Janathels Rache

Janathels Rache

D. van Sint


EUR 20,90
EUR 12,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 140
ISBN: 978-3-99048-610-8
Erscheinungsdatum: 17.11.2016

Leseprobe:

1

Angestrengt lauschte sie und versuchte gleichzeitig Kräfte zu sammeln. Still zählte sie die verstreichenden Minuten. Das Warten wurde langsam unerträglich. Sie konnte es deutlich spüren. Das Schreckliche würde unaufhaltsam über sie hereinbrechen. Jede Sekunde brachte ihre Familie, ihre Freunde und sie selbst in Lebensgefahr. Er durfte den Weg nicht wiederfinden.
Sie verließ ihr schützendes Versteck. Schnell lief sie durch den Wald. Sie konnte spüren, dass er dicht hinter ihr war. Als sie über eine Baumwurzel stolperte, blieb sie für einige Sekunden liegen und spürte einen stechenden Schmerz im linken Bein. Doch dann entsann sie sich, was ihr in der letzten Zeit – waren es Monate oder sogar Jahre gewesen? – beigebracht worden war.
Sie schob ihren rechten Ärmel in die Höhe. Mit geschlossenen Augen fuhr sie langsam über die Schriftzeichen. Noch war die Haut nicht vollkommen verheilt. Langsam sprach sie die Worte und strich immer wieder über ihren Oberarm. Sie spürte ihr Amulett, das sie um ihren Hals trug. Es wurde wärmer. Energie begann sich in ihrem Körper auszubreiten.
Als sie ihre Augen wieder öffnete, sah sie ihn. Nur wenige Meter von ihr entfernt stand er. Blitzschnell sprang sie auf. Wenn sie es nur bis zur Eiche schaffen könnte. Indigoblaue Augen, die sie wutentbrannt anstarrten, waren das letzte, das sie sah, als er sie erreichte und zu Boden zerrte.

Tief verschneit lag das Haus von Yara und Lina zwischen den Hügeln versteckt. Der Duft von süßem Kakao strömte durch das warme kleine Holzhaus. Niemand ahnte, was an diesem Tag noch Schreckliches passieren sollte. Während Yara noch tief und fest unter ihrer dicken Daunendecke schlief, streckte Lina gerade ihre kleinen Zehenspitzen aus ihrem Bett. Barfüßig stapfte sie über den Fußboden, der aus dicken Eichenbrettern gezimmert wurde, Richtung Küche. Dort knisterte das Feuer im Holzofen und Mutter saß beim gedeckten Frühstückstisch.
Als sie Lina mit dem bodenlangen Nachthemd erblickte, stellte sie ihre dampfende Kaffeetasse auf den Tisch. „Guten Morgen, Schatz, ausgeschlafen?“
Lina lächelte und fragte: „Kann ich meine Milch trinken?“ Sie setzte sich auf die Bank und nahm ein Stück frischgebackenes Brot aus dem Brotkorb. Sie bestrich es mit Butter und beträufelte es mit leckerer Erdbeermarmelade. Genüsslich biss sie in ihr Brot und trank dazu einen großen Schluck Milch. Mutter strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Gedankenverloren blickte sie aus dem Fenster.

