Die Kraft des Gedankens

Die Kraft des Gedankens

... und der Weg aus meiner kaputten Kindheit und Jugend

Uwe Lochstampfer


EUR 17,90
EUR 10,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 102
ISBN: 978-3-95840-922-4
Erscheinungsdatum: 24.10.2019
Einen cholerischen Vater zu haben, heißt für viele Kinder, mit Angst leben zu müssen. Uwe Lochstampfer schildert in seiner Biografie ungeschönt Momente aus der Kindheit und wie er sich trotz physischer und psychischer Gewalt ein Leben aufgebaut hat.
Ich darf mich in der Ausnüchterungszelle des Reviers ausschlafen. Am nächsten Morgen holt man mich raus. Man will meinen Namen wissen. Wahrheitsgemäß sage ich ihn, Uwe Lochstampfer. „Ok, wie heißt du nun wirklich?“ „Uwe Lochstampfer.“ Der Polizist glaubt mir nicht; das Spiel geht noch so eine Zeit weiter. Der Beamte besticht mich sogar mit seinem Schinkenbrot und glaubt mir dann schließlich doch. Vielleicht denkt er ja, Schinkenbrot essen und trotzdem weiter lügen schließen sich aus.

Es dauert Stunden, bis mich mein Vater in seinem goldfarbenen Peugeot abholt. Auf der Rückfahrt baut er bei Glatteis noch einen Unfall.

Offensichtlich kann ich weglaufen so oft ich will, so lange ich will, letztlich ändert sich nichts. Dem Terror zu entfliehen ist zwar temporär hilfreich, aber mehr auch nicht. Schließlich musste ich in der Vergangenheit immer wieder zurück zu meinem Vater.

Da fällt mir ein, dass es da so eine Behörde wie das Jugendamt gibt. Ich fahre zu diesem Amt nach Siegburg und bitte um Hilfe. Man hört sich meine Geschichte geduldig an und setzt mich in die Warteschleife. Es dauert sehr lange, bis sich die Tür öffnet und ich meinen Vater mit der Jugendpflegerin in der Tür stehen sehe. Meine Hoffnung war, dass man mich ins Heim bringt, aber man bringt mich ins Nebenzimmer und es folgt ein belangloses Gespräch. Ich darf wieder nachhause. Jetzt kommt immer mal wieder ein Mitarbeiter des Jugendamtes bei uns vorbei. Er spricht ein paar Worte mit mir, vor allem aber mit meinem intelligenten und distinguierten Vater. Horst macht dann immer mit dem Jugendpfleger eine Weinprobe. Ich glaube, bei einer blieb es nicht. Aber ich möchte dem Mann nicht Unrecht tun. Später half er mir mit seiner Aussage, so dass meinem Vater das Sorgerecht entzogen wurde. Aber noch ist es nicht so weit.
Ich laufe wieder weg, Ziel der Flughafen Köln-Bonn. Mein Fahrrad (jetzt habe ich ein größeres), mit dem ich nun unterwegs bin, tut mir gute Dienste. Ich will versuchen, in ein Flugzeug zu gelangen, das nach Berlin fliegt, zu meiner Großtante Tati. Ohne Pass, egal. Aber das klappt nicht. Alle Flüge sind ausgebucht, Spaß. Wie sollte ich auch in ein Flugzeug kommen?

Ich radle nach Bonn, es ist Sommer. Etwas außerhalb der Stadt entdecke ich eine Scheune. Dort ist Stroh in gepressten Ballen gelagert. Ich klettere auf den Strohberg, nehme zwei Quaderballen heraus und lege sie wie ein Dach quer über mich. Eine tolle Schlafstätte. Nun ja, einige Nächte später höre ich Schnarchgeräusche. Ich bin nicht alleine. Irgendwer pennt hier auch noch. Hoffentlich bemerkt er mich nicht. Mich beschleicht Angst.

Geschlagene vier Wochen bin ich in Bonn. Ich übernachte in der Scheune und verdiene mein Geld weiterhin mit der „BEDROHTEN TIERWELT.“ Große Firmen sind lukrativ, stelle ich fest. So ein Opel-Autohaus. Ich grase es ab, aber ein Mitarbeiter beäugt mich kritisch. Ich bin wieder auf der Straße, als ich von hinten einen Ruf höre. „Junge, warte mal!“ Der Typ ist geschickt und greift sich in die hintere Hosentasche. Oh, der will mir Geld geben, denke ich und bleibe stehen. Das war ein Fehler. Ich erkenne, es ist der mit dem kritischen Blick. Er schleppt mich zurück ins Autohaus und stellt mir Fragen. „Ich bin vom Beethovengymnasium und sammle für die Tiere“, verteidige ich mich. Oh je, die Sekretärin wird beauftragt, dort anzurufen.
Das Beethoven Gymnasium gibt es wirklich in Bonn, ich wusste das, denn ich hatte mich natürlich vorher kundig gemacht, um mich auf eventuelle Fragen vorzubereiten. Sie telefoniert mit dem Gymnasium und das nächste Telefonat führt sie mit der Polizei.

