Erlebte Schule - Opfer und Täter

Erlebte Schule - Opfer und Täter

Ein Leben als Schüler, Lehrer und Schulleiter

Josef Rothwein


EUR 15,90
EUR 9,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 194
ISBN: 978-3-99048-592-7
Erscheinungsdatum: 26.09.2016
Die Berufsbiografie eines Schülers, Lehrers und Schulleiters. Die Entwicklung bzw. Nichtentwicklung der Schule findet sich darin ebenso wie Vorschläge für anstehende Innovationen in der Unterrichtsgestaltung und Organisation des österreichischen Schulwesens.
Erste interessierte Hinwendung zur Philosophie, daraus resultierende Reflexion meiner Unterrichtstätigkeit in den anfänglichen Berufsjahren sowie erste Versuche alternativer Unterrichtsgestaltung

Zu diesem Kapitel sind einige Vorbemerkungen vonnöten. Im Rahmen der obligaten Tagungen aller Pflichtschulleiter referierte der neue Bezirksschulinspektor (in Deutschland „Schulrat“ genannt) einleitend immer über ein philosophisch relevantes Thema, u. a. auch über Herbert Marcuse und dessen Ruf nach „totalem Protest“ und der „großen Weigerung“. Diese und andere radikale linke Ideen waren maßgebliche Initialzündungen der revolutionären 68-Bewegung. Auch die von Max Horkheimer und Jürgen Habermas, wie Herbert Marcuse Mitbegründer der sogenannten Frankfurter Schule, verfassten Programmschriften propagierten die Aufhebung des „gesellschaftlichen Unrechts“. Die Anführer der studentischen Unruhen beriefen sich auf die genannten Philosophen, zu denen auch noch Theodor W. Adorno gehörte. Die aus der „Kritischen Theorie“ (… der Gesellschaft) von radikalen Gruppen abgeleitete und darauf folgende tragische revolutionäre Praxis – es wurden Vertreter des gesellschaftlichen Establishments kaltblütig ermordet – wurde von keinem der erwähnten Vordenker gebilligt. (Störig, Hans Joachim, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, 1987, 631ff.) Lediglich Marcuse legitimierte die Anwendung von Gewalt gegenüber der Obrigkeit als Befreiungsakt bei fortwährender Unterdrückung.
Dieser erste Funke philosophischen Denkens entzündete in mir ein Flächenfeuer. Fördernd war noch der glückliche Umstand, dass mein ältester Sohn neben Mathematik als erstes Lehramtsfach noch Philosophie, Psychologie und Pädagogik studierte. Fortan besuchte ich mit ihm zusammen vier Semester lang alle Vorlesungen in Philosophie, soweit diese an Nachmittagen und Abenden stattfanden, was auch überwiegend der Fall war. Wenn er mit mir danach auf ein Bier in ein Gasthaus in Universitätsnähe einkehrte und wir anschließend gemeinsam nach Hause fuhren, diskutierten wir ausgiebig das auf der Hochschule Gehörte.
Besonders hellhörig wurde ich bei den Vorlesungen, wenn es um Erkenntnistheorien ging, da ich als Volksschullehrer aus den Vorträgen auch etwas für die Unterrichtspraxis mitnehmen wollte.
Wir lernten in unserer Ausbildung zum Volksschullehrer ausschließlich induktiv. Die Induktion als wissenschaftliche Methode, welche vom Einzelnen auf das Allgemeine schließt, war für unseren Pädagogikprofessor in Anlehnung an Konrad Meister das unumstößliche Kredo eines zielführenden Lernens. Deswegen stand er auch felsenfest auf Seiten der Vertreter des synthetischen Erstleseunterrichts - Zusammenfügung von Einzelteilen zu einem Ganzen – und somit auch im Gegensatz zur von einigen sich fortschrittlich nennenden Übungsschullehrern bevorzugten und mit Zähnen und Klauen verteidigten ganzheitlichen Leselernmethode, welche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts „in“ war.
