Ein Tag zum Kotzen ...

Ein Tag zum Kotzen ...

Das Leben einer Essgestörten

Nadja Schilling


EUR 13,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 84
ISBN: 978-3-95840-120-4
Erscheinungsdatum: 26.04.2016

Kundenbewertungen:

5 Sterne
Klasse - 06.05.2016
Brigitte Schilling

Der Verlauf der Krankheit wird sehr gut beschrieben, es ist toll zu lesen, hoffe Fortsetzung über das weitere Leben folgt

1

Lächeln aufsetzen, freundlich sein, so beginnt jeder meiner Arbeitstage. Mein Beruf verlangt das von mir, auch wenn mir manchmal nicht danach ist. Zigaretten und Cappuccino halten mich an meinen Arbeitstagen mal wieder über Wasser. Ich bin so froh, dass ich heute so viel zu tun habe, denn dann muss ich nicht pausenlos ans Essen denken. Die Arbeit lenkt mich ab, trotzdem ist es jeden Tag ein Kampf, mich auf den Beinen zu halten, aber der Cappuccino ist eine gute Grundlage für den Tag, denke ich. Nach dem Cappuccino fühle ich mich, als hätte ich eine ganze Pizza verdrückt, „Mh … Pizza, lecker und dazu einen Salat mit Pizzabrot!“ Diese Gedanken kommen dann, wenn ich nichts zu tun habe und die Langeweile aufkommt. Manchmal denke ich mir: Allein dieser Gedanke ist schon krank, denn nach dieser Mahlzeit wäre ein gestandener Mann schon satt. Sehr schnell ist der Pizzagedanke verschwunden, denn mittlerweile denke ich darüber nach, was es bei mir nach der Arbeit zu Essen gibt. Hauptsache fettig und ganz viel davon. Es ist Mittag und der natürliche Rhythmus im Körper lässt meinen Magen knurren, aber es wird nichts zu essen geben, noch nicht. Auf der Arbeit verbiete ich mir das Essen, denn ich will nicht noch dicker werden. Zudem muss ja auch nicht jeder mitbekommen, dass ich nach den Mahlzeiten auf die Toilette renne und alles wieder auskotze. Es gibt zu Mittag eben nur einen Cappuccino und eine Zigarette. Meine Kollegen schmeißen mir komische Blicke zu, denn eigentlich sollte ich wie sie ein Brötchen essen. Eigentlich hatte ich das heute Morgen ja auch noch vor, wenigstens ein Brötchen zu kaufen und das über den Tag verteilt zu essen. Endlich ist ein weiterer Arbeitstag geschafft, es ist halb 7, und ich habe endlich Feierabend. Adrenalin pur, denn es gibt so viele leckere Sachen. Ich stehe vor einem Regal im Supermarkt: Schokolade, Kekse, Riegel und vieles mehr. Ich greife nach allem, worauf ich Lust habe. Oh, mein Gott, davon kann sich eine vierköpfige Familie mindestens eine Woche über Wasser halten. Weiter geht es zu den herzhaften Dingen. Heute wird es doch keine Pizza, die gibt es ein anderes Mal. Nach dem Stöbern in den Regalen bleibe ich bei Pommes, Schnitzel und Fertignudeln stehen. Ihr habt richtig gehört, das steht dann heute auf dem Plan. An der Kasse merke ich, dass ich für eine ganze Familie eingekauft habe. Auf dem Weg nach Hause bekomme ich ein schlechtes Gewissen und die Schamröte steigt mir ins Gesicht. Hoffentlich war keiner im Supermarkt, der mich kennt. Zu Hause angekommen, schließe ich die Tür und bin in meiner ganz eigenen Welt. Eine Welt für mich allein, von der kein anderer etwas weiß.



