Mondjunge

Mondjunge

Viktoria Weber


EUR 16,90
EUR 10,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 86
ISBN: 978-3-99048-612-2
Erscheinungsdatum: 20.07.2016
Tobys Leben ist eine einzige Katastrophe, doch dann trifft sie einen seltsamen Jungen, der ihre Welt komplett auf den Kopf stellt. Langsam lernt sie durch ihn, ihr Leben wieder zu schätzen - doch sie wird das Gefühl nicht los, ihn schon sehr lange zu kennen …
Wie an den meisten Tagen wehte eine leichte Brise. Luna sah nach unten zu seinen Füßen, als er bemerkte, wie etwas sanft gegen seine weißen Sneakers gestoßen war. Er seufzte leise, als seine Augen eine leere Plastikflasche erblickten, beugte sich vor und ergriff diese. „Manche Menschen sind solche Ferkel“, sagte er kopfschüttelnd und stellte die Flasche neben sich ab, um sie nachher, im Laufe des restlichen Tages, richtig zu entsorgen. „Was magst du an diesem Jungen denn so gerne?“, fragte er dann plötzlich und sah wieder zurück in Tobys Gesicht. Diese Frage warf Toby ein klein wenig aus den Latschen. Wieso mochte sie ihn denn überhaupt? Wirklich miteinander sprechen taten die beiden ja nicht. Erneut geisterte ihr diese Frage durch den Kopf, und ein weiteres Mal fand sie einfach keine Antwort darauf. „Ich mag ihn eben einfach“, antwortete sie schließlich und zupfte teilnahmslos an ihrem T-Shirt herum. „Du bist eine Sonnenblume“, erwiderte Luna darauf vollkommen unerwartet. Aber bei ihm konnte man ja nie so recht wissen, was er als nächstes wieder für einen Kommentar abgeben würde. „Schön wär’s, dann müsste ich nämlich nicht mehr zur Schule gehen“, sagte Toby in sarkastischem Ton. „Du strahlst äußerlich, wenn du glücklich bist, aber in dir drin ist ein großes, schwarzes Loch. Ganz klar – eine Sonnenblume.“ Luna sprach, als wäre diese Verkündigung das Selbstverständlichste auf der Welt, und Toby konnte sich nicht helfen und errötete leicht, was man aber bei ihrer dunklen Haut nur sehr schwer erkennen konnte. Noch nie hatte sie einen Jungen so sprechen hören, noch nie hatte sie irgendjemanden so sprechen hören; es war fast so, als wäre Luna ein Charakter aus einem Film. „Und was für eine Blume bist dann du?“, fragte die Sechzehnjährige, neugierig auf seine Antwort. „Hmm …“, Luna überlegte eine Weile und schaute dabei hinauf in die Baumkronen. „Ich glaube, eine Pusteblume.“ Wieder entkam Toby ein zartes Lachen. „Eine Pusteblume? Wieso denn das? Lass mich raten: Weil du … sanft bist und gerne mit dem Wind tanzt!“, meinte sie spielerisch. „Ich dachte eher, weil Pusteblumen so strubbelig aussehen, aber deine Erklärung gefällt mir fast noch besser!“, antwortete Luna und formte ein neckisches Grinsen mit seinen schmalen Lippen, während er ein Blatt ergriff, das direkt neben ihm am Waldboden schlief. „Ich möchte, dass du mir von dir erzählst“, forderte Toby den Jungen nach einer Weile auf. „Ich möchte mehr von dir wissen. Bitte.“ Luna nickte, lächelnd. „Ich liebe es, Dinge anzufassen, zu spüren“, sagte er und tastete mit sanften Handbewegungen den Waldboden zu seiner Rechten ab. „Wenngleich manche Dinge sich auch nicht bewegen und man nicht direkt sieht, dass sie leben, kann man es trotzdem noch spüren.“ Langsam ergriff er Tobys Hand und legte diese auf die Rinde des Kirschbaumes. Er strich mit ihrer Handfläche langsam am Stamm auf und ab, und Toby kam es so vor, als könnte sie, so wie Luna es eben beschrieben hatte, das Leben im Inneren des Baumes fühlen. „Du hast recht“, flüsterte sie ihm zu, aus Angst, sie könnte irgendetwas verpassen, wenn sie auch nur ein kleines bisschen lauter sprach. Noch einen weiteren kurzen Moment ließ Toby die Seele des Kirschbaumes an ihren Handflächen vorbeihuschen, bevor sie so langsam wie sorgsam ihre Hand von der Baumrinde nahm. „Du magst die Natur wohl sehr, oder?“, fragte sie, obwohl die Antwort wohl mehr als offensichtlich war. „Aber ja. Mehr als alles andere. Die Natur ist doch das Schönste, was diese Welt zu bieten hat, findest du nicht?