Die Frau mit dem roten Sackerl

Die Frau mit dem roten Sackerl

Peter Neumann


EUR 19,90
EUR 11,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 460
ISBN: 978-3-99048-406-7
Erscheinungsdatum: 19.05.2016
Was wäre passiert, wäre der österreichische Staatsvertrag 1955 nicht unterzeichnet worden? Davon handelt dieser Roman über Josefs Leben im sowjetischen Sektor Wiens. Die Besetzung wirkt sich nicht zuletzt auf ganz Alltägliches aus - auch auf die Liebe …
Einleitend - Ein Spaziergang im Wiener Belvederepark

Langsam spazierten Josef und Petra durch den Belvedere-Park inmitten Wiens. Ein herrlicher Vorfrühlingssamstag war dieser 21. Februar 2015. Die Sonne zeigte ihre wohltuende Stärke und leckte die letzten Schneereste auf.
Josef sah erschrocken auf seine Armbanduhr und wollte es nicht glauben: „Halb fünf ist’s schon! Das hätt’ ich wirklich nicht gedacht.“
„Macht doch nichts“, lachte Petra. „Uns jagt keiner, wir haben Zeit. Überhaupt heute, bei dem herrlichen Wetter, das schon Frühlingssehnsüchte aufkommen lässt.“
„Stimmt, so schön wie heute war das Wetter lange nicht“, freute sich auch Josef und gab seiner nach fast 55 Ehejahren immer noch Geliebten einen kräftigen Kuss. Sie genossen vom Oberen Belvedere, dem herrlichen Barockschloss, das 1717–1723 von Johann Lucas von Hildebrandt für Prinz Eugen von Savoyen erbaut wurde, einen herrlichen Blick auf das Untere Belvedere und auf die Wiener Innenstadt bis hin zum Rathaus.
Während sie so vor sich hin schlenderten, fiel Josef ein: „Weißt du, bald feiern wir den 60. Jahrestag der Staatsvertragsunterzeichnung. Kannst du dich noch daran erinnern?“
„Ja, geregnet hat’s und kalt war’s“, lachte Petra, „aber das hat mir nichts ausgemacht, wir waren trotzdem alle froh und glücklich, dass wir endlich frei waren.“
„Stimmt“, freute sich auch Josef, „nach 21 Jahren waren wir endlich wieder frei. Nach vier Jahren Ständestaatsdiktatur, sieben Jahren Nazidiktatur und zehn Jahren Besatzungszeit. Ich habe mir das unmöglich vorstellen können.“
„Das war unser Glück“, frohlockte Petra, „aber was wäre passiert, hätte es diesen Staatsvertrag nicht gegeben?“
Josef atmete tief durch: „Es war ja nicht der Staatsvertrag allein, für den wir natürlich sehr dankbar sein dürfen, er war nur das Endprodukt einer Reihe anderer positiver Ereignisse, die zu ihm hinführten. Angefangen hatte es im September 1945, als im niederösterreichischen Landhaus die erste Länderkonferenz nach dem Krieg stattgefunden hatte. Es ging damals darum, dass auch die Vertreter der westlichen und südlichen Bundesländer sowie die drei westlichen Besatzungsmächte die Renner-Regierung anerkennen, die bis dato nur von der Sowjetunion akzeptiert worden war. Und diese von Karl Renner geführte Regierung bestand nur aus Vertretern Wiens, Niederösterreichs, dem Burgenland und dem nördlichen Oberösterreich, also aus dem Gebiet der damaligen sowjetischen Besatzungszone.
Politisch setzte sich die Regierung aus Mitgliedern der SPÖ, der ÖVP und der KPÖ zusammen. Den Westen störten hierbei besonders die kommunistischen Minister, ganz speziell der Innenminister, ein ehemaliger Tito-Partisan, der sogar in der Partisanenuniform öffentlich aufgetreten war. Unter anderem seinetwegen wäre die Konferenz um ein Haar gescheitert. Die Vertreter der westlichen und südlichen Bundesländer saßen ja am Abend des 26. September 1945 bereits auf gepackten Koffern …“ „So schlimm war das?“, unterbrach Petra ihren Mann.
„Sehr wohl! Beinahe wäre alles schief gelaufen, hätte es nicht den Linzer Bürgermeister gegeben, der das Ganze gerettet hatte, indem er vorgeschlagen hatte, dem Innenminister einen Staatssekretär aus Westösterreich zur Seite zu stellen, der ihn gewissermaßen kontrollieren sollte. Also aus dem damals geteilten Oberösterreich kam die Rettung der Konferenz.“
„Wäre sie nicht gekommen, was wäre dann wohl passiert?“, fragte Petra besorgt.
„Du, denken wir einmal darüber nach, wie unser beider Leben hätte verlaufen können, hätte der Linzer Bürgermeister Dr. Heinz Koref diese kluge Idee nicht gehabt und die Länderkonferenz wäre tatsächlich gescheitert …“