Kurze Zeit später kam auch Yara in die Küche. Wortlos setzte sie sich auf die Holzbank und lehnte sich mit dem Rücken an den Kachelofen, der die ganze Küche wärmte. „Wo ist eigentlich Vater?“, fragte sie und schaute auch aus dem Fenster. Dort sah man schon die ersten Sonnenstrahlen über die schneebedeckte Landschaft glitzern. Nur schwer konnte man erahnen, wo der Gartenzaun war. In der Nacht hatte es wieder sehr viel geschneit, nur Vater hatte es bemerkt, da er in Sorge um das Dach nicht schlafen konnte.
„Vater ist schon sehr früh aufgestanden und hat das Haus vom Schnee befreit. Dann hat ihn Kalle geholt, da sein Dach schon sehr kaputt ist. Nun werden sie wahrscheinlich Holz aus dem Wald holen, damit sie die kaputten Dachbalken reparieren können.“ Mutter schenkte Yara warme Milch in den Becher und gab ihr eine Schüssel mit warmen Haferbrei.
Yara zog die Beine an den Körper und aß langsam den Brei. Lina sprang von der Bank und suchte ihre Puppe. Nachdenklich fragte Yara: „Was ist, wenn Papa im Wald auf Wölfe stößt? Eigentlich finde ich den Winter nicht so schön. Im Sommer trauen sich die Wölfe nie so nahe zu uns Menschen. Vielleicht kommen sie sogar bis zu unserem Haus.“
„Dein Vater und Nachbar Kalle wissen schon, was zu tun ist, falls die Wölfe zu nahe zu ihnen kommen. Mach dir nicht unnötige Sorgen. Wollt ihr mir beim Backen helfen? Zieht euch an, dann kommt wieder in die Küche, um euch zu waschen.“
Eigentlich wollte Yara noch länger in ihrem Nachthemd in der Küche sitzen. Lina hingegen hatte sich schon auf dem Weg in die Schlafkammer das Nachthemd übergestreift und warf es in hohem Bogen auf ihr Bettchen. Dieses teilte sie sich mit ihrer Schwester. Es war eine große Holzkiste, die während des Tages problemlos unter das Erwachsenenbett geschoben wurde. Das war platzsparend und nicht unüblich in Häusern, die nur aus einer Wohnküche und einem kleinen Zimmer bestanden. Gleich neben der Küche befand sich eine kleine Tür, die zum Tierstall führte. So konnte man in extrem kalten und schneereichen Tagen die Tiere füttern und notfalls als Wärmespender in den Wohnraum holen. Auch dieses Jahr dauerte der Winter schon bis in den März hinein. Die kalte Winterluft legte sich an die Fensterscheiben und ließ so schöne Kristallblumen entstehen.
Mutter gab Schnee in einen Topf am Herd, damit dieser schmolz. Dann schüttete sie das Wasser in die Waschschüssel. So konnten sich Lina und Yara waschen und zogen danach ihre Überkleidchen an. Diese waren aus robustem Material und dienten als Schürzen, die an den oberen Rändern mit Rüschen verziert waren. Mutter ging durch die kleine Nebentür in den Stall. Dort setzte sie sich auf einen kleinen Holzschemel und begann die Kuh zu melken. „Sie hatte Glück und fand ein paar Eier.“ Aber die Hühner legten im Winter nie so viele. So war es wieder einmal vom Willen der Hühner abhängig, ob heute ein frischer Kuchen auf den Tisch kam, oder nicht.
„Soll ich dir deine Haare binden?“, fragte Yara ihre kleine Schwester. Gerne ließ sich Lina von Yara die Haare machen. Sie konnte stundenlang am Bettrand sitzen und sich frisieren lassen. Gekonnt band ihr Yara einen Zopf fixierte mit einer roten Schleife. Dann stellte sie sich zum Fenster und spiegelte sich darin. Ihre goldblonden Haare band sie heute zu einem hohen Zopf mit ihrer gelben Lieblingsschleife.
„Yara, komm, wir gehen in die Küche.“
Dort schüttete die Mutter die Milch in einen Topf. So wurde sie erhitzt und Keime wurden abgetötet. „Allmählich wird es Zeit, dass Vater nach Hause kommt“, dachte Mutter. Nachdem der Kuchenteig fertig angerührt war, gab ihn Mutter ins Backrohr. Die Mädchen durften danach die Teigschüssel ausschlecken, das bereitete ihnen große Freude.
„Können wir jetzt ins Freie?“, wollte Yara wissen. Lina ging schon zu ihren Fellstiefeln und schlüpfte hinein.
„Nur, wenn ihr euch nicht zu weit vom Haus entfernt“, antwortete Mutter. Sie band beiden Kindern den Wollschal um den Hals und half ihnen mit den Fäustlingen.
Warm angezogen verließen beide das Haus und stapften unbeschwert durch den frischen Schnee. „Komm, wir spielen Fische verkaufen“, schlug Yara vor. Lina nahm den Kübel, der neben dem Brunnen stand, und versuchte die Eisschicht herauszubekommen. Dazu griff sie nach einem Holzstecken und schlug damit auf die Eisschicht.