Auch ich war überzeugter Vertreter des induktiven Lernens und unterrichtete auch dementsprechend. Vor allem um dem im Lehrplan verankerten didaktischen Grundsatz der „Anschauung“ gerecht zu werden und unter penibler Beachtung der Formalstufen, wie sie verschiedene berufene Mustermethodiker in ihren Methodikbüchern oder diversen einschlägigen Zeitschriften immer wieder veröffentlichten. Inhaltlich gab es zwischen den diversen Theorien allerdings nur marginale Differenzen; sie unterschieden sich quasi lediglich in der verwendeten Terminologie.
„Alles möglichst allen Sinnen“ (John Locke, 1632-1704) war die unumstößliche Maxime eines erfolgreichen Unterrichts. Der englische Philosoph John Locke war wohl der Hauptvertreter des bis heute überwiegend gepflegten Empirismus, welcher als Quelle jedweder Erkenntnis nur die Sinneserfahrung, also die Beobachtung und das Experiment, gelten lässt.
Die Qualität unseres Unterrichtes wurde an der Quantität des angeschleppten, alle Sinne der Schüler ansprechenden Anschauungsmaterials bewertet. Dazu gehörten sowohl die natürlichen (Blumen, Früchte, Kleintiere etc.), aber auch alle im blühenden Lehrmittelhandel erhältlichen Hilfsmittel wie Bilder, Exponate, Tabellen usw. Da als weiteres Gebot auch das ganzheitliche Unterrichtsprinzip galt und noch immer gilt, trug ein mir bekannter Lehrer für den Mathematikunterricht sogar einen Zentner Kohle (100 kg in Österreich, 50 kg in Deutschland) in Säcken in die Klasse, als er im Rahmen des Wochenthemas „Der Winter ist da“ die Gewichtsmaße lehrte. Außerdem wollte er auch dem didaktischen Grundsatz der Anschauung gerecht werden. Drei je etwa 30 kg wiegende Schüler auf eine Personenwaage gestellt hätte das vorgesehene Lernziel ebenso erreicht. Eine Lehrerin musste bei einem Lehrauftritt im Rahmen des Themas „Allerheiligen“ gymnastische Übungen im Turnunterricht in Erfüllung des Ganzheitsprinzips verbal folgendermaßen einleiten:
„Jetzt bücken wir uns und zünden eine Kerze an.“ Oder: „Wir knien nieder und beten für die Verstorbenen.“ Darauf folgend: „Wir stehen auf, putzen mit den Händen die Knie ab und schütteln die Beine aus.“ Das Balancieren über die Unterseite der Langbank wurde mit der Aufforderung eingeleitet: „Wir gehen vorsichtig über die Grabumrandung und versuchen, nicht auf das frisch bepflanzte Beet zu treten.“
Ich war nie bereit, solchen Unsinn mitzumachen, weder während der Ausbildung noch später im Berufsleben. Ich erwähnte diese Beispiele auch nur deshalb, um zu demonstrieren, welche Auswüchse methodische Praktiken damals angenommen hatten, induziert durch eine Ausbildung, die kaum Individualität und Kreativität in der Unterrichtsgestaltung zuließ. Auch die Beurteilung der Lehrer durch die traditionell ebenso ausgebildeten Schulleiter und Schulaufsichtsorgane fußte auf den genannten Maximen und wurde durch diese begründet. Die Induktion als Unterrichtsform in Verbindung mit den gesetzlich verankerten didaktischen Grundsätzen und später noch zusätzlich eingeführten fächerübergreifenden Unterrichtsprinzipien wie Medienerziehung, Literaturerziehung, Sexualerziehung, Gesundheitserziehung etc. war unumstrittene Unterrichtspraxis und ist auch heute noch Usus, vor allem in den zur Matura führenden höheren Schulen.