2

Mir ist alles egal, außer das Essen, das ich eingekauft habe. Die reichliche Auswahl der Lebensmittel lässt mich erst zu den Nudeln greifen. Mein Gott, wie in einem Supermarkt. Die Nudeln sind schneller fertig als die Pommes und die vier Schnitzel, deswegen erst die Nudeln, es muss ja schnell gehen. In der Zeit, in der ich in meiner eigenen Welt bin, ist alles genau geplant und organisiert, alles in allem dauert es etwa zwei Stunden. Das Kochen, Essen und Kotzen. Spontanen Besuch gibt es in der Zeit nicht, denn der würde mir ja bei meinem Fressanfall dazwischenfunken. Falls es doch mal an der Tür klingelt, mach ich einfach nicht auf, aber das kommt eher selten vor. Dabei sehne ich mich so sehr nach Kontakt zu Menschen, nach der Nähe lieb gewonnener Personen, ich möchte nicht mehr jeden Abend allein auf der Couch sitzen. Falls doch mal jemand bei mir auf der Couch sitzt, halte ich das nicht aus und fühle mich unwohl. Bevor mir dieser Mensch zu nahe kommen kann, mache ich lieber dicht und breche den Kontakt ab. Knallhart und dennoch widersprüchlich. Ich will nie wieder verletzt werden, denn in der Vergangenheit sind genug Freunde und Bekannte gekommen und gegangen. Die Gedanken sind wieder bei dem zubereiteten Essen, bei dem Hineinschlingen der Lebensmittel fühle ich mich großartig. Ich habe über etwas in meinem Leben die Kontrolle, und die kann mir keiner nehmen, herrlich. Das schlechte Gewissen ist nicht weit weg, nachdem ich das fünfte Mal über der Kloschüssel hänge, ist das schlechte Gewissen da. Es drängt sich förmlich zwischen das Essen und mich, deswegen bin ich trotz kotzen voll bis oben hin. So viel Essen, viel Geld, das im Klo liegt. Egal, es war gut und hat mir wieder mal gezeigt, dass ich die Kontrolle behalten kann. Jetzt ruft meine Couch und mein TV. Die zwei Stunden sind sehr anstrengend körperlich, aber auch seelisch, ich starre erschöpft in den Fernseher. Konzentrieren, was in der Glotze läuft, funktioniert nicht so wirklich, aber Hauptsache, es redet jemand mit mir und ich habe nicht das Gefühl, allein daheim zu sein. Auf der Couch merke ich, wie leer mein Bauch, aber auch meine Seele ist, ich fühle nichts mehr. Was ist das? Totale emotionale Leere. Die Scham, das schlechte Gewissen, die zwei Dinge, die eben noch da waren, sind verschwunden, wie weggeblasen. Zeit, ins Bett zu gehen, dass ich von mir selber nicht mehr so viel mitbekomme.