“, erwiderte Luna. „Ja, finde ich auch.“ Tobys Lächeln fühlte sich in diesem Moment an, als würde es ihre Lippen nie wieder verlassen. Sie war so ruhig und gleichzeitig aufgeregt, jedoch auf eine gute Art und Weise. Vor langer Zeit hatte sie ihr Vater gelehrt, wie wichtig es war, die Liebe und Verbundenheit zwischen Mensch und Natur zu wahren, und so viele Jahre schien sie genau dies fast vergessen zu haben. Toby war, auch wenn sie es nicht direkt aussprechen würde, mehr als nur dankbar darüber, dass Luna es vollbracht hatte, ihr genau das wieder in Erinnerung zu rufen, was sie einst mit ihrem Vater so stark verbunden hatte. Außerdem schien er auch der Einzige zu sein, mit dem Toby über solche Dinge sprechen konnte und wollte. Sie fühlte sich so sicher mit ihm und wusste, er würde auf ihre Worte aufpassen, so wie er auf sie aufpasste. Die beiden redeten noch Stunden, bis der Himmel wieder dunkel geworden war. „Möchtest du etwas Wunderschönes sehen?“, fragte Luna Toby ruhig und sanft wie immer. Diese nickte sofort und konnte gar nicht erwarten, was ihr Luna wohl als nächstes zeigen würde. Er stand vom Boden auf und wartete, bis das dunkelhäutige Mädchen ihm gleichgetan hatte. „Komm“, flüsterte er und fing ganz plötzlich an, zu rennen, in einer Geschwindigkeit, die es Toby schwierig machte, ihm hinterherzukommen. „Luna, warte!“, rief sie, als sie sah, wie der groß gewachsene, schlanke Junge in ein großes Dickicht lief und schließlich darin verschwand. Ohne zu wissen, wo sie wohl hinauskommen würde, folgte Toby ihm und blieb stehen, als sie den Wald hinter sich gelassen hatte. Luna war ebenfalls stehen geblieben und stand schon, wartend, auf einer riesengroßen, grünen Frühlingswiese, die direkt unterhalb eines klaren, wolkenlosen Nachthimmels lag. „Wow …“, sagte Toby verdutzt und starrte in die Luft. Von ihrem Fenster aus beobachtete sie den Himmel zwar jeden Tag, hatte von dort aber noch nie einen so fabelhaften Ausblick gehabt. Luna lächelte und legte sich dann auf das dunkle Grün, den Blick gen Himmel gerichtet. Toby tat es ihm gleich. „Ich war noch nie hier. Im Leben nicht“, flüsterte sie. Die Luft war noch klarer als im Wald, und es war wunderschön ruhig. Die einzigen Geräusche, die sie vernehmen konnte, waren das sanfte Rauschen des Windes und das Rascheln der Blätter in den Bäumen hinter ihnen. „Ich komme jede Nacht hierher“, erklärte Luna, den Blick nicht vom Himmel abwendend. Toby schloss für einen Moment ihre Augen und genoss die Ruhe, bevor sie ihre Lider wieder öffnete. Die Sterne funkelten über ihren in Gras gehüllten Körpern, keine einzige Wolke verdeckte die Sicht. „Die Sterne sind so schön. Aber den Mond habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Ob er sich versteckt? Vielleicht gibt es ja eine Mondfinsternis“, plapperte Toby, ohne sicher zu wissen, was genau eine Mondfinsternis überhaupt war, da sie noch nie in ihrem Leben eine gesehen hatte. „Wer weiß“, meinte Luna bloß und zeigte danach mit dem rechten Zeigefinger hinauf zu den Sternen. „Aber selbst ohne Mond erleuchten die Sterne die Nacht ganz hell.“ Er hatte recht. Es war, als würden die beiden unter einer Million Glühwürmchen oder ganz hell strahlenden Lampen liegen. „Hört ihr mich? Ihr macht das super!“, rief Luna aus, als würden die Sterne ihn tatsächlich verstehen. Toby lachte und musste staunen, als einer der Sterne anfing, zu blinken, was fast so aussah, als würde er Luna Danke sagen wollen für sein liebes Kompliment. „Wie viele Sterne, meinst du, sind da oben?“, wunderte sich Toby fragend. „Na ja, ziemlich viele. So viele, man kann sie kaum zählen“, antwortete Luna und fing an, einen Stern nach dem anderen zu zählen. Toby schmunzelte erneut, als ihr in den Kopf schoss, wie Luna ihr erzählt hatte, dass er jeden Tag etwas zählte. Nun wusste sie auch, was genau er damit gemeint hatte. Bei 113 Sternen gab der Junge schlussendlich auf und drehte seinen Kopf dem Mädchen entgegen. „Ich denke, du solltest jetzt nach Hause gehen. Deine Familie macht sich bestimmt schon Sorgen um dich, es ist immerhin schon sehr spät.