Komischerweise hat mein Vater mich nie für mein Weglaufen bestraft. Ich glaube, er war völlig hilflos und total mit diesen Situationen überfordert.

Ich betreibe seit einigen Jahren Judo und ich bin gut. Wir kämpfen um die Kreismeisterschaft. Leider muss ich in der 40-kg-Klasse antreten. Ich wiege 100 g zu viel. Ich belege den dritten Platz. Später kämpfe ich außerhalb der Wertung gegen den Erstplatzierten der 36-kg-Klasse, für die ich eigentlich vorgesehen war. Er hat keine Chance gegen mich. Ich werfe ihn mit einem Tomoe Nage auf den Rücken; es dauert keine Minute. Bei diesem Wurf lässt man sich fallen und setzt im Fallen seinen Fuß in die Leiste des Gegners, um diesen dann über sich hinweg auf die Matte zu befördern. Leider hatte ich nun wegen 100 g zu viel auf der Waage die Kreismeisterschaft verpasst. Wir besuchen mit unserem Verein auch andere Judovereine, so einen Dojo in Köln. Hier ist Wolfgang Hoffmann Trainer. Der war 1964 Silbermedaillengewinner im Halbmittelgewicht in Tokio. Ich komme noch auf ihn zurück.

Erst einmal muss ich wieder weg, der Alte ist unerträglich. Warum nicht mal wieder nach Köln? Mein Fahrrad habe ich noch und eine Scheune findet sich auch. In Köln ist Tivoli, ein großer Rummel, wie man ihn so kennt. Der Tivoli ist ein frisch eröffneter Freizeitpark in der Nähe des Rheinufers. Hier gibt es alles, was das Kinderherz begehrt. Karussells, Achterbahn, Autoscooter und einen Wohnwagen. Darin hockt ein nicht mehr ganz so junger, etwas kauziger Mann und stellt Schlangen aus. Zumeist große Würgeschlangen, aber auch giftige. Der Wagen fasziniert mich nun wirklich. Ich bekomme gar nicht genug davon. Der Kauz ist wohl auch so ein Sonderfall wie ich, denke ich bei mir. Der Sonderfall ist nett. Er bemerkt mein Interesse und zeigt und erklärt mir die Tiere, tags darauf bin ich wieder da. Er freut sich; ich freue mich auch. Irgendwie freunden wir uns an, der ältliche Kauz und der Ausreißer. Ich darf helfen, die Schlangen zu füttern, ja selbst an die Kasse lässt er mich. Da sitze ich, stolz wie Oskar, eine Boa Constrictor um den Hals und kassiere das Eintrittsgeld. Ich kann mein Glück kaum fassen. Aber der Kauz scheint nachgedacht zu haben und fragt mich im Kölschen Dialekt: „Jong, has du gar keine Schull (Schule)?“ „Nö, Lehrer sind alle krank, wir haben vorgezogene Sommerferien.“ „Zeiten sind dat“, bemerkt der Kauz. „Aber, wenn du hier arbeide willst, bruche ich eine Erlaubnis dinner Eldere (Eltern).“ „Geht klar“, sage ich. „Die sind damit einverstanden.“ „No denn, bräng mir bitte die Tag eine Erlaubnis dinner Eldere.“ Jetzt haben wir den Salat, woher eine Unterschrift beschaffen? Ich denke und denke und finde die Lösung. Die heißt Wolfgang Hoffmann, Silbermedaillengewinner im Judo 1964. Ich betrete am nächsten Tag das Dojo des Meisters, erkennt er mich? Ich war ja schon mal da. Egal. „Herr Hoffmann, wären Sie so nett, mir ein Autogramm zu geben, ich mache auch Judo.“ Er ist so nett. Ich schreibe oben auf den Zettel, sinngemäß „Ich erlaube meinem Sohn, Uwe Hoffmann, bei Ihnen zu arbeiten.“ Dem Kauz genügt das. Wow, nochmal Glück gehabt.

Ich weiß jetzt nicht mehr genau, wie lange ich im Schlangenwagen gearbeitet habe, zehn Tage vielleicht. Es sind tolle Tage. Überall auf dem Tivoli kennt man mich, den Schlangenjungen. Ich habe überall Freifahrten, ich werde anerkannt, endlich.