3

Der nächste Tag beginnt wie jeder andere auch, nur heute fällt es mir ein bisschen schwerer als sonst. Der Abend war sehr anstrengend und hat mir mal wieder die Kräfte geraubt. Am liebsten würde ich mir die Decke über den Kopf ziehen und einfach nur liegen bleiben. Den Tag einfach regungslos im Bett verbringen, denn der wird sowieso mies. Trotz allem ist aufstehen angesagt, denn die tägliche Pflicht ruft.
In der Zeit, in der ich mein Make-up auftrage, denk ich mir, „Ach, scheiß drauf, heute noch mal wie gestern.“ Das Lachen auf der Arbeit, das Freundlichsein fällt mir heute extrem schwer, aber es muss sein, auch wenn es anstrengend ist. In meiner kurzen Pause starre ich wortlos aus dem Fenster, denn das Reden nervt und macht müde. Es ist aber auch egal, ob ich etwas sage oder nicht, es interessiert sowieso niemanden. Das, was ich zu sagen habe, wäre so viel. Ich würde gerne mal laut schreien, einfach laut werden und aus der Haut fahren. Nur: Ein „perfektes“ Mädchen schreit nicht, sondern ist ganz artig. Das liebe Mädchen gibt keine Widerworte, vertritt nicht die eigene Meinung, sondern plappert alles nach. Sie macht alles, was man ihr sagt, weil sie niemanden verletzen will.
Ich gehe jeder Konfrontation aus dem Weg. Halb sieben, und die Arbeit ist wieder mal geschafft. Heute bin ich zu müde zum Kotzen, das heißt, es gibt gar nichts zu essen. Das Bett ruft zum frühen Schlafengehen, damit ich morgen vielleicht etwas fitter bin. Obohl der Magen knurrt, gehe ich nach einem heißen Bad in mein Bett, es ist kalt und ich friere mich in den Schlaf. All das sind Dinge, auf die ich mich schon eingestellt habe. Frieren ist normal, der Stoffwechsel fährt runter, und somit ist es einfach nur kalt. Die Füße werden blau und kalt. Im Bett komme ich einfach nicht zur Ruhe. Aber Schlafstörungen kenne ich, und sie gehören zum täglichen Ablauf. Also stehe ich noch mal auf und setze mich mit einer Zigarette auf die Fensterbank und schaue in den sternenklaren Himmel. Es ist ein Scheiß-Gefühl, wieder mal allein zu sein. Ich könnte heulen. Es wird nicht geheult, ich bin stark, und starke Mädchen weinen nicht. Ich denke wieder mal an den einen jungen Mann, bei dem ich ab und an mal Nähe zulassen und spüren darf. Es beruhigt mich ein bisschen, wenn ich an seine Nähe denke und natürlich an ihn. Männer interessieren sich meistens für das weibliche Geschlecht, wenn es um Sex geht. So bin ich auch nur ein Objekt für den jungen Mann. Denn bei ihm konnte ich mich öffnen, was meine Krankheit betrifft, und das macht die Sache Sex um einiges leichter. Ich habe gehofft, es wäre anders mit ihm, denn ich möchte doch nur jemanden an meiner Seite haben. Jemanden bei mir haben, der mich liebt, so, wie ich bin. Ich möchte nicht immer so tun, als würde es mir gut gehen. Denn es geht mir nicht immer gut, wie es bei jedem normalen Menschen auch ist. Wieder liege ich im Bett, bekomme ein Gefühl von Stolz, was mich zum Lächeln bringt. Ich habe es geschafft, nicht zu kotzen und nicht zu essen. Endlich schlafe ich irgendwann mal ein, denn der Wecker klingelt morgen früh trotzdem wieder. Meine Augen gehen auf und mein Blick geht zur Uhr, ganze zwei Stunden geschlafen. Jippiiiiii! Vier Stunden habe ich noch, dann klingelt der Scheiß-Wecker wieder. Was für ein Mist. Nach einer halben Stunde rumwälzen geht dasselbe Spiel wie vor zwei Stunden wieder los. Aufstehen und eine Kippe anmachen. Im TV läuft um die Uhrzeit auch nichts Gutes, dass weiß ich aus Erfahrung. Denn die blöde Schlaferei oder auch Nicht-Schlaferei läuft immer so ab. Die Dunkelheit ist schon etwas Tolles. In der Dunkelheit ist alles gleich, keine Unstimmigkeiten. Schön wäre das natürlich auch im wahren Leben. Jeder und alles sind gleich, keine Unstimmigkeiten, wodurch es Konflikte gibt. Alle Gedanken sind gleich und kein Verstellen, um meinem Gegenüber zu gefallen und schön Wetter zu machen. Es ist nicht so, aber warum bin ich dann noch hier, wenn ich mich nur verstellen muss?
Was mache ich falsch? Was ist an mir falsch? Woran liegt es, das ich allein bin? Was oder wer bin ich? Wo sind meine Freunde, wenn ich sie brauche? Es würde keinen interessieren, wenn ich nicht mehr da wäre, oder? Herausfinden kann ich das ganz leicht.
Wie stelle ich das am Geschicktesten an? Mit dem Auto gegen einen Baum oder doch Tabletten? Schwere Fragen und schwere Entscheidungen, die ich da treffen muss. Die Entscheidung kann ja nicht so schwer sein. Das haben ja auch schon andere vor mir geschafft.