“ „Als ob die sich jemals Sorgen um mich machen würden“, dachte Toby bei sich, stimmte Lunas Aufforderung jedoch zu. „Danke, Luna. Dafür, dass du mir diesen wunderschönen Platz gezeigt hast“, sagte sie und richtete ihren Blick noch ein letztes Mal in das überwältigendste Fleckchen Himmel, das ihre dunklen Augen je erblickt hatten, bevor sie sich schließlich umdrehte und den ganzen Weg, den sie gekommen war, mit langsamen Schritten wieder zurückging.

Es war kühl geworden, aber das störte das Mädchen nicht im Geringsten – ganz im Gegenteil. Toby dachte eine Weile nach, über ihren Vater und die Vergangenheit. Und als sie gerade aus dem Wald gekommen war, erinnerte sie sich daran, wie gerne die beiden früher gemeinsam kneippen gegangen waren. Von der Abenteuerlust gepackt, eilte die Sechzehnjährige zu einem Bach, der nicht weit von ihrem zu Hause entfernt lag. Sowie sie ihn erreicht hatte, warf sie ihre Schuhe und Socken auf die Wiese, krempelte ihre Jeans nach oben und stieg mit nackten Füßen in das eiskalte Wasser. Es machte Spaß, unheimlichen Spaß, obwohl sie ganz alleine und für sich war. Zu lange hatte sie auf solche Aktivitäten verzichtet, nur wegen des Todes ihres geliebten Vaters. Bestimmt war er all die vergangenen Jahre unglücklich darüber gewesen, da war Toby sich nun sicher. Aber jetzt hatte sie endlich ihre Lebenslust zurückerlangt, und ihr Vater wäre bestimmt stolz auf sie, wenn er sehen könnte, wie sehr sie sich in den letzten Tagen zum Positiven verändert hatte. Toby holte mit dem rechten Bein aus und spritzte leicht mit dem Wasser herum. Die Sterne spiegelten sich auf der Wasseroberfläche und ließen sie glänzen und glitzern, als wäre sie eine samtig weiche Seidendecke. Dieses Vergnügen dauerte länger an, als das Mädchen anfangs geplant hatte, doch nach einiger Zeit machte sie sich endlich auf den Weg nach Hause. Immer noch barfuß, die Schuhe in den Händen, kam sie mitten in der Nacht daheim an und betätigte die Türklingel, da sie keinen Schlüssel dabeihatte. Sofort wurde die Haustüre aufgerissen, und ein offensichtlich aufgebrachter Sean sah dem Mädchen direkt in die Augen. „Was ist denn mit dir los?“, fragte Toby verdutzt, bekam jedoch keine Antwort von ihm. Anstatt irgendetwas auf ihre Frage zu erwidern, schloss der Mann sie fest in seine Arme, und Toby konnte klar hören, wie sein Herz laut gegen seine Brust hämmerte. „I…ist alles okay?“, stotterte die Sechzehnjährige, völlig verwundert über diese Umarmung. Auf einmal vernahmen ihre Ohren weinerliche Laute vom Wohnzimmer, die immer lauter zu werden schienen. Jojo kam um die Ecke, sein Gesicht dunkelrot und tränenverschmiert. Er wischte sich mit einer Hand über die klatschnassen Wangen, und Tobys Herz setzte für einen Moment aus. War etwas passiert? War etwas mit ihrer Mutter? Doch diese Angst war schon bald wieder verflogen, als diese ebenfalls um die Ecke geschossen kam und eine Hand auf Jojos Schulter legte. Als Sean Toby endlich losgelassen hatte, warf sie ihre Turnschuhe in die Ecke und stand nun vor ihrer aufgelösten Familie. Noch nie hatte sie die drei so gesehen, jedenfalls nicht alle gleichzeitig. Irgendetwas musste also passiert sein. „Wo warst du denn so lange?“, rief ihre Mutter entsetzt. „Wir dachten schon, dir wäre etwas passiert!“ Toby fiel ein Stein vom Herzen, doch ebenso war sie schockiert. Dieser ganze Aufruhr – nur wegen ihr? Das war wohl das Letzte, mit dem sie in jenem Moment gerechnet hatte. „Tut mir leid, ich … ich war nur spazieren … und so.“ Tobys Mutter hielt nicht mehr lang inne, bevor sie ebenfalls vortrat und ihre Tochter fest in beide Arme schloss. Sie war wütend, keine Frage, doch noch mehr war sie erleichtert, dass Toby wohl auf und nach einem langen Tag voller Sorgen endlich wieder zurück war.

