auf der Nordrampe sind 10 Kehren bis zur 2618 Meter über dem Meer gelegenen Passhöhe zu durchfahren, auf der Südrampe 15 Kehren (zu jeder Kehre gibt es im Folgenden ein Prinzip). Der zu überwindende Höhenunterschied beträgt jeweils etwa 1400 Meter.
Der Pass präsentiert sich auf seiner Nordrampe relativ gut und zweispurig ausgebaut. Die erst Ende der 1990er-Jahre durchgängig asphaltierte Südrampe hingegen weist einige sehr enge Kehren und eine teilweise nur drei Meter breite Fahrbahn mit gelegentlichen Ausweichstellen auf. Hier befindet sich auch ein etwa 200?m langer Tunnel, der als Umfahrung eines mittlerweile für den Verkehr gesperrten, sehr ausgesetzten und engen Abschnitts dient. An stärker frequentierten Tagen kann es insbesondere auf der Südrampe zu chaotischen Verkehrsverhältnissen kommen, da zu wenig Platz ist, als dass zwei Fahrzeuge aneinander vorbeifahren könnten.
Die Passhöhe liegt zwischen dem Monte Gavia (3223?m) und dem Corno dei Tre Signori (3360?m) und bietet einen guten Ausblick auf die Gletscher der Adamellogruppe.
Der Gavia-Pass wird gelegentlich in anspruchsvolle Bergetappen des Giro d’Italia eingebunden und markiert dann in der Regel den höchsten Punkt des Rennens, den sogenannten Cima Coppi, an dem die meisten Bergwertungspunkte ver­geben werden.
1988 war es die 14. Etappe des Giro d’Italia. Eine historische Etappe,120 Kilometer lang: Chiesa–Valmalenco–Bormio, über den Passo dell’Aprica und den Gavia von der Südseite, damals noch teilweise unasphaltiert.
Dazu möchte ich Ihnen wiedergeben, was Bob Roll, damals im 7-Eleven-Team, zu diesem Tag schrieb. Die Gazzetta dello Sport titelte am nächsten Tag: „Der Tag, an dem die harten Männer weinten.“
Der folgende Abschnitt stammt aus „Bobkes Welt: Radsport auf die wilde Tour“ von Bob Roll, Verlag Covadogna. Ich habe den Artikel unter http://www.forum.cycling4fans.com/thread.php?postid=943381 am 06. Dezember 2009 im Web entdeckt. Wie sonst kaum ein Textdokument schildert er, was es damals hieß, diesen Pass im Peloton des Giro zu überwinden:



Der Tag, an dem die harten Männer weinten
Vor der Gavia-Etappe waren schon seit Tagen immer dichtere Wolken aufgezogen, dunkel, wie schwarzes Leder. Und am Vorabend, als wir gerade den Streckenverlauf nach Bormio besprachen, öffnete der Himmel seine Pforten und kalter Regen prasselte darnieder. Keine Frage, uns stand eine epische Etappe bevor …
Der Startschuss erfolgte in garstigem, kalt die Beine hochkriechendem Regen im Tal unterhalb von Chiesa Valmalenco. Angeführt von den Bongos, die Coppino (Franco Chioccioli, den Doppelgänger von Fausto Coppi) im rosa Trikot hatten, rollte das Peloton widerwillig aus der Stadt hinaus. Nicht so aggressiv wie gewöhnlich, eher voller Angst, nahm das Feld Kurs auf die Dolomiten.
Die erste echte Hürde war nach 70 Kilometern der Passo dell’Aprica auf 1181 Metern Höhe. Als wir den Gipfel in geschlossener Formation überquerten, verwandelte sich der Regen schlagartig in Schnee, der auf der Straße liegen blieb. Mit Ausnahme von Ariosteas Hirnchirurgen Stefan Joho, der hier zu Hause war und allein voranfuhr, begnügten sich alle Jungs damit, sich so lange wie möglich in der relativen Sicherheit des Pelotons zu verschanzen. Die Abfahrt vom Aprica jagte mir ziemliche Angst ein, weil die gefrorenen Eisblöcke, die wie meine Hände aussahen, es nicht mehr schafften, die Bremshebel zu betätigen. Ich schlitterte nur so durch die Kurven und rammte andere Fahrer, um irgendwie an Tempo zu verlieren.
Als es wieder flacher wurde, riss Roberto Pagnin aus, konnte aber nur ein paar Sekunden rausholen, da Del Bongo nun zu einem Teamzeitfahren an den Fuß des Gavia ansetzte. Aua! Meine Beine fühlten sich bereits wie versteinerte Bretter an, als wir durch Ponte di Legno kamen, den letzten bewohnten Außenposten vor dem Gavia. Dann, als sich alle Kletterer und Klassementfahrer an die Spitze begaben, passierten wir das Schild für den Bergpreis. 28 verfluchte Kilometer bis nach oben. ummmhhh, ummmhhh, ummmhhh – lecker!
Normalerweise wäre nun der Zeitpunkt gekommen, an dem ich mich ins Gruppetto der Sprinter zurückfallen lassen und mein Bestes versuchen würde, irgendwie im Zeitlimit das Ziel zu erreichen. Ich sprintete also ein letztes Mal zu Andy nach vorne, um ihm seine Regenjacke zu bringen, die ich am Teamfahrzeug geholt hatte. „Viel Glück, Püppchen – brat ihnen eins über“, gab ich ihm mit auf den Weg.
Doch als ich mich endlich zurückfallen lassen konnte und wieder von unserem Mannschaftsauto eingeholt wurde, sah ich einen offenkundig äußerst aufgeregten Mike. Und weil das so selten vorkam, machte mich dieser Anblick schlagartig nervös. Er schrie etwas von einem heftigen Schneesturm auf der Passhöhe, reichte mir Skihandschuhe, eine Wollmütze, eine trockene Jacke und sagte: „Bring das nach vorne zu Andy!“
„Scheiße“, sagte ich: „Machst du Witze?“
„Zur Hölle, nein! Bring endlich Andys Klamotten nach vorne. Auf der Stelle!“
Ich schüttelte meinen Kopf, biss auf die Zähne und begann, Stück für Stück wieder zur Spitzengruppe aufzuschließen. Ich brauchte fünf Kilometer, dann hatte ich sie endlich eingeholt: Andy, Breuk, Giovannetti und Giupponi. Ich brüllte zu Andy: „Hier, nimm den Scheiß. Oben auf dem Pass tobt ein Schneesturm.“

15.02.2011Die Neugierde aufrecht erhalten

mountainbike magazin

Das Gavia-Prinzip

15.02.2011Die Neugierde aufrecht erhalten

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5 Sterne
10 Jahre her und immer noch höchst aktuell - 02.06.2020
Heinz

Ein sehr gutes Buch dass trotz seiner 10 Jahre seit dem Erscheinen nichts an Aktualität eingebüsst hat.Danke Arno für das Buch!

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