Nun ist es aber an der Zeit, mal die Klamotten zu wechseln. Ich bekomme zwar vom Kauz etwas Geld, aber so viel ist das nicht, ist mir auch egal. Kurzerhand betrete ich in Köln ein Kaufhaus und klaue ein Hemd. In meiner Tivoli-Euphorie bin ich wohl etwas unvorsichtig und werde prompt vom Ladendetektiv erwischt. Polizei wird gerufen und ich sitze im Streifenwagen. „Wo wohnst du denn?“, kommt die Frage des Beamten. „Äh, Hansaring.“ Die Hausnummer, die ich angebe, habe ich vergessen. Man fährt mich dorthin, zum Glück keine Dresdner Bank. Meine Tür wird geöffnet, ich springe aus dem Wagen und renne, ich renne, wie ich noch nie gerannt bin. Training ist alles. Ich presche um eine Ecke und schlage mich hinter eine Hecke. Ich mache mich klein, so klein es geht. Fällt mir bei meiner Körpergröße auch nicht ganz so schwer. Ruhe bewahren, sei still, bewege dich nicht. Das zahlt sich aus, ich sehe, wie die Beamten nach mir suchen. Und sie suchen lange; doch sie geben auf.

Sieg auf ganzer Linie. Nicht ganz, mein Hemd muss ich nun wirklich wechseln. Zwei Tage später der nächste Versuch. Wieder bin ich bemüht, ein Hemd zu klauen, wieder werde ich erwischt. Die Polizei bringt mich direkt auf die Polizeistation. Und wie es der Zufall will, hockt da im Pförtnerhäuschen eben der Polizist, dem ich vor zwei Tagen abhandengekommen bin. „Haltet den bloß fest, der Junge ist richtig schnell.“ Das „Lob“ gefällt mir.

Ich werde in einen Raum der Schutzpolizei gebracht und man vernimmt mich.
„Wie heißt du, woher kommst du?“ „Sage ich nicht.“ Ein kurzer Moment erstaunter Ruhe kehrt ein. „Also nochmal, jeder Mensch hat ja einen Namen! Den musst du mir jetzt sagen, wir sind die Polizei.“ „Ich sage meinen Namen nicht, ich will nicht zurück zu meinem Vater.“ Aha, dämmert es dem Polizisten. Er versucht es noch ein paar Mal, immer in anderen Redewendungen; aber er beißt bei mir auf Granit. Wenn die meinen Namen nicht heraus bekommen, was sollen sie denn machen?, denke ich in meinem jugendlichen Leichtsinn. Dann muss ich ja ins Heim oder von mir aus in Beugehaft, aber diesen Begriff kannte ich damals noch nicht. Immerhin wäre mir Knast lieber gewesen als Horst.

„So, dann komm’ mal mit“, spricht der arme Beamte und bugsiert mich in einen anderen Raum. „Bitte alles ausziehen, auch Unterhose und Strümpfe.“ Ich gehorche, widerspruchslos. Ich meine, jetzt tritt eine Frau ein, und sie filzt meine Klamotten, die ich mittlerweile mindestens zwei Wochen auf dem Leib getragen habe. Ein Hemd zu klauen, wurde ja zweimal verhindert. Sie sucht ein Namensschild und findet keines. Jetzt ist guter Rat teuer, aber es gibt ja noch die Kriminalpolizei. Dorthin werde ich abgeführt, Handschellen erspart man sich.

The same procedure as last time. „Wie heißt du, wo wohnst du?“ Immer wieder. Und immer wieder fällt meine Antwort gleich aus. „Sag’ ich nicht, ich will ins Heim, auf keinen Fall nach Hause zurück.“ „Ja, wo ist denn dein Zuhause?“ Was glaubt ihr eigentlich, wie blöd ich bin? Auf so einen plumpen Trick fällt doch der Ausreißerkönig nicht herein. Der nächste Versuch der Polizeibeamten ist aber nicht so plump. Wieder wechsele ich den Raum. Da sitzt ein anderer. Aber der macht keine großen Fisimatenten mit mir; der sagt völlig unbeeindruckt: „So, Freund, du willst also deinen Namen nicht verraten!“ Ich erspare mir die Antwort. „Dann läuft das jetzt folgendermaßen ab. Wir werden dich fotografieren und dein Bild an jede Zeitung in Deutschland schicken. Darunter schreiben die dann ‚Wer kennt diesen Jungen?‘. Somit werden wir heraus bekommen, wer du bist. Ach, übrigens, dein Vater darf das dann bezahlen. Weißt du was das kostet?“ Ich weiß es nicht. „Das kostet deinen Vater 10.000 Mark.“ Jetzt hat er mich, ich muss schlucken, weinen tue ich nicht, aber ich stelle eine Bedingung: „Gut, ich sag’s, aber dafür komme ich ins Heim und nicht zurück.“ Der Polizist sagt es zu. Bin ich erleichtert. Tatsächlich komme ich in ein Kinderheim in Köln und ein Brot mit Teewurst darf ich auch essen, vielleicht waren es sogar zwei. Ich bekomme ein Bett für die Nacht, aber nur für eine. Am nächsten Tag … Sie können sich denken, was passierte.