Die meisten Lehrer - in den höheren Schulen sowohl als pragmatisierte als auch als Vertragslehrer mit dem Titel „Professor“ angesprochen - unterrichteten in meiner Schulzeit und tun dies auch heute noch großteils im vortragenden Frontalunterricht. Dabei lesen sie oft nur aus Manuskripten oder Büchern vor und erklären hin und wieder Sachverhalte. Eruiert wird dann das (Nicht-)Wissen und (Nicht-)Können der Schüler durch mündliche Prüfungen, Tests und Schularbeiten. Dass noch andere Formen der Leistungsfeststellung wie die Mitarbeit der Schüler und das Einbringen eigener Ideen in den Unterricht gesetzlich vorgeschrieben sind, wird von kaum einem Lehrer in der Beurteilung berücksichtigt, da das Diktat der quantitativen Stoffvermittlung die gesamte Unterrichtszeit in Anspruch nimmt. Für die Wiederholung und Festigung bleibt kaum noch Zeit übrig. Das müssen die Schüler neben den schriftlichen Hausübungen selbst erledigen. Dabei setzen vor allem Pflichtschullehrer sehr häufig die Mithilfe der Eltern in fachlicher Hinsicht voraus und erwarten sogar methodische Kenntnisse. Dass beide Elternteile oder Alleinerziehende oft aus beruflichen Gründen zeitlich überfordert sein könnten, wird nicht selten ignoriert. Die Induktion als Lernform begünstigt diese Praktiken; vor allem den bequemeren Frontalunterricht.
Wenden wir uns wieder den Lehrformen und Methoden des Lernens zu: Ich wurde in der Schule ausschließlich induktiv unterrichtet, wobei im wirklichen Leben, wie ich später laufend erfahren sollte, wirklich verstehendes, nachhaltiges Lernen überwiegend deduktiv erfolgt. Doch dies wurde mir erst bewusst, als ich mich - durch das Interesse an der Philosophie angeregt - mit dem Werk Sir Karl Raimund Poppers und dessen Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, veröffentlicht im Buch „Objektive Erkenntnis“, zu beschäftigen begann. Ich benütze für diese kurze rudimentäre Erörterung des von Popper aufgeworfenen Erkenntnisproblems bzw. seiner Theorie über „Lernen ohne Induktion“ die Ausführungen (teils nur inhaltlich, teils wörtlich) aus Hans Joachim Störig „Kleine Weltgeschichte der Philosophie“ (Fischer, Frankfurt am Main 1987) bzw. im Original zitiert aus Karl R. Popper „Ausgangspunkte. Meine intellektuelle Entwicklung.“(Hoffmann und Campe, Hamburg 1982)
Im 10. Kapitel (S. 56ff) seiner „Ausgangspunkte“ befasst sich Popper unter dem Titel „Ein zweiter Exkurs: Dogmatisches und kritisches Denken. Lernen ohne Induktion“ mit den Problemen wirklicher und nachhaltiger Erkenntnis und leitet ein mit der überaus wichtigen Theorie des österreichischen Nobelpreisträgers Konrad Lorenz auf dem Gebiet der tierischen Verhaltungsforschung, welche dieser „Prägung“ nennt. Daraus sei eine signifikante These zitiert.
„Der Lernprozess hängt nicht von Wiederholungen ab, obwohl er eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt und die Aktivität des Organismus oft eine gewisse Anstrengung erfordert. (Die Theorie des nicht auf Wiederholung beruhenden Lernens kann als selektiv oder darwinistisch bezeichnet werden, während die Theorie des induktiven oder repetierenden Lernens eine Theorie des instruktiven Lernens ist.)“
Obwohl Popper Konrad Lorenz zwar flüchtig, aber ursprünglich in keiner Weise dessen Prägungstheorie gekannt hatte, war sie doch vager Inhalt einer ähnlichen Vermutung, was er wie folgt beschreibt:
„Ich sah diese Methode der Bildung von Theorien als eine Methode des Lernens auf Grund von Versuch und Irrtum an. Wesentlich ist, dass jeder der verschiedenen Versuche eine Theorie (eine Erwartung, eine Vermutung) ist … So meine ich nicht einen zufallsartigen Versuch.“
Und weiter:
„Es ist nicht der Versuch, sondern nur die kritische Methode der Ausmerzung der Fehler, die uns n a c h dem Versuch erkennen lässt, ob er ein Treffer war oder nicht; das heißt, ob er einigermaßen erfolgreich war, das unmittelbare Problem zu lösen …“
Popper unterscheidet demnach zwischen drei wichtigen Lernprozessen, von denen er den ersten als grundlegend betrachtete:
1. Lernen im Sinne der Entdeckung von Regelmäßigkeiten: (dogmatische) Aufstellung von Theorien oder Erwartungen oder von regelmäßigem Verhalten, kontrolliert durch (kritische) Ausschaltung von Fehlern.