Kapitel 1 - Wechselbäder

Das war Josef Pospischil aus der Großen Mohrengasse 35 im 2. Wiener Gemeindebezirk am Dienstag nach Ostern, dem 3. April 1945: 14 Jahre jung, 166 cm groß, 61 Kilo schwer, hellblaue Augen, kurzes blondes Haar.
Vater Rudi diente mit seinen knapp 43 Lenzen an der Ostfront in einem Bewährungsbataillon, besser gesagt, in dem, was davon noch übrig war. Dieses seiner sozialdemokratischen Gesinnung halber. Er hatte kein Hehl aus seiner Einstellung gemacht. Aber es hätte viel, viel schlimmer kommen können …
Die ein gutes Jahr jüngere Hilde half als Putzfrau bei einigen älteren Damen und in kleinen Geschäften aus. Als Mutter von drei Kindern hätte sie zwar im Haushalt genug zu tun gehabt, aber der Sold von der Wehrmacht hielt sich in bescheidenen Grenzen. Josef war der Älteste, seine beiden Schwestern Sissi und Poldi weilten zwölf beziehungsweise elf Jahre auf unserem Planeten.
Nach dem Februar-Aufstand von 1934 wanderte der Schutzbündler Rudi Pospischil auf Dollfuß’ Befehl ins Anhaltelager Wöllersdorf. Dreieinhalb Wochen vor dem „Anschluss“ daraus entlassen, werkte er nur kurze Zeit wieder in seinem Maurerberuf, bis er gleich Anfang September 1939 in den Krieg geschickt wurde.
Soweit so gut. Heute lasen die Pospischils im „Völkischen Beobachter“ auf Seite eins:

„An die Bevölkerung Wiens! Wiener und Wienerinnen!
Die Zeit der Bewährung ist gekommen. Der Russe, schon ein traditioneller Feind des alten Österreich, nähert sich unserer Stadt. Jeder von uns wird seine Pflicht bis zum Äußersten tun. Aber auch jeder Helfer ist uns willkommen. Heute habe ich die Ehre, meinen alten Freund, den Oberstgruppenführer Generaloberst der Waffen-SS, Sepp Dietrich, bei Ihnen einzuführen, dessen kampferprobte SS-Männer bei uns eingesetzt werden. Er ist Ihnen und allen deutschen Volksgenossen als Führer der SS-Leibstandarte ‚Adolf Hitler‘ seit Langem ein klarer Begriff geworden …
Von Schirach, Reichsleiter“

Unter diesem Aufruf schrieb der Eingeführte:

„Wiener und Wienerinnen!
Ich bin kein Mann der großen Worte und der geschliffenen Rede. Überdies zählen heute Taten viel, Worte wenig. Wenn ich mit meinen Männern mich der Verteidigung dieser schönen Stadt zugeselle, so geschieht dies mit dem festen und unverbrüchlichen Vorsatz, alles nur Menschenmögliche zu tun, dieses Bollwerk des deutschen Südostens unserem deutschen Vaterland zu erhalten. Mehr dazu versprechen, wäre verwegen. Der Kampf wird hart, der Erfolg schwer. Sie, meine Wiener und Wienerinnen, kennen den Feind aus früheren Generationen Ihrer Geschichte. Sie kennen aber auch die europäische Aufgabe, der sich Wien niemals entzogen hat. Halten wir zusammen, kämpfen wir zusammen. Es geht nicht um uns, es geht nicht um die Partei, es geht um unser Land.
Heil unserem Führer!
Sepp Dietrich
SS-Oberstgruppenführer, Generaloberst der Waffen-SS“

Hilde schüttelte den Kopf: Komisch, zum ersten Mal seit dem „Anschluss“ lese ich in einer Wiener Zeitung wieder den Namen Österreich. Der Schirach weiß nur zu gut, dass wir Wiener bereit sind, für Österreich zu kämpfen, aber kaum für Deutschland …

Donnerstagfrüh hämmerte jemand kräftig gegen die Wohnungstür. Blockwart Gruber, auf Befehl Schirachs handelnd: „Jetzt in diesen schweren Tagen müssen wir unserem geliebten Führer umso ergebener dienen! Wir sind es ihm schuldig, denn er hat unendlich viel für uns Wiener getan. Josef, wir müssen in der Taborstraße eine Panzersperre bauen! Eine Ehrenpflicht für einen Hitlerjungen! Du weißt, wie ein deutscher Junge zu sein hat?“
„Flink wie ein Windhund, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl!“
Der Blockwart klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. Konnte Josef mit 14 auch noch nicht offiziell zum Volkssturm eingezogen werden, das war erst ab 16 möglich, und das jetzt sollte auch nur ein Hilfseinsatz der Hitlerjugend werden, so hätte ein Widerspruch dennoch böse Folgen gehabt, was Hilde wusste, und so ließ sie den Ältesten schweren Herzens ziehen und betete, dass ihm in diesen letzten Tagen des Nazispuks nicht noch etwas zustoßen würde, weil die ersten sowjetischen Panzerspitzen gestern Simmering erreicht hatten …
Die große Schlacht um Wien hatte Punkt acht an diesem 6. April begonnen. Gegen Mittag hörte Hilde schon aus ihrem kleinen Radio, das sie im großen Kleiderschrank unter der Bettwäsche versteckt hielt, von der BBC in deutscher Sprache, dass die Rote Armee bereits in den westlichen Vororten Wiens kämpfte. Im Nordwesten stießen Truppenverbände der 3. Ukrainischen Front auf Pötzleinsdorf und Gersthof vor und im Südwesten durch den Lainzer Tiergarten auf Speising, Hietzing und Liesing. Befohlen von Marschall Tolbuchin.
Und es war auch schon der Südbahnhof besetzt …
„Und da verheizen die Braunen noch unsere Jugend und die Alten. Hoffentlich hat der Wahnsinn bald ein Ende.“ Hilde flüsterte es natürlich nur für sich, während sie eine Grießsuppe kochte. Es wurde immer schwieriger, etwas Essbares zu ergattern. Wie denn auch? Lebensmittel gelangten kaum mehr in die Stadt.
Am Freitag erließ Marschall Tolbuchin den Aufruf: „Bürger von Wien! Unterstützt die Rote Armee bei der Befreiung der Hauptstadt Österreichs!“

