Ein planloses Leben – Teil 1

Ein planloses Leben – Teil 1

Meine Odyssee von Schlesien nach Ostdeutschland, nach Westdeutschland und nach Australien

Heinz Suessenbach


EUR 19,90
EUR 11,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 470
ISBN: 978-3-99064-572-7
Erscheinungsdatum: 23.01.2020
Der Zweite Weltkrieg. Heinz Suessenbach beschreibt seine Erlebnisse im Krieg und danach. Das Leid der Frauen. Der Kummer der Mütter. Die Angst der Kinder. Haben sie eine Zukunft? Und wenn ja, welche? Ein verstörend irritierender Einblick, wie es wirklich war ...
1 Vorwort

Ich lernte den Autor dieses Buches in den 80er-Jahren kennen, als ich für Western Mining Managers in Kambalda Lehrgänge hielt. Kambalda ist eine Minenstadt mit zirka 10 Goldminen und 9 Nickelminen. Ich war fasziniert von diesem Heinz Süssenbach, der mein ganzes Grundbild über Deutsche, z.B. daß sie wenig Humor haben, total auf den Kopf stellte. Die Lehrgänge gingen für eine Woche. Heinz war Sicherheitsingenieur bei der Firma, und ich muß ehrlich sagen, ich habe nie so viel gelacht in einer Woche wie mit ihm und seinem scharfen Esprit. Daraus entstand eine Freundschaft, die sich bis heute gehalten hat. Sein Buch liefert eine gute Beschreibung über sich selber. Es ist mehr als ein Bericht von Geschehnissen und Taten, denn er teilt seine innersten Privatgefühle und Gedanken mit dem Leser. Der erste Teil des Buches handelt von den Kriegs- und Nachkriegsjahren und gab mir eine ganz neue Perspektive über den 2. Weltkrieg. Als wir in Australien aufwuchsen, waren für uns alle Deutschen Dämonen, Teufel. Nicht für einen Moment haben wir geahnt, was das deutsche Volk gelitten hat - das hat mich sehr schwer beeindruckt! Seine Beschreibung des damaligen Lebens hat mich - und ich glaube, jedem Leser wird es genauso gehen - sehr berührt. Wir wußten auch nicht, daß die Deutschen hinter dem Eisernen Vorhang nach dem Krieg weiter gelitten haben. Die Beschreibung seiner Jahre in Australien hat mich sehr bewegt, denn immer wieder ermuntert er den Leser, sich in unser Ozz zu verlieben und zu schätzen, was es zu bieten hat. Seine Liebe für unser Land ist ansteckend. Sein Mut, sein Willen und die Bereitschaft, materielle Sachen fahren zu lassen und mutig in neue Richtungen zu marschieren, ist einzigartig. Die Sprache der Bergleute kann ein bißchen schwierig sein für einen, der sich in diesem Milieu nicht zurechtfindet, aber gestört hat mich das nicht. Ich wiederhole, daß ich es sehr geschätzt habe, wie offen er seine Gefühle und Gedanken mit dem Leser teilt.

David Napoli, Perth, West Australien, Juli 2014.