2. Lernen durch Nachahmung.
3. Lernen durch „Wiederholung“ oder durch „Übung“.

Ich möchte mich nicht eingehend mit der Erkenntnistheorie von Poppers „Lernen ohne Induktion“ beschäftigen. Als ich aber zum ersten Mal damit konfrontiert wurde, stellte ich nur verwundert fest, dass diese sowohl in meiner Ausbildung als auch noch Jahrzehnte lang in den Lehrplänen ignoriert wurde. Kein einziger meiner mit Pädagogik befassten Lehrer nannte jemals den Namen Popper. Erst in den Neunzigerjahren wurden als „alternative Lernformen“ der „problemorientierte Unterricht“ und der „Projektunterricht“ in den Lehrplan aufgenommen.
Das in meiner Schulzeit praktizierte Lernen durch Induktion ließ keine Fehler zu. Sämtliche schulischen Tätigkeiten sollten möglichst fehlerfrei vonstatten gehen. Das galt sowohl für die formale Sprache als auch für die Inhalte, für die schriftlichen Arbeiten, aber auch für kreative und körperliche Tätigkeiten. Ich kann also zumindest von mir sagen, dass der Unterricht und die daraus resultierenden Leistungsfeststellungen ausschließlich auf die Vermeidung von Fehlern bzw. zur Befriedung und auf den subjektiven Geschmack der Lehrenden (z. B. Aufsatzinhalte oder bildnerische Arbeiten) ausgerichtet waren. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass meine bildnerischen Produkte jemals eine explizite Anerkennung bei meinem Zeichenlehrer fanden. Er gab mir als Note immer kommentarlos ein Befriedigend – eine schlechtere gab es bei ihm sowieso nicht – und ich war, wie aus dem Zensurbegriff herauszulesen ist, damit zufrieden.
Eine mögliche Alternative zum Lernen durch Induktion hatte mein Interesse erweckt und ich begann in meinem Unterricht damit, fallweise komplexe Probleme in den Raum zu stellen. Den ersten Versuch startete ich in einer vierten Klasse und das Problem hieß „Skiurlaub einer vierköpfigen Familie“. Ein Ehepaar mit zwei schulpflichtigen Kindern möchte einen Skiurlaub in Österreich verbringen und hat dafür ein bestimmtes Budget zur Verfügung. Die Ausrüstung setzten wir als vorhanden voraus, es ging ausschließlich um die Aufenthaltsart (Vollpension, Halbpension, Frühstückspension) und um den Aufenthaltsort sowie alle notwendigen und gegebenenfalls zusätzlichen Ausgaben an Ort und Stelle wie z. B. die Liftbenützungskosten. Die Kinder sollten nun unter Berücksichtigung der vorgegebenen finanziellen Mittel eine Wintersportwoche mit ihrer Familie planen.
Ursprünglich wollte ich den Schülern die einschlägigen Prospekte selbst zur Verfügung stellen. Doch nicht einmal das tat ich, sondern ich überließ ihnen auch alle Organisationsarbeiten, welche zur Lösung des Problems nötig waren. Als Sozialform wählte ich die Partnerarbeit, d. h. jeweils zwei Schüler bearbeiteten gemeinsam die gestellte Aufgabe für ihre Familie. Da es damals noch keine Mobiltelefone (Handys) und auch kein Internet gab, stellte ich allen das Schultelefon zur Verfügung, sodass sie bei den Fremdenverkehrsverbänden der Skiorte oder auch bei diversen Reisebüros das nötige Werbematerial inklusive Preislisten anfordern konnten, welches innerhalb weniger Tage zuhauf eintraf. Ich war erstaunt, aber nicht überrascht von der begeisterten Betriebsamkeit, mit welcher alle an die Arbeit herangingen und passable Lösungen fanden. Einige machten mit ihren Eltern sogar einen Sonntagsausflug zum gewählten Ziel, um sich an Ort und Stelle noch genauer zu informieren. Gut ein Jahrzehnt später war alles viel einfacher, da für die Schüler bereits genügend Computer mit Internetanschluss bereitstanden.