Trotzdem hatten Josef, sein Schulfreund und Banknachbar Martin und andere Hitlerjungen sowie ältere Männer, die nicht mehr fronttauglich waren, aber trotzdem zum Volkssturm requiriert wurden, quer über die Taborstraße in Höhe der Kirche zum Heiligen Josef die besagte Panzersperre errichtet. Kurz vor fünf stand sie und sollte die Rote Armee allen Ernstes stoppen.
Den Einsatz schloss Blockwart Gruber, seine rechte Hand zum Hitlergruß erhebend, stramm stehend, mit einem flammenden Bekenntnis: „Wir deutschen Wiener Hitlerjungen und wir tapferen deutschen Wiener Männer haben unseren Beitrag zur weltgeschichtlichen Mission der nationalsozialistischen Bewegung geleistet! Der Feind ist in seine, ihm gebührenden, Schranken gewiesen worden!“
Am Freitag Dakapo. Eine zweite Panzersperre musste her! Auch wieder quer über die Taborstraße, aber diesmal nahe beim Augarten und ohne ideologisches Geplappere …

Indes sich die Burschen und die Volksstürmer sinnlos abmühten, drängten die Sowjets in der Sandleitengasse Sepp Dietrichs Waffen-SS-Verbände in Richtung Hernalser Hauptstraße zurück, wie Hilde wieder aus dem Radio vernahm. Einige Stunden hielten sie noch den größten Wiener Gemeindebau, bis Rotarmisten aus Dornbach über die Oberwiedenstraße und die von ihr abzweigenden Seitengassen vordrangen und die Deutschen einkesselten. Vom Dornbacher Friedhof kam weitere Verstärkung. Ein regelrechtes Trommelfeuer veranstaltete die Rote Armee in der Triester Straße. In nur vier Stunden gelangte sie zum Matzleinsdorfer Platz. Dort allerdings hatten sich Wehrmachtsverbände in den Bahnanlagen verschanzt, welche die Rotarmisten rundum angriffen. Die Verluste auf beiden Seiten waren unverhältnismäßig hoch.
Schwere Gefechte tobten auch um das Lainzer Krankenhaus samt angrenzendem Altersheim. Beides diente zum Großteil als Wehrmachtslazarett. Die Jagdschlossgasse war von besonders vielen Pferde- und Soldatenleichen übersät. Solches unter anderem auch deshalb, weil fanatische Hitlerjungen, unter ihnen die beiden Gruber-Söhne, wahllos Panzerfäuste auf berittene Sowjetsoldaten schmissen. Aus gut getarnten Verstecken, versteht sich.

Josef lauschte am Abend gespannt dem deutschsprachigen Kommentator von Radio Moskau, der berichtete, wie sich am Gemeindeberg versprengte SS-Männer in den Gartenhäusern verbarrikadierten und auf vom St. Veiter Tor vorrückende Rotarmisten feuerten, welche nun jedes noch so winzige Haus durchstöberten. Unter anderem ein einstöckiges Holzhaus zwischen dem Gemeindeberg und der Wlassakstraße. Juri und Mischa, zwei blutjunge Soldaten aus Kiew, schlugen mit dem Gewehrkolben gegen die Scheiben der Eingangstür und konnten von innen öffnen. Vorsichtig beäugten sie den Vorraum, das WC, die beiden Wohnräume, die Küche und stiegen schließlich in das Obergeschoss hinauf.
„Nietschewo doma!“ Sie wollten gerade umkehren, als Mischa die Kellerluke in der Küche auffiel. Sie vorsichtig öffnend, staunte er nicht schlecht: Drei Männer saßen ängstlich zusammengekauert in dem kleinen Verlies.
„Bitte lasst uns leben, wir sind Juden!“, flehte der vorn Hockende die Sowjetsoldaten an.
„Oni jidi!“, erklärte Juri seinem Kameraden, der anscheinend kein Deutsch verstand, und die Männer nickten erwartungsvoll.
„Wij wsjo swobodnie!“, rief Mischa den Männern freudig, seine Arme in die Luft streckend, zu: „Gitler konjez! Wojna konjez!“
„Wir alle frei! Hitler kaputt! Krieg ist Ende!“ Juri jubelte genauso aus vollem Herzen, und die drei Männer fielen den beiden Sowjetsoldaten erleichtert um den Hals. Sieben Jahre des Versteckens und der permanenten Angst waren vorbei …