An diesem Abend aß Toby zum ersten Mal seit langer Zeit ein großes, ausgiebiges Abendessen. Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal so richtig gegessen hatte. Ihre Gedanken und Abneigungen gegen ihre Familie hatten sie immer dazu gebracht, ihre Zeit lieber alleine in ihrem Zimmer zu verbringen, ohne Appetit. Jedoch hatte sich das schlagartig geändert, seit es ihr besser ging. Als Toby vor dem Schlafengehen noch eine Weile an ihrem Fenster saß, blickte sie wie immer zu den Sternen hinauf. Ob Luna immer noch auf der Wiese lag und von dort aus auch noch in den Himmel schaute? Wohl kaum. Es war ja schon spät und daher ziemlich kalt. Allerdings war sich Toby auch nicht sicher, ob dem Eisklotz, der Luna nun einmal war, das überhaupt etwas ausmachte. Ob ihr Vater in einer Wolke saß und sie von oben beobachtete? Wer wusste das schon? Plötzlich stand Toby auf und ging hinüber zu dem kleinen Spiegel, der an ihrer Wand hing. Sie starrte sich eine Weile lang an – ihre schmale Figur, ihr kurzes, krauses Haar, ihre dunkle Haut; doch dann hob sie ihren Arm und legte zwei ihrer Finger behutsam auf das sichelförmige Amulett, das immer noch an ihrem Hals hing. Seit Luna es ihr gegeben hatte, hatte sie es nicht mehr abgenommen, ihm aber ebenso wenig Beachtung geschenkt.
Es war so hübsch und sah sehr alt aus. Ganz langsam und behutsam strich Toby mit ihren Fingerspitzen über die glatte Oberfläche des silbernen Metallstückes. „Ob es wohl wertvoll ist?“, dachte sie, aber eigentlich war ihr das ganz und gar egal. Allein die Tatsache, dass Luna ihr überhaupt etwas geschenkt hatte, war mehr als nur sehr nett von ihm gewesen. Bei Weitem war dieses Amulett das hübscheste und seltenste Schmuckstück, das Toby je getragen hatte. Es schimmerte im Licht der Sterne, was es noch wertvoller aussehen ließ. Luna hatte es als seinen Glücksbringer bezeichnet. Ob es wohl auch in Tobys Fall der Grund war, dass plötzlich alles so gut für sie zu laufen schien? Eigentlich hatte die Sechzehnjährige nie wirklich an solche Dinge geglaubt, da sie sie für blanken Aberglauben gehalten hatte. Sie war immer schon eine Zweiflerin gewesen, allerdings hatte sie mittlerweile Zweifel an ihren Zweifeln bekommen, seit sie dieses kleine Ding um den Hals trug. Auf einmal sah Toby in der Reflexion des Spiegels, wie die Klinke ihrer Türe langsam nach unten gedrückt und die Tür leise geöffnet wurde. Sie drehte sich um und lächelte Jojo an, der soeben ganz leise den Raum betreten hatte. „Darf ich reinkommen?“, sagte er im Flüsterton. „Trottel. Du bist ja schon drin“, antwortete Toby mit einem Lachen. Jojo lachte ebenfalls, und dann setzten sich die beiden nebeneinander auf Tobys Bett. Eigentlich waren sie zu dritt, da Jojo seinen großen, dunkelbraunen Lieblingsstoffhasen, ohne den er absolut nicht einschlafen konnte, mitgebracht hatte. „Ich habe heute gedacht, du kommst nie wieder nach Hause“, murmelte der Kleine und sah seine Schwester dabei mit großen Augen an. Das berührte ihr Herz, so ungern sie es auch zugegen hätte. Die ganze Situation von vorhin, mit ihren aufgebrachten Eltern, hatte Toby schon sehr