Da ich im Bezirk Referent für Mathematikmethodik und damit auch Mitglied der Landesarbeitsgemeinschaft für Mathematik war, stellte ich diese mannigfaltige Problemstellungen beinhaltende Lernform auch im Rahmen von Lehrerfortbildungsveranstaltungen vor. Das Echo darauf und die Akzeptanz waren, wie zu erwarten, unterschiedlich: von begeisterter Zustimmung bis zur strikten Ablehnung. In den Köpfen der meisten Lehrer war noch der an der praktischen Anwendung orientierte pragmatische Rechenunterricht existent: Zuerst wurden die Grundrechenoperationen vermittelt, dann wurden sie im sogenannten Sachrechnen angewendet, wobei die Problemstellung immer eng gefasst und eindeutig war. Spekulieren, Raten, Überschlagen, Probieren, Schätzen oder Suchen anderer Lösungswege durch die Schüler waren verpönt, da sie für die Lehrer zu viele Fehlerquellen beinhalteten und auch zu zeitaufwendig erschienen. Außerdem hatten viele mit dem erhöhten Lärmpegel, welcher die gemeinsame Arbeit mehrerer Schüler naturgemäß verursachte, keine Freude.
Selbstverständlich musste auch bei mir jeder Schüler die Grundrechnungsoperationen beherrschen. Aber auch hier gab es vom Lehrer initiierte methodische Möglichkeiten, die Ergebnisse nach dem von Popper vertretenen Prinzip trial and error (Versuch und Irrtum) durch die Schüler mehr oder weniger selbst entdecken zu lassen.
Dass es durchaus denkbar und möglich ist, solche Lösungswege wirklich selbst zu finden, möge das im Folgenden geschilderte Erlebnis zeigen. Wir waren drei Freunde, welche in unmittelbarer Nachbarschaft im Dorf lebten und auch dieselbe, nämlich die zweite Volksschulklasse, besuchten. An einem lauen Frühlingssonntag heiratete die Tochter der Nachbarsbauersleute, und das war Anlass, nach den damaligen Bräuchen von der gesamten Bevölkerung entsprechend ausgiebig gefeiert zu werden. Natürlich waren alle Dorfbewohner auf den Beinen und trugen das Ihre zur Festtagsfreude bei.
Für uns Kinder war so ein Ereignis die seltene Gelegenheit, das Taschengeld aufzufetten, indem wir vor alle mit grünem Reisig geschmückten offenen Pferdekutschen ein Hanfseil spannten. Zwei von uns hielten dabei die Tauenden, während einer sich die Weiterfahrt durch einen entsprechenden Obolus abgelten ließ. Dabei kam einiges an Münzgeld zusammen: Doppelschillinge, Einschillingstücke, die Fünfzigergroschenmünzen, aber auch die silbrig glänzenden Zehngroschenstücke. Mit den armseligen grauen Fünf-, Zwei- oder gar Eingroschenmünzen hatten wir verständlicherweise keine allzu große Freude, doch auch diese ergaben, wie sich später herausstellen sollte, eine erkleckliche Summe, denn auch Kleinvieh macht Mist. Nachdem der lange Wagenkonvoi vorbeigezogen war und die Insassen ihre fällige Maut erstattet hatten, wurde von uns dreien die zu unserer vollsten Zufriedenheit ausgefallene Geldsumme eruiert. Dabei wurden aus den jeweils gleichen Münzen Türme aufgestapelt, je Turm die Stückzahl festgestellt, um daraus die Gesamtsumme zu bestimmen. Das konnten wir durch den täglichen Umgang mit Geld ja schon recht gut. Doch unser großes Problem bestand darin, das Geld unter uns dreien gerecht aufzuteilen.
Wir saßen auf einem trockenen, ebenen Wegstück und vor uns standen die Münztürme. Doch das Dividieren, das Teilen des Betrages in drei gleichmächtige Mengen, wie es später mathematisch korrekt heißen sollte, hatten wir noch nicht gelernt. Das Erlernen der vier schriftlichen Grundoperationen Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren und das besonders schwierige Dividieren waren und sind auch heute erst das Unterrichtsziel der dritten Klasse. Meine beiden Freunde meinten, wir sollten das Geld am besten von unseren Eltern aufteilen lassen. Diese Idee war mir ganz und gar nicht sympathisch, denn als bester Schüler der Klasse wollte dies mein Ehrgeiz nicht zulassen. Außerdem wollte ich verhindern, dass meine Mutter erfuhr, wie viel Geld durch unsere Aktion zusätzlich in meine Taschen geflossen war.