2

Noch weit entfernt, doch bedrohlich näherkommend, konnte man eine schwarze Bewegung am Horizont wahrnehmen, aber die beiden Mädchen achteten nicht darauf. In ihr Spiel vertieft, spürten Lina und Yara nicht, dass sie in Gefahr waren. Nur Mutter, die in der Küche aus dem Fenster sah, erstarrte, als sie zum Hügel hinaufblickte. Mit rasender Geschwindigkeit näherten sich Reiter Der Schnee dämpfte den Hufschlag, den die schweren Tiere ausübten. Yara vernahm etwas, hob ihr Gesicht und schaute Richtung Osten, doch die Sonne blendete sie und sie konnte nichts erkennen. Lina war noch mit ihren Fischen beschäftigt und hörte die Rufe ihrer Mutter nicht.
„Jemand kommt zu uns“, sagte Yara und ging den Besuchern entgegen. Doch nach den ersten Schritten stoppte sie. Schnee wurde aufgewirbelt und landete auf ihrem Gesicht. Die Sonne, die zuvor noch sehr hell und angenehm auf die Kinder geschienen hatte, wurde auf einmal vom Schneegestöber verdunkelt. „Lina“, rief Yara, instinktiv drehte sie sich um, nahm die Hand ihrer kleinen Schwester und begann Richtung Haus zu laufen. Mit den Stiefeln versanken die Mädchen tief in den neugefallenen Schnee. Das Laufen fiel ihnen schwer. Mutter öffnete gerade die Holztür und lief den Kindern entgegen. Lina hielt noch den Holzstab in der Hand, mit dem sie die Eisschicht bearbeitet hatte. Sie hatte keine Zeit, sich umzudrehen, denn ihre große Schwester lief schnell, mit großen Schritten und ohne Worte. Sofort erkannte Lina, dass es hierbei nicht um Spaß und Spiel ging, sondern Gefahr drohte. Die Rufe und der Gesichtsausdruck ihrer Mutter erschreckten die Kinder. Aber diese hatten keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Nur mehr ein Stück fehlte, dann hatten Lina und Yara ihre Mutter erreicht. Ihr Atem ging schnell. Mutter lief mit ihnen zum Haus zurück. Die sichere Tür war nur mehr ein Stück entfernt. Doch da hörten sie die schrecklichen Rufe und Laute, die von hinten zu ihnen drangen.
„Hinein“, rief Mutter und drückte die Tür hinter ihnen zu.
„Mama, wer sind diese Leute?“, wollte Yara wissen.
Plötzlich wurde es ruhig, der Lärm, den die Leute mit ihren schweren Pferden eben noch verursacht hatten, war nicht mehr zu hören. Lina kauerte sich mit Yara gegen den warmen Kachelofen, nur Mutter stand mit dem Rücken an die Holztür gelehnt erstarrt da. Die Morgensonne schien fröhlich durch die Scheiben und füllte die Küche mit warmem Licht. Der Schein trog, denn auf einmal hörte man schwere Schritte und ein lautes Klopfen an der Tür.
„Mama“, wimmerte Yara mit weit aufgerissenen Augen.
Die Tür war mit einem schweren Schieber verriegelt, doch wie lange sollte dieser standhalten, falls die Wilden dagegen drücken sollten? Mutter zeigte zur Stalltür,
dass die Mädchen sich schnell dorthin verstecken sollten. Das Klopfen wurde aufdringlicher. Gerade als die Mädchen geduckt Richtung Stalltür liefen, warf Lina beim Vorbeigehen einen Blick zum Fenster hinaus.
Dunkle Gestalten standen im Garten, mit großen schwarzen Pferden, deren Nüstern kalten Atem ausstießen. Nur lange, zottelige Haare, Felljacken, die so lang waren, dass sie weit bis zum Boden den Schnee berührten, konnte man erkennen. In diesem Augenblick erschien ein dunkles Gesicht beim Fenster und starrte in die Küche.
„Ahh“, rief Lina aus.
Yara, die sich umdrehte und auch das Gesicht beim Fenster erblickte, schrie: „Mama, da, beim Fenster!“, und zog ihre kleine Schwester weg vom Fenster.
Augen, die dunkelblau-lila strahlten, starrten durchs Fenster und suchten den Raum ab.