Ich will ins Heim oder in den Knast, es ist mir egal. Nur fort von meinem Vater.

Göttingen, da muss doch was gehen. Mein Gefühl sagt mir, fahr’ dort nochmals hin. Ich fahre wieder mit dem Rad los und habe nach der halben Strecke und einem Tag keine Lust mehr auf Strampeln. Wieder in Battenberg schließe ich das Rad an einem Geschäft an und schlafe in der mir bekannten Schrebergartenkolonie. Den Stein, mit dem ich diesmal die Scheibe einschlage, behalte ich nicht in der Hand. Am nächsten Tag strecke ich den Daumen raus. Per Anhalter zu fahren ist schon komfortabler. Ich bin nicht dumm und gebe nur kurze Strecken an, immer so sechs Kilometer oder auch mal zehn; auch wenn das Auto vielleicht weiter in meine Richtung fährt. Ich darf nicht auffallen. Das klappt erstaunlich gut. Wenn ich Hunger habe, gehe ich in eine Bäckerei. Da liegen oft Brötchen auf dem Tresen, die ein anderer schon bezahlt hat. Ich schnappe sie mir, reiße die Tür auf und laufe weg. Dabei hat man mich nie erwischt. In Kassel oder in der Nähe gibt es einen Wolkenbruch, der mich völlig durchnässt. Ich finde ein kleines Kaufhaus, vermutlich hieß es Kepa, und klaue eine Trainingshose, die ich auch gleich anziehe. Die Hose „probiere“ ich in der Umkleidekabine an und lasse als Ersatz meine alte, durchnässte zurück. Wie ich dann abends nach Göttingen kam, weiß ich nicht mehr. Meine Tante Elke erzählte mir, es sei spät am Abend gewesen. Ja, diese Fahrten nach Göttingen könnte man als naiv ansehen. Meine Verwandten mussten mich doch zurückschicken, auch wenn es ihnen das Herz brach. Sie hätten sich schließlich strafbar gemacht. Aber ich war zäh und ich hatte ein Ziel und der Gedanke hieß: weg. Mein Vater holt mich am nächsten Tag aus Göttingen ab; das Fahrrad wird unterwegs in den Kofferraum geladen.

In der Schule werde ich immer schlechter und Horst wird deshalb immer wütender auf mich. Ich habe durch mein Weglaufen sehr viele Fehltage in der Schule, denn ich laufe ja nicht nur in den Ferien von zu Hause weg. Die Ausrede in der Schule, der Uwe ist krank, zieht nicht mehr bei meinen Mitschülern. Viele wissen Bescheid, sicher auch die Lehrer. Meine Tante Gerdi erzählt mir viele Jahre später, sie hätte sogar einen Brief an die Schule geschrieben und meine häusliche Situation geschildert. Aber auch von der Schule kommt keine Hilfe. Undenkbar, heutzutage.

Meine Zensuren sind zu schlecht, Gymnasium war gestern. Horst nimmt mich aus der Schule und steckt mich in eine Realschule in Siegburg; die habe ich nur als schlimm in Erinnerung, auch die Mitschüler. Es ist, obwohl ich schon am Unterricht teilnehme, nicht klar, ob sie mich auch schließlich aufnehmen werden.

Ich habe nur noch den einen Gedanken, einen kraftvollen Gedanken. Dieser Gedanke begleitet mich, jeden Tag: „ich will hier weg, ich will woanders leben.“

Dieser Gedanke nimmt immer mehr Raum ein, denn zuhause geht der Irrsinn weiter.