Marschall Tolbuchin hatte in einer Vorstadtvilla seinen Gefechtsstand errichtet. Von hier aus befahl er den Angriff auf die Wiener Innenstadt. Und da sollten allen Ernstes zwei Panzersperren in der Taborstraße noch den Endsieg garantieren?
Oh ja, Blockwart Gruber hatte wirklich noch am Freitag, dem 7. April 1945, unverdrossen von der „Alpenfestung“ gefaselt, „die jedem Sturm trotzt und uns in wenigen Tagen den grandiosesten Triumph der Weltgeschichte bescheren wird. Aber dann wird alles erzittern und den Verrätern wird klar, wie sehr sie der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung aufgesessen waren …“
Niemand wagte einen Zweifel zu äußern, denn wer wollte noch so kurz vor Kriegsende durch ein unbedachtes Wort am nächsten Baum enden?
Bitte, zwei Tage später, am Weißen Sonntag, hingen Major Biedermann, Hauptmann Alfred Huth und Oberleutnant Rudolf Raschke am Floridsdorfer Spitz. Jeder mit dem Spruch versehen: „Ich habe mit den Bolschewiken paktiert. Darum sterbe ich als ehrloser Lump.“
Hatten sie etwas damit zu tun, dass vom Stephansdom eine rot-weiß-rote Fahne wehte …?

Am Montag berichtete Radio Moskau, die Rote Armee habe gestern Währing erreicht und sich an der Volksoper schwere Kämpfe mit der SS geliefert. Diese hatte sich in einem nahen Haus an der Ecke Gürtel/Währinger Straße verschanzt, aber heute war alles erledigt …
Zu alldem wüteten jede Menge Brände in der Stadt, und man hörte neben dem Geschützdonner fürchterliche Detonationen, weil die SS ungeheuer viel in die Luft sprengte. Nicht nur kriegswichtige Objekte, sondern auch Fabriken zivilen Charakters. Getreu der „Taktik der verbrannten Erde“. Dem Feind sollte nur Verwüstung in die Hand fallen.
„Übrig bleibt ja ohnehin nur ein rassisch minderwertiges Volk, das getrost untergehen kann, denn die wertvollen Arier sind im Kampf gefallen“, propagierten die NS-Ideologen …
Oh, es ging längst nicht mehr um die Erhaltung des „Bollwerkes im Südosten des „Großdeutschen Reiches“, sondern lediglich ums nackte Überleben …
Und die Wiener wollten nicht „bis zum letzten Blutstropfen“ kämpfen und die Stadt der totalen Vernichtung preisgeben und hingen lieber weiße Fahnen aus den Fenstern, sobald die Rote Armee in ihre Straße einrückte.

Hilde hatte Angst um Josef. Wenn der Gruber wieder die Burschen holte. Nachmittags drang lauter Geschützlärm vom Schwedenplatz rüber. Fanatische SSler wollten die Rotenturmstraße um jeden Preis halten.
„Geh nicht mehr in die Nähe der Tür! Wenn’s klopft, kriech unters große Bett!“ Die strengen Worte der Mutter konterte Josef nicht, weil auch er keine Lust verspürte, zu guter Letzt noch als Kanonenfutter missbraucht zu werden.
Am Dienstag erreichte die Rote Armee die Ringstraße, die Donaukanalbrücken wurden von abziehenden Wehrmachtseinheiten zerstört, den Donaubrücken war dieses längst am Samstag widerfahren. Auf „Führerbefehl!“
Schließlich gab die Wehrmacht am Abend den Widerstand um den Floridsdorfer Schlingerhof auf. Der große Gemeindebau hatte unter den brutalen Häuserkämpfen schwer gelitten. Mittwochvormittag stürzte die Pummerin von St. Stefan dröhnend in die Tiefe.
„Da seht ihr, was die Russen für gottlose Barbaren sind!“, ätzte Blockwart Gruber. Obwohl er wusste, dass die Rote Armee damit nichts zu tun hatte, sondern der Glockenturm Feuer von nebenan brennenden Häusern gefangen hatte.
Am Nachmittag wollte der „kampferprobte“ Nationalsozialist selbst das Weite suchen. Es sind ihm wohl seine markigen Sprüche im Hals stecken geblieben.
Bis zur Blumauergasse kam er, als ihn beherzte Wiener aufgriffen und in einen Keller sperrten, bis sich die Sowjets seiner annahmen.