Da wurde das Pochen an der Tür aufdringlicher, sodass Mutter zur Seite wich. Die Kinder liefen in den Stall. Mit einem lauten Knall wurde die Tür aufgebrochen und landete am Fußboden in der Stube. Eng zusammengekauerte hatten sich Lina und Yara im Stall hinter der Tür versteckt. Die Tiere nahmen kaum Notiz von beiden. Sie waren es gewohnt, dass die Mädchen zu ihnen in den Stall kamen.
„Komm“, flüsterte Yara und zog ihre Schwester Richtung Außenluke. Diese führte ins Freie und war nur durch eine kleine Tür ins Freie zu erkennen. Geduckt liefen die Mädchen ins Freie hinter den Brunnen, der neben dem Haus stand. Dort hockten sich beide kurz hin und warteten. Dann deutete Yara Richtung Hecke, die das Grundstück umgab. „Bleib unten, ich schau, wo die Reiter sind.“ Yara hob vorsichtig ihren Kopf und blickte Richtung Haus. Nur die Pferde standen herum. Einige wurden gerade abgeladen. Yara konnte aber nicht erkennen, worum es sich dabei handelte.
„Mama …, wann kommt sie zu uns?“, wollte Lina wissen.
„Pst, sonst hört man uns.“ Doch eigentlich wollte Yara auch, dass ihre Mutter bei ihnen war. Stattdessen deutete Yara Lina, mit ihr zur Hecke zu laufen. Da die Reiter mit ihren Tieren beschäftigt waren, bemerkten sie nicht, dass die Mädchen im Garten waren. Mit ihren kleinen Füßen versanken Yara und Lina tief im Schnee, als sie bei der Hecke angekommen waren. Tränen standen in ihren Augen. Was würde jetzt geschehen?
Als sie durch die Hecke krochen, brach ein Ast so laut, dass die Reiter es hörten und sofort in Richtung der Mädchen schauten.
„Schnell“, rief Yara und versuchte Lina durch die Hecke zu ziehen. Denn nur sehr schwer gelang es, durch das dicht gewachsene, teils gefrorene Flechtwerk aus Ästen und Dornen durchzukommen. Doch die Reiter hatten sie schon entdeckt. Zwei von ihnen liefen durch den Schnee. Einer trug eine Augenbinde und auf seiner Wange konnte man eine große Narbe erkennen. Schon waren sie beinahe bei der Hecke angekommen. Yara zog so fest sie konnte, aber sie schaffte es nicht mehr rechtzeitig ihre kleine Schwester durch das Gestrüpp zu ziehen. „Nein“, schrie sie aus Leibeskräften, als die zwei Gestalten ihre kleine Schwester an den Beinen aus der Hecke zogen. Linas rote Haarschleife blieb im Gebüsch zurück. Yara selbst saß wie erstarrt auf der anderen Seite der Hecke, unfähig sich zu bewegen.
Doch da rief Lina: „Yara!“ Da erwachte Yara aus ihrer Starre und begann zu laufen, Tränen rannen ihr übers Gesicht, die kalte Winterluft schmerzte im Hals beim Atmen. Immer näher kam der Wald, den sie versuchte zu erreichen. So gerne wollte Yara zurücklaufen, Richtung Haus, zu ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester. Aber sie wusste, die Leute, die heute in ihr Haus gekommen waren, hatten nichts Gutes vor. Yara wollte ihren Vater finden. Nur er konnte alle retten. Als sie endlich die Waldlichtung erreichte, drehte Yara sich zum ersten Mal um. Keiner war ihr gefolgt. Nur die Geräusche, die vom Wald herkamen, waren zu hören. Ihr Herz raste, der Atem ging schwer. Tränen liefen unaufhaltsam über ihr Gesicht. Wie nur sollte sie ihren Vater finden? Angst überfiel Yara, noch nie war sie alleine im Wald gewesen. Oft hatte ihr Vater sie begleitet und alles gezeigt, Bäume benannt, Tierarten erklärt und worauf man achten musste, wenn man im Wald ein Lagerfeuer anzündete. Doch wie sollte sie alleine im Wald den richtigen Weg finden? Nach einiger Zeit aber begriff Yara, dass sie sich auf den Weg machen musste. Egal, ob sie den richtigen einschlagen würde oder nicht. Sie musste es versuchen und ihren Vater finden. Nur dann würde wieder alles gut und ihre Familie wieder zusammen sein.