Da hatte ich aus heiterem Himmel einen Geistesblitz: Ich teilte jedem von uns so oft einen Doppelschilling zu, bis jeder gleich viele hatte. Einer blieb übrig, und der sollte noch zu einem Problem werden. Den legte ich vorerst auf die Seite. Dann kamen die Einschillingstücke an die Reihe; von diesen blieb keines zurück. So wurden jedem nach und nach alle Münzen zu gleich vielen Stücken zugeteilt. Doch nicht bei allen gleichen Münzen gelang dies, ohne dass ein ärgerlicher Restposten geblieben wäre. Vor allem der verwaiste Doppelschilling war das Problem. Denn darauf einfach zu verzichten, so weit war es mit unserer Freundschaft auch nicht her, und irgendwo in unseren Köpfen saß bereits der alte Römerspruch „pecunia non olet“ (Geld stinkt nicht). Da kam mir wahrscheinlich auch wieder von oben herab die erlösende Erleuchtung, quasi ein zweiter Geistesblitz. Ich sah nämlich, dass ebenfalls zwei Fünfziggroschenmünzen im Restkuchen geblieben waren, tauschte von meinem Anteil den Problem-Doppelschilling in vier Fünfzigergroschen um und legte diese dort dazu. Jetzt hatten wir sechs „Fünfzigerl“ und diese konnten problemlos gerecht zugeteilt werden. Da nun einmal der Stein der Weisen entdeckt war, war die Zuteilung der verbliebenen Groschenrestposten kein Problem mehr. Ein einzelnes Eingroschenstück blieb zu unserem Leidwesen noch unverteilt und dafür fiel auch mir keine Lösung ein. Nachdem auf Wunsch meiner beiden Klassenkameraden – ganz trauten sie meinem Verteilungssystem nicht – mein zu Rate geholter Onkel die gerechte Aufteilung unseres schwer verdienten Lohnes bestätigt hatte, riet er uns, den verbliebenen Groschen bei der nächsten Sonntagskollekte in der Kirche in den Klingelbeutel zu werfen.
Wieso gerade mir so spontan dieser Lösungsweg des Teilungsproblems in gleichmächtige Mengen eingefallen war, kann ich nicht erklären. Möglicherweise hatte sich in mir irgendwann einmal so etwas wie ein mathematisches Grundverständnis entwickelt. Die meisten Kinder werden im Laufe ihres Entwicklungsprozesses bereits im Vorschulalter immer wieder mit mathematischen Problemen konfrontiert, welche sie hantierend lösen lernen. Wir hatten in unserer Kindheit noch keine Lernspiele, wie sie heute in Mengen durch die Spielzeugindustrie angeboten werden. Außerdem gab es auf dem Land noch lange nach dem Krieg keine Kindergärten. Unsere beliebtesten Spiele in der Vorschulzeit waren das „Kreuzerpecken“ und das „Kugerlzwicken“.
Aufgabe der Schule ist es, Spielsituationen zu schaffen – auch Unterricht genannt -, diese in geplante Bahnen zu lenken und so mathematisches Grunddenken zu fördern. Schon der Schweizer Erkenntnistheoretiker Hans Aebli stellte in seinem Werk „Der handlungsorientierte Mathematikunterricht“ fest, dass jeder mathematischen Grundoperation eine entsprechende Handlung vorausgegangen sein sollte. Er setzte damit die Erkenntnisse von Jean Piaget um, welcher drei Stadien der Entwicklung des mathematischen Denkens formulierte:
- präoperatives Stadium (2. bis 6. Lebensjahr)
- Stadium konkreter Operationen
- Stadium formaler Operationen
5 Sterne
Das Schwarzbuch des österreichischen Schulwesens - 25.02.2022
Manfred Hold

Wie der Autor als Schüler und als Lehrer mit den pädagogischen Unzulänglichkeitenzu kämpfen hatte und welche Lehren er daraus für die noch ausstehenden Reformen des Schulsystems gezogen hat, sind in diesem Buch aufgezeichnet.Für alle die im Schulwesen Verantwortung tragen als Pflichtlektüre empfohlen.

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