Die Förstergasse bestand aus nur zehn Häusern und bis zum Mittwoch, dem 11. April 1945, kannte sie nur, wer sie kennen musste. Josef zum Beispiel, weil sein Freund Martin im Haus Nr. 5 wohnte und er sich abends zuvor hergeschlichen hatte, um nicht noch mal zum Barrikadenbau oder einem ähnlichen Schwachsinn geholt zu werden. Jetzt, da die Front immer näher rückte, wurden derartige Einsätze zunehmend gefährlicher, und aus Furcht vor Glas- und Bombensplittern infolge der Kampfhandlungen hielten sich die Mieter nunmehr fast ausschließlich im Keller auf, was es Gruber leicht gemacht hätte, Josefs habhaft zu werden.
Von seinem Abgang hatte Josef natürlich erst später erfahren, aber die Nachbarschaft hätte beileibe noch einige weitere Naziaktivisten für sinnlose Kriegsspielereien zu bieten gehabt …
Ein paar Tage vorher, als Wien zum Verteidigungsbereich erklärt wurde, tauchten in der Förstergasse und den benachbarten Gassen ältere Wehrmachtsangehörige aus dem Altreich auf. Josef und Martin fragten die durchwegs netten Männer nach dem Sinn ihres Hierseins:
„Wir müssen die Augartenbrücke sichern“, antwortete Hans, der Älteste und körperlich Größte, in unverkennbarer Dresdener Mundart, während sein rechts neben ihm stehender Kumpel Otto seinem Herzen so Luft machte, wie es Berliner zu tun pflegen: „Det Janze is een riesenjroßa Scheiß! Mir brummt der belämmerte Kriech schon lange schwer im Magen! Meine schönsten Jugendjahre hab ick für den Jefreiten aus Braunau verplempert!“
„Glaubt’s uns, wir wären alle lieber zu Hause bei unseren Familien“, legte Walter aus Fulda noch ein Scheuferl zu, „würden am Tage unserer zivilen Arbeit nachgehen und abends und sonntags bei Frau und Kindern sein.“
„Ja, so haben wir’s uns alle mal gedacht, doch für mich gibt’s kein Daheim mehr. Bei dem großen Angriff im Februar ist mein Wohnhaus in Flammen aufgegangen. Wie’s weitergehen soll, weiß keiner.“ Hans kämpfte gegen die aufkommenden Tränen …
Martins Mutter lud die drei Männer zum Kaffee ein, Malzkaffee, versteht sich. Ihr taten sie einfach leid. Sie werkte nicht aus Berechnung, was hätte sie erhoffen können?
Zu einer weiteren Begegnung kam es aber nicht mehr, denn nachdem nun die Rote Armee die Außenbezirke erobert hatte, wurden die Wehrmachtsangehörigen noch am späten Nachmittag von der SS abgelöst.
„Muss das sein, wo wir die Russen schon hören?“ Martins Mutter sorgte sich sehr um ihre jüdische Nachbarin, die nur noch hier wohnte, weil sie in einer Mischehe lebte und dadurch bisher verschont geblieben war. Jeder wusste: Die SS machte jetzt mit allen Juden kurzen Prozess. Jetzt noch, in letzter Minute, wo die Befreiung schon hörbar und förmlich greifbar war …

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