Und ich fahre wieder nach Göttingen, jetzt das dritte Mal innerhalb von 12 Monaten und das zweite Mal im Jahre 1971. Wird das mein Schicksalsjahr? Es wird mein Schicksalsjahr. Aber noch ist es nicht soweit. Noch stehe ich an einer Nebenstraße, die mich zur B56 führen wird; ich trampe wieder. Ich erscheine den Autofahrern als unscheinbar, von dem geht keine Gefahr aus, den können wir mitnehmen. Aber ich bin klein, man hält mich möglicherweise für jünger, als ich bin. Ich muss aufpassen, muss immer eine passende Geschichte erfinden. Ja, wo kommst du denn her, wo willst du denn hin und warum? Solche Fragen muss ich mir stellen lassen; aber ich stelle mich, und es geht gut. „Meine Oma (auch mal die Tante) ist krank und Mama hat mich gebeten, sie zu besuchen.“ Möglicherweise habe ich das von dem Märchen „Rotkäppchen und der böse Wolf“ abgekupfert, wo Mama zu Rotkäppchen sagt, sie solle doch einen Kuchen und eine Flasche Wein der kranken Großmutter bringen. Eine ergänzende Variante war: „Jetzt ist auch noch unser Auto kaputt gegangen oder Mama muss arbeiten.“ Es ist schon irgendwie witzig, wie die Menschen mir meine Geschichten glauben. Ich komme flott voran. Nahe Korbach, am zweiten Tag und einer Nacht im Schrebergarten, wird es kritisch. Ein Wagen hält an, ich steige auf den Vordersitz. „Wo willste denn hin?“ „Nach Korbach.“ „Wohin genau?“ Ich erfinde eine Straße. Er kennt sie nicht, sie gibt es auch sicherlich nicht. „Die Straße kenne ich nicht, und ich wohne mein ganzes Leben schon hier.“ Fehlt noch, dass er Taxifahrer ist. Ist er aber wohl nicht. „Ist das da in dem Neubaugebiet?“ Ich zögere, aber nur sehr kurz, er merkt es nicht. „Ja, genau, im Neubaugebiet.“ Wir fahren und er hält an und ich merke seine Zweifel. „Da geht’s hoch, aber das weißt du ja, ich muss geradeaus weiter.“ Gut gemacht, Uwe, denke ich bei mir. Ein bunt bemalter VW-Bulli hält an. Ich kenne keine Hippies oder Freaks, die lerne ich erst Jahre später kennen. Aber genau die sitzen im Wagen. Musik dröhnt, Qualm steht im Auto, etwas süßlich. Die stellen gar keine Fragen. Eigentlich könnten die mich direkt nach Göttingen bringen. Natürlich stelle ich diese Frage nicht.

Eine Frage aber stellt sich meinen Verwandten in Göttingen, als ich denn glücklich und hungrig ankomme. Was sollen wir bloß mit dem Jungen machen? Meine Tante Elke hatte in der Vergangenheit oft mit meinem Vater meinetwegen telefoniert. Erreicht hat sie nichts. Horst ist stur, Horst hat Recht. Ich weiß, sie wollen mir eigentlich nur helfen, sie leiden sehr unter der Situation, die Oma, Tante Elke und Onkel Jürgen. Cousine Bigi freut sich, der Uwe ist wieder da. Aber was sollen sie machen?

Ich darf ein paar Tage bleiben, mein Vater entdeckt seine menschliche Ader. Vielleicht haben aber auch die telefonischen Interventionen von Elke und Jürgen geholfen.

Der Tag ist gekommen, Elke, Jürgen und Bigi fahren mich zurück zum Vater Horst. Wir machen Rast auf dem Kahlen Asten im Hochsauerland, einem 840 m hohen Berg. Ich werde krank, das Horrorhaus naht. Ich habe Fieber, meine Psychosomatik lässt grüßen.

Elke, Jürgen und Bigi treten bald die Heimreise an. Ich bin wieder allein. Die Menschen, die ich jetzt wirklich liebe, haben mich allein gelassen. Nein, haben sie nicht, natürlich nicht, denn sie hatten keine Wahl. Aber so sind meine Gedanken.

Und dann passiert etwas, das ich mir nie erträumt hätte, aber dennoch immer gehofft habe, der Alte kapituliert.

Hat sich endlich die Kraft meines Gedankens woanders leben zu wollen, durchgesetzt?

Offenbar.

Der Alte kapituliert, indem er mich fragt, ob ich lieber bei der Oma leben möchte. Ich darf jetzt keinen Fehler machen. Rede ich ihm nach dem Mund, wie vor drei Jahren, als er mich fragte, ob ich bei ihm oder meiner Mutter leben möchte oder sage ich ihm endlich die Wahrheit? Und ich sage die Wahrheit, alles andere wäre auch vollkommen unglaubwürdig gewesen, „Ja, ich möchte zu meiner Oma.“ Spüre ich da eine gewisse Erleichterung bei ihm?

„Dann schreib’ ihr einen Brief und frag’ sie“, sagt mein Vater.


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