verblüfft. Nie hätte sie gedacht, dass sich überhaupt jemand um sie sorgen würde, geschweige denn in einem solchen Ausmaß. Da hatte sie ihrer Mutter und Sean sowie Jojo wohl sehr großes Unrecht getan. Sie war es wohl einfach zu sehr gewöhnt, dass sich zu Hause alles ständig um ihren kleinen Bruder drehte, zumindest ihrer Auffassung nach. „Ach was. Ich war nur ein bisschen draußen“, erklärte Toby ihr Fernbleiben und strubbelte sanft durch das Haar des sechsjährigen Jungen. „Wo draußen?“, fragte dieser, beide Hände fest um sein Häschen gelegt. „Auf einer Wiese. Hinter dem Wald. Hast du gewusst, dass die da ist?“ Anstatt Tobys Frage auch nur im geringsten einer Antwort zu würdigen, warf Jojo seiner Schwester einen finsteren Blick zu. „Alleine gehst du also in den Wald, und mit mir willst du nie!“ Er klang sauer, aber Toby konnte nicht anders, als über seinen Zorn zu lachen. Zum ersten Mal in ihrem Leben verstand sie, was Shell meinte, wenn sie das kleine Monsterchen als süß bezeichnete. Er hing sehr an ihr, Toby wusste das, hatte ihm allerdings nie wirklich eine Chance gegeben. Zu oft hatte sie sich von dem Kleinen bedroht gefühlt, weil er das neue Kind in der Familie war, ihr den Platz gestohlen hatte. Als Jojo noch ein Baby gewesen war, hatte Toby angefangen, zu denken, dass für sie nun kein Platz mehr in der Familie war. Dass allerdings sogar Jojos Vater sich Sorgen um sie gemacht hatte, hatte ihr letztendlich das Gegenteil bewiesen. „Kann ich bei dir schlafen?“, fragte Jojo und schaute Toby dabei mit hoffnungsvollem Gesichtsausdruck an. „Ja, okay. Aber nur heute“, antwortete ihm die große Schwester und zog ihre Bettdecke unter den beiden hervor. Danach legte sie sich mit Jojo hin und hielt ihn fest in ihrem Arm. „Schlaf gut“, flüsterte sie ihm ins Ohr und streichelte dabei ganz sanft über seinen Kopf. „Gute Nacht, Toby. Ich hab dich lieb.“ Sie hatte ihn auch lieb. Zum allerersten Mal war ihr das klar. Er war nicht nur der kleine Junge, der ihr die Mutter weggenommen hatte oder der ihr meistens so schrecklich auf die Nerven ging, weil er jede freie Minute des Tages mit ihr verbringen wollte. Er war mehr als bloß die kleine Heulsuse, die geflennt hatte, weil sie einen Tag mal nicht nach Hause gekommen war. Er war ihr kleiner Bruder, und sie hatte ihn lieb. Tief innen drin hatte Toby das wohl immer schon gewusst, aussprechen würde sie es allerdings trotzdem eine lange, lange Zeit noch nicht.

Als ihre Mutter die beiden am kommenden Morgen gemeinsam am Frühstückstisch sitzen sah, lachend, normal miteinander sprechend, und so gar nicht streitend und zankend wie sonst immer, war sie sehr positiv überrascht. Es schien nicht nur Toby aufzufallen, wie sehr sich die Dinge in letzter Zeit zum Guten gewandelt hatten. „Bis später, Mama. Hab einen schönen Tag!“, sagte Toby mit freundlicher Miene und winkte ihrer Mutter noch einmal zu, bevor sie aus dem Haus ging und sich auf den Weg zur Schule machte. Frühmorgens war es meistens noch relativ kühl draußen, jedoch konnte so ein bisschen milde Kälte Tobys gute Stimmung nicht trüben.

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