1

Angestrengt lauschte sie und versuchte gleichzeitig Kräfte zu sammeln. Still zählte sie die verstreichenden Minuten. Das Warten wurde langsam unerträglich. Sie konnte es deutlich spüren. Das Schreckliche würde unaufhaltsam über sie hereinbrechen. Jede Sekunde brachte ihre Familie, ihre Freunde und sie selbst in Lebensgefahr. Er durfte den Weg nicht wiederfinden.
Sie verließ ihr schützendes Versteck. Schnell lief sie durch den Wald. Sie konnte spüren, dass er dicht hinter ihr war. Als sie über eine Baumwurzel stolperte, blieb sie für einige Sekunden liegen und spürte einen stechenden Schmerz im linken Bein. Doch dann entsann sie sich, was ihr in der letzten Zeit – waren es Monate oder sogar Jahre gewesen? – beigebracht worden war.
Sie schob ihren rechten Ärmel in die Höhe. Mit geschlossenen Augen fuhr sie langsam über die Schriftzeichen. Noch war die Haut nicht vollkommen verheilt. Langsam sprach sie die Worte und strich immer wieder über ihren Oberarm. Sie spürte ihr Amulett, das sie um ihren Hals trug. Es wurde wärmer. Energie begann sich in ihrem Körper auszubreiten.
Als sie ihre Augen wieder öffnete, sah sie ihn. Nur wenige Meter von ihr entfernt stand er. Blitzschnell sprang sie auf. Wenn sie es nur bis zur Eiche schaffen könnte. Indigoblaue Augen, die sie wutentbrannt anstarrten, waren das letzte, das sie sah, als er sie erreichte und zu Boden zerrte.

Tief verschneit lag das Haus von Yara und Lina zwischen den Hügeln versteckt. Der Duft von süßem Kakao strömte durch das warme kleine Holzhaus. Niemand ahnte, was an diesem Tag noch Schreckliches passieren sollte. Während Yara noch tief und fest unter ihrer dicken Daunendecke schlief, streckte Lina gerade ihre kleinen Zehenspitzen aus ihrem Bett. Barfüßig stapfte sie über den Fußboden, der aus dicken Eichenbrettern gezimmert wurde, Richtung Küche. Dort knisterte das Feuer im Holzofen und Mutter saß beim gedeckten Frühstückstisch.
Als sie Lina mit dem bodenlangen Nachthemd erblickte, stellte sie ihre dampfende Kaffeetasse auf den Tisch. „Guten Morgen, Schatz, ausgeschlafen?“
Lina lächelte und fragte: „Kann ich meine Milch trinken?“ Sie setzte sich auf die Bank und nahm ein Stück frischgebackenes Brot aus dem Brotkorb. Sie bestrich es mit Butter und beträufelte es mit leckerer Erdbeermarmelade. Genüsslich biss sie in ihr Brot und trank dazu einen großen Schluck Milch. Mutter strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Gedankenverloren blickte sie aus dem Fenster.