2 Einleitung

Während ich dieses Buch schrieb, schwebte mir stets ein anderes Buch im Kopf herum, über die politische Blödheit Australiens; das Buch werde ich „My Australia, Land of all or no Hope“ nennen, und ich schreibe es unter dem Pseudonym Gerhard Nimsch. Aber jetzt muß ich erst mit dieser Autobiographie fertig werden. Ich erwarte nicht, daß Leute Interesse an meiner Lebensgeschichte haben werden, denn schließlich hat ja jeder eine Lebensgeschichte, die ein Buch wert ist. Ich habe meine entblößt, damit ich erst mal selber weiß, warum ich bin, wie ich bin und daß ich und meine Kinder mal ein vollständigeres Bild von mir haben. Also, lieber Leser, bedenke bitte, daß ich kein Schriftsteller bin und mich daher schwer auf einen Herausgeber oder Redakteur verlassen muß, das Ding eventuell lesbar zu machen. Meine englische Version (From Germany to Australia) zu schreiben war viel leichter für mich, da ich nun schon 54 Jahre in Australien lebe. Das Projekt hat mich oft zum Schwitzen gebracht, denn ich tippe mit zwei Fingern und mache oft Fehler, sehr oft. Dabei denke ich an den armen Luther, der angeblich mal auf der Wartburg sein Tintenfaß an die Wand schmetterte, als er meinte, der Teufel hätte ihn ausgelacht. Gott sei Dank hab ich kein Tintenfaß. Ich schäme mich aber ob meiner oft kurzen Geduld. Wie unglaublich schwer war es doch für Autoren zu Luthers Zeiten oder gar noch früher, mit Feder und Tinte, oft bei Funzelschein, auf teurem Papier zu kritzeln; Junge, Junge, wahre Helden der Geduld. Und bitte versteht, daß ich alle Namen in diesem Buch ersponnen habe - mir wurde geraten, daß das so sein muß. Sollte ich dieses Büchlein tatsächlich mal gedruckt bekommen, dann hätte ich das nur meinem treuen Schulkameraden Lothar Scholler (Lotsche) zu verdanken, denn der arme Kerl hat sich da ewig bemüht, einen ordentlichen Verlag in der Heimat zu finden. Er mußte aber erst mal das Werk unter viel Mühe, Geduld, Geschick und Ausdauer auf Deutsch lesbar gestalten. Ich hätte dazu nicht genug Geduld und Geist gehabt.



3 Reichenbach

Und da bin ich am 9. Dezember 1939 und probiere meinen ersten Atemzug. Jemand hat mal geäußert, daß man bei Geburt nackig, nass und hungrig ankommt und obendrein noch auf den Arsch gehauen wird, und danach geht das Leben bergab. Ich bin das dritte Kind von Gertrud und Wilhelm Süssenbach. Meine Schwestern Renate und Annelies sind mir mit 3 bzw. 9 Jahren vorausgeeilt; Mädels sind eben immer schneller. Unsere Adresse lautet Reichenbach, Eulengebirge, Schlesien. Vater ist Schmied und meine Mutter ist Hausfrau. Daß meine Mutter nicht lesen und schreiben kann, wird mir erst im dritten Schuljahr klar. Als sie selber im dritten Schuljahr war, fing der Erste Weltkrieg an, und ihre Mutter starb. Sie hat noch drei Geschwister, von denen sie die Älteste ist. Ihr Vater heiratet schnell ein junges Mädel von 22 Jahren und marschiert in den Krieg für Kaiser und Vaterland. Die Welt hat seitdem nichts dazugelernt, und mit den gleichen hohlen Parolen ziehen junge Soldaten heute noch zu Schlachten für ähnliche Lügen. Der Dank des Vaterlandes ist euch gewiss; Gloria, Victoria, Juchheirassa, und wenn ihr das glaubt, seid ihr nicht schlau. Amen. Wie gesagt: Mutter ist die Älteste und bleibt die Hausmagd. An Schule ist nicht zu denken, denn die war 5 km entfernt; monatelang liegt hoher Schnee, und feste Schuhe sind zu teuer. Die Kriegswinter waren immer eisig und lang. Mein Großvater kommt zurück vom Krieg und produziert noch 4 Kinder, also besteht für unsere Muttl keine Hoffnung, in die Schule zu gehen. Ich hab das meinem Opa nie verziehen. Wie gesagt, als ich dahinterkomme, daß meine Muttl kaum lesen und schreiben kann, nutze ich das schamlos aus. Wenn ich Drohbriefe und Mahnungen von der Schule bringen muß, zeige ich die Muttl nur in der letzten Minute, bevor ich zur Schule muß, und sie unterschrieb hastig. Vatl ist Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, der NSDAP, und lernt Muttl bei einer Parteikundgebung im Lande kennen. Er ist als Organisator behilflich bei solchen Versammlungen. Sie treffen sich, und Vatl verknallt sich in das liebe, ruhige, warmherzige Mädel. Wir haben denselben Geschmack, Vatl und ich. Als ich endlich auftauchte, liegt meterhoher Schnee in Reichenbach. Vatl ist sehr erleichtert, denn jetzt hat er einen Namensträger und ist nun bereit, dem Führer zu helfen. Bis dahin ist es seine Angst, daß der Krieg ohne ihn zu Ende geht. So hat’s uns Muttel später immer erzählt. Deutschland mußte ja der Welt beweisen, was die nordische Rasse alles machen kann - und mußte sich außerdem rächen für die Schmach von Versailles. Die Franzosen waren da echt wahnsinnig gewesen, und gelehrte Leute wußten damals schon, daß darin die Wurzeln für den nächsten Krieg wuchsen. Das Malheur war natürlich die Einladung für Hitler - seine Zeit! Wenn die enorme Rüstung beginnt, fragt kaum einer, wo die Finanzen herkommen. Billionen von Reichsmark. Aber das kannst du, lieber Leser, selber erkunden, denn heute ist das ja einfach herauszufinden im Netz. Die Leute, die von Kriegen Geld machen, sind heute noch da, und es sind oft noch dieselben Firmen oder Banken, und deswegen wird’s immer Krieg auf Erden geben. Wir, das Volk, sind ja so blöde, daß wir immer wieder auf Lügen reinfallen. Aber nicht, daß der Leser denkt, daß ich damals davon was geahnt hatte; nein, ich war der Dümmste von allen, aber eins ist mir klar geworden: Leute wollen ja veralbert werden, das sieht man bei jeder Wahl in den sogenannten westlichen, demokratischen Ländern. Ich bin 10 Monate alt, als Vatl in den Krieg zieht. Er will zu den Panzern, und da mußte er erst in Breslau zu Pferd gedrillt werden, darüber muß ich heute noch lachen. Ich habe noch Bilder, wo er als Husar oder Ulan reitet. Was Pferdereiten mit Panzern zu tun hat, hat uns gewundert. Alle diese Informationen haben mir die Mädels oft geschildert. Als Vater dann endlich zu den Panzern kommt, wird er erst mal irgendwie nach Afrika geschickt für ’ne Weile. Dann geht’s nach Russland. Ja, wir Deutschen müssen ja den armen Russen zeigen, wie man Land bearbeitet, denn von modernem Ackerbau und Viehzucht hatten die Russen nicht viel Ahnung. Die armen Kerle waren sehr primitiv und hatten unter den Kommunisten schwer gelitten, und wir Deutschen müssen das alles in Ordnung bringen. Ja, wie weise waren doch meine Mädels! Als Vatl von Afrika kommt auf dem Weg nach Russland, verbringt er zwei Wochen mit uns, und die Mädels haben mir diese wunderbare Zeit oft in allen Farben geschildert, wie herrlich das war. Mir hat er ein Dreirad gebaut - er konnte ja alles fabrizieren mit seinen Händen -, ein schönes Dreirad mit Gummireifen von ’nem kleinen Flugzeug. Und er hat sich auch riesig gefreut, wie groß wir geworden sind. Aber das Dreirad kann ich erst meistern, wenn ich beinahe 3 Jahre bin. Dann der große Abschied - und zu Weihnachten bin ich wieder da. Dieses traurige Versprechen wurde ja millionenfach wiederholt an allen Seiten der Front. Es kam aber anders. Ich habe aber das Dreirad und seine Tabakpfeife ohne Tabak und sein Käppi. Meine Mädels haben mir das alles immer wieder erzählt. Wir hatten alle ein Bankbuch, und Muttl hat’s mir oft gezeigt. Wir hatten jeder 10.000 Reichsmark auf dem Konto. Vatl und Muttl waren eiserne Sparer.



4 Unser Heim

Unser Haus stand in der Schweidnitzer Strasse 34 in einem grossen Hof. Auf einer Seite stand die prächtige Villa vom Herr Major; ein zweistöckiger Bau mit einer großen, breiten Treppe, und dahinter war ein wunderbarer Park mit einem trockenen Springbrunnen, worin aber trotzdem manchmal Frösche waren. Die Frau Major sah ich meistens nur von Weitem. Sie schwebte immer mit schönen, langen Kleidern herum. Auf unserer Seite waren fünf Häuser, also unseres und dann noch vier hintereinander. Im Letzten wohnte der Schweinebauer gleich neben dem Tor zum Schweinefeld. Die anderen Familien waren die Kornetzkis