4

Heute ist Wochenende und ein für mich guter Tag. Was stelle ich heute bloß an? Ich hätte heute wirklich mal Lust zum Feiern und Ausgehen. Nach dem Einkaufen mal schauen, wer Lust und Zeit hat, mit mir etwas zu unternehmen.
Beim Fertigmachen für die Party, schminken und der ganze Kram, gönne ich mir schon mal ein prickelndes Glas Sekt. Natürlich habe ich nichts gegessen und merke den ersten Schluck meines Sekts sofort. Nadja, mach langsam …, dachte ich nur, du willst nicht um elf schon wieder nach Hause. Den lustigen Abend wollte ich mir nicht selber kaputtmachen. Meine ungezügelte Art, was den Alkohol betrifft, kann einem echt den Abend versauen. Laute Musik und das erste Glas Wodka wirken. Bei jedem weiteren Schluck denke ich nur: Mach langsam, sonst endet der Abend böse und wahrscheinlich kann ich mich an nichts mehr erinnern. Egal, mein Selbstbewusstsein steigt mit meinem Alkoholpegel, und ich tanze und tanze und tanze. Mein Glas ist wieder leer und ich schwanke zur Theke. Endlich ist es mir egal, denn ein paar Stunden, an denen es mir mal gut geht, genieße ich mit großer Freude. Augen auf, und ich sehe dieses weiße Keramikding via Kloschüssel. Nach paar Minuten bin ich hellwach und liege mit verschränkten Armen und meinem Kopf auf dem Klodeckel. Oh Gott, habe ich einen Brummschädel. Scheiße, wieder nicht geschafft. Ich stehe auf, richte meine Klamotten, die auf halb acht hängen, setze mein Lächeln auf und taumle irgendwie zur Theke. Natürlich wird das nächste Getränk sofort bestellt, und weiter geht es mit der Party und der Tanzerei. Ja genau, ich bin noch in der Disko.
Irgendwann werde ich mal wieder wach und weiß nicht, wie ich nach Hause gekommen bin. Die letzte Nacht ist wie ausgelöscht. Wieder ein Absturz. Der Abend war aber sicher saulustig, und was die anderen gedacht haben, ist sowieso egal. Herrlich wenigstens, jetzt ist es mir egal, was die anderen denken. Was ich aber traurig feststelle: dass ich wieder allein daheim bin und keinen kennengelernt habe. Wer will schon eine Alkoholleiche kennenlernen? Mein Handy blinkt und ich sehe, dass ich schon ein paar SMS bekommen habe. Es gibt doch noch ein paar nette Menschen in meinem Leben, die wissen wollen, wie es mir geht. Aus dem Bett aufgestanden und direkt auf die Couch fallen. Auf der Couch kam mir der Gedanke: Was esse ich jetzt als Erstes? Ich koche gerne, und wie andere Leute sagen, auch wirklich gut. Trotzdem hänge ich innerhalb der nächsten halben Stunde über dem Keramikding. Von mir aus kann ich auch nicht sagen, ob mein gekochtes Essen schmeckt, denn dadurch, dass ich das Essen nur so runterschlinge, schmecke ich es nicht wirklich. Platt vom Kotzen, liege ich wieder auf der Couch und schlafe ein. Der Scheiß-Alkohol von gestern Abend und der Restalkohol von heute tut das Übrige. Ich merke, wie schummerig mir ist. Zum Glück liege ich schon. Nach ein paar Minuten ruhen gehe ich schnellen Schrittes in die Küche, um nach etwas Essbarem zu suchen, doch leider habe ich nichts mehr zu Hause. Scheiße, schon alles aufgegessen, was ich eingekauft habe. Wo ist mein Geld? Nadja, such! Meine Geldbörse gibt noch zwanzig Euro her, die ich für mein Abendessen bei Mc Donalds ausgebe. Am Schalter bestelle ich so viel, dass eine ganze Horde satt werden kann: ein Big Tasty Bacon Maxi Menü, drei Cheeseburger, drei Chickenburger, neuner Chicken Nuggets und einen Wrap. So schnell ich kann, fahre ich heim. Zu Hause angekommen, schlinge ich mir die drei voll bepackten Tüten von Mc Donalds rein und platze von so vielen Burgern und renne auf die Toilette. Ich muss aufpassen, dass ich nicht ins Wohnzimmer kotze, denn mein Bauch ist so voll. Meinen Finger oder eine Zahnbürste brauche ich schon gar nicht mehr, um mich zu übergeben. Es kommt schon von ganz allein. Bei der Menge an Essen auch kein Wunder. Nach dem Kotzen schaue ich in den Spiegel und beschließe, duschen zu gehen. Ich sehe total verquollen aus. Ich meine immer, duschen hilft, um mich vom Schmutz zu befreien. Mit Schmutz meine ich den äußerlichen und innerlichen Schmutz, ich denke immer, ich könnte alle Gedanken wegwaschen, das Kotzen wegwaschen. Deswegen würde ich gerne mehrmals am Tag duschen gehen, am liebsten in der Dusche 24 Stunden verweilen. Die Bulimikerin in mir achtet sehr auf ihr äußeres Erscheinungsbild, denn es soll ja nicht offensichtlich sein, was ich bin oder wer ich bin, eine Bulimikerin. Denn eine Essstörung lebt von der Heimlichkeit. Sie will mit allen Mitteln und um jeden Preis geheim bleiben. Aus all diesen Gründen – und ich werde euch sicher noch mehr nennen – setze ich jeden Morgen meine Maske auf. Meine Maske besteht aus einem Haufen Make-up und meinem Lächeln, das schon eingebrannt ist.

5 Sterne
Klasse - 06.05.2016
Brigitte Schilling

Der Verlauf der Krankheit wird sehr gut beschrieben, es ist toll zu lesen, hoffe Fortsetzung über das weitere Leben folgt

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