Kurze Zeit später kam auch Yara in die Küche. Wortlos setzte sie sich auf die Holzbank und lehnte sich mit dem Rücken an den Kachelofen, der die ganze Küche wärmte. „Wo ist eigentlich Vater?“, fragte sie und schaute auch aus dem Fenster. Dort sah man schon die ersten Sonnenstrahlen über die schneebedeckte Landschaft glitzern. Nur schwer konnte man erahnen, wo der Gartenzaun war. In der Nacht hatte es wieder sehr viel geschneit, nur Vater hatte es bemerkt, da er in Sorge um das Dach nicht schlafen konnte.
„Vater ist schon sehr früh aufgestanden und hat das Haus vom Schnee befreit. Dann hat ihn Kalle geholt, da sein Dach schon sehr kaputt ist. Nun werden sie wahrscheinlich Holz aus dem Wald holen, damit sie die kaputten Dachbalken reparieren können.“ Mutter schenkte Yara warme Milch in den Becher und gab ihr eine Schüssel mit warmen Haferbrei.
Yara zog die Beine an den Körper und aß langsam den Brei. Lina sprang von der Bank und suchte ihre Puppe. Nachdenklich fragte Yara: „Was ist, wenn Papa im Wald auf Wölfe stößt? Eigentlich finde ich den Winter nicht so schön. Im Sommer trauen sich die Wölfe nie so nahe zu uns Menschen. Vielleicht kommen sie sogar bis zu unserem Haus.“
„Dein Vater und Nachbar Kalle wissen schon, was zu tun ist, falls die Wölfe zu nahe zu ihnen kommen. Mach dir nicht unnötige Sorgen. Wollt ihr mir beim Backen helfen? Zieht euch an, dann kommt wieder in die Küche, um euch zu waschen.“
Eigentlich wollte Yara noch länger in ihrem Nachthemd in der Küche sitzen. Lina hingegen hatte sich schon auf dem Weg in die Schlafkammer das Nachthemd übergestreift und warf es in hohem Bogen auf ihr Bettchen. Dieses teilte sie sich mit ihrer Schwester. Es war eine große Holzkiste, die während des Tages problemlos unter das Erwachsenenbett geschoben wurde. Das war platzsparend und nicht unüblich in Häusern, die nur aus einer Wohnküche und einem kleinen Zimmer bestanden. Gleich neben der Küche befand sich eine kleine Tür, die zum Tierstall führte. So konnte man in extrem kalten und schneereichen Tagen die Tiere füttern und notfalls als Wärmespender in den Wohnraum holen. Auch dieses Jahr dauerte der Winter schon bis in den März hinein. Die kalte Winterluft legte sich an die Fensterscheiben und ließ so schöne Kristallblumen entstehen.
Mutter gab Schnee in einen Topf am Herd, damit dieser schmolz. Dann schüttete sie das Wasser in die Waschschüssel. So konnten sich Lina und Yara waschen und zogen danach ihre Überkleidchen an. Diese waren aus robustem Material und dienten als Schürzen, die an den oberen Rändern mit Rüschen verziert waren. Mutter ging durch die kleine Nebentür in den Stall. Dort setzte sie sich auf einen kleinen Holzschemel und begann die Kuh zu melken. „Sie hatte Glück und fand ein paar Eier.“ Aber die Hühner legten im Winter nie so viele. So war es wieder einmal vom Willen der Hühner abhängig, ob heute ein frischer Kuchen auf den Tisch kam, oder nicht.
„Soll ich dir deine Haare binden?“, fragte Yara ihre kleine Schwester. Gerne ließ sich Lina von Yara die Haare machen. Sie konnte stundenlang am Bettrand sitzen und sich frisieren lassen. Gekonnt band ihr Yara einen Zopf fixierte mit einer roten Schleife. Dann stellte sie sich zum Fenster und spiegelte sich darin. Ihre goldblonden Haare band sie heute zu einem hohen Zopf mit ihrer gelben Lieblingsschleife.
„Yara, komm, wir gehen in die Küche.“
Dort schüttete die Mutter die Milch in einen Topf. So wurde sie erhitzt und Keime wurden abgetötet. „Allmählich wird es Zeit, dass Vater nach Hause kommt“, dachte Mutter. Nachdem der Kuchenteig fertig angerührt war, gab ihn Mutter ins Backrohr. Die Mädchen durften danach die Teigschüssel ausschlecken, das bereitete ihnen große Freude.
„Können wir jetzt ins Freie?“, wollte Yara wissen. Lina ging schon zu ihren Fellstiefeln und schlüpfte hinein.
„Nur, wenn ihr euch nicht zu weit vom Haus entfernt“, antwortete Mutter. Sie band beiden Kindern den Wollschal um den Hals und half ihnen mit den Fäustlingen.
Warm angezogen verließen beide das Haus und stapften unbeschwert durch den frischen Schnee. „Komm, wir spielen Fische verkaufen“, schlug Yara vor. Lina nahm den Kübel, der neben dem Brunnen stand, und versuchte die Eisschicht herauszubekommen. Dazu griff sie nach einem Holzstecken und schlug damit auf die Eisschicht.



2

Noch weit entfernt, doch bedrohlich näherkommend, konnte man eine schwarze Bewegung am Horizont wahrnehmen, aber die beiden Mädchen achteten nicht darauf. In ihr Spiel vertieft, spürten Lina und Yara nicht, dass sie in Gefahr waren. Nur Mutter, die in der Küche aus dem Fenster sah, erstarrte, als sie zum Hügel hinaufblickte. Mit rasender Geschwindigkeit näherten sich Reiter Der Schnee dämpfte den Hufschlag, den die schweren Tiere ausübten. Yara vernahm etwas, hob ihr Gesicht und schaute Richtung Osten, doch die Sonne blendete sie und sie konnte nichts erkennen. Lina war noch mit ihren Fischen beschäftigt und hörte die Rufe ihrer Mutter nicht.
„Jemand kommt zu uns“, sagte Yara und ging den Besuchern entgegen. Doch nach den ersten Schritten stoppte sie. Schnee wurde aufgewirbelt und landete auf ihrem Gesicht. Die Sonne, die zuvor noch sehr hell und angenehm auf die Kinder geschienen hatte, wurde auf einmal vom Schneegestöber verdunkelt. „Lina“, rief Yara, instinktiv drehte sie sich um, nahm die Hand ihrer kleinen Schwester und begann Richtung Haus zu laufen. Mit den Stiefeln versanken die Mädchen tief in den neugefallenen Schnee. Das Laufen fiel ihnen schwer. Mutter öffnete gerade die Holztür und lief den Kindern entgegen. Lina hielt noch den Holzstab in der Hand, mit dem sie die Eisschicht bearbeitet hatte. Sie hatte keine Zeit, sich umzudrehen, denn ihre große Schwester lief schnell, mit großen Schritten und ohne Worte. Sofort erkannte Lina, dass es hierbei nicht um Spaß und Spiel ging, sondern Gefahr drohte. Die Rufe und der Gesichtsausdruck ihrer Mutter erschreckten die Kinder. Aber diese hatten keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Nur mehr ein Stück fehlte, dann hatten Lina und Yara ihre Mutter erreicht. Ihr Atem ging schnell. Mutter lief mit ihnen zum Haus zurück. Die sichere Tür war nur mehr ein Stück entfernt. Doch da hörten sie die schrecklichen Rufe und Laute, die von hinten zu ihnen drangen.
„Hinein“, rief Mutter und drückte die Tür hinter ihnen zu.
„Mama, wer sind diese Leute?“, wollte Yara wissen.
Plötzlich wurde es ruhig, der Lärm, den die Leute mit ihren schweren Pferden eben noch verursacht hatten, war nicht mehr zu hören. Lina kauerte sich mit Yara gegen den warmen Kachelofen, nur Mutter stand mit dem Rücken an die Holztür gelehnt erstarrt da. Die Morgensonne schien fröhlich durch die Scheiben und füllte die Küche mit warmem Licht. Der Schein trog, denn auf einmal hörte man schwere Schritte und ein lautes Klopfen an der Tür.
„Mama“, wimmerte Yara mit weit aufgerissenen Augen.
Die Tür war mit einem schweren Schieber verriegelt, doch wie lange sollte dieser standhalten, falls die Wilden dagegen drücken sollten? Mutter zeigte zur Stalltür,
dass die Mädchen sich schnell dorthin verstecken sollten. Das Klopfen wurde aufdringlicher. Gerade als die Mädchen geduckt Richtung Stalltür liefen, warf Lina beim Vorbeigehen einen Blick zum Fenster hinaus.
Dunkle Gestalten standen im Garten, mit großen schwarzen Pferden, deren Nüstern kalten Atem ausstießen. Nur lange, zottelige Haare, Felljacken, die so lang waren, dass sie weit bis zum Boden den Schnee berührten, konnte man erkennen. In diesem Augenblick erschien ein dunkles Gesicht beim Fenster und starrte in die Küche.
„Ahh“, rief Lina aus.
Yara, die sich umdrehte und auch das Gesicht beim Fenster erblickte, schrie: „Mama, da, beim Fenster!“, und zog ihre kleine Schwester weg vom Fenster.
Augen, die dunkelblau-lila strahlten, starrten durchs Fenster und suchten den Raum ab.
Da wurde das Pochen an der Tür aufdringlicher, sodass Mutter zur Seite wich. Die Kinder liefen in den Stall. Mit einem lauten Knall wurde die Tür aufgebrochen und landete am Fußboden in der Stube. Eng zusammengekauerte hatten sich Lina und Yara im Stall hinter der Tür versteckt. Die Tiere nahmen kaum Notiz von beiden. Sie waren es gewohnt, dass die Mädchen zu ihnen in den Stall kamen.
„Komm“, flüsterte Yara und zog ihre Schwester Richtung Außenluke. Diese führte ins Freie und war nur durch eine kleine Tür ins Freie zu erkennen. Geduckt liefen die Mädchen ins Freie hinter den Brunnen, der neben dem Haus stand. Dort hockten sich beide kurz hin und warteten. Dann deutete Yara Richtung Hecke, die das Grundstück umgab. „Bleib unten, ich schau, wo die Reiter sind.“ Yara hob vorsichtig ihren Kopf und blickte Richtung Haus. Nur die Pferde standen herum. Einige wurden gerade abgeladen. Yara konnte aber nicht erkennen, worum es sich dabei handelte.
„Mama …, wann kommt sie zu uns?“, wollte Lina wissen.
„Pst, sonst hört man uns.“ Doch eigentlich wollte Yara auch, dass ihre Mutter bei ihnen war. Stattdessen deutete Yara Lina, mit ihr zur Hecke zu laufen. Da die Reiter mit ihren Tieren beschäftigt waren, bemerkten sie nicht, dass die Mädchen im Garten waren. Mit ihren kleinen Füßen versanken Yara und Lina tief im Schnee, als sie bei der Hecke angekommen waren. Tränen standen in ihren Augen. Was würde jetzt geschehen?
Als sie durch die Hecke krochen, brach ein Ast so laut, dass die Reiter es hörten und sofort in Richtung der Mädchen schauten.
„Schnell“, rief Yara und versuchte Lina durch die Hecke zu ziehen. Denn nur sehr schwer gelang es, durch das dicht gewachsene, teils gefrorene Flechtwerk aus Ästen und Dornen durchzukommen. Doch die Reiter hatten sie schon entdeckt. Zwei von ihnen liefen durch den Schnee. Einer trug eine Augenbinde und auf seiner Wange konnte man eine große Narbe erkennen. Schon waren sie beinahe bei der Hecke angekommen. Yara zog so fest sie konnte, aber sie schaffte es nicht mehr rechtzeitig ihre kleine Schwester durch das Gestrüpp zu ziehen. „Nein“, schrie sie aus Leibeskräften, als die zwei Gestalten ihre kleine Schwester an den Beinen aus der Hecke zogen. Linas rote Haarschleife blieb im Gebüsch zurück. Yara selbst saß wie erstarrt auf der anderen Seite der Hecke, unfähig sich zu bewegen.
Doch da rief Lina: „Yara!“ Da erwachte Yara aus ihrer Starre und begann zu laufen, Tränen rannen ihr übers Gesicht, die kalte Winterluft schmerzte im Hals beim Atmen. Immer näher kam der Wald, den sie versuchte zu erreichen. So gerne wollte Yara zurücklaufen, Richtung Haus, zu ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester. Aber sie wusste, die Leute, die heute in ihr Haus gekommen waren, hatten nichts Gutes vor. Yara wollte ihren Vater finden. Nur er konnte alle retten. Als sie endlich die Waldlichtung erreichte, drehte Yara sich zum ersten Mal um. Keiner war ihr gefolgt. Nur die Geräusche, die vom Wald herkamen, waren zu hören. Ihr Herz raste, der Atem ging schwer. Tränen liefen unaufhaltsam über ihr Gesicht. Wie nur sollte sie ihren Vater finden? Angst überfiel Yara, noch nie war sie alleine im Wald gewesen. Oft hatte ihr Vater sie begleitet und alles gezeigt, Bäume benannt, Tierarten erklärt und worauf man achten musste, wenn man im Wald ein Lagerfeuer anzündete. Doch wie sollte sie alleine im Wald den richtigen Weg finden? Nach einiger Zeit aber begriff Yara, dass sie sich auf den Weg machen musste. Egal, ob sie den richtigen einschlagen würde oder nicht. Sie musste es versuchen und ihren Vater finden. Nur dann würde wieder alles gut und ihre Familie wieder zusammen sein.
5 Sterne
Mitten drinn - 22.11.2016
M.Stix

....die Erzählweise entführt mich in die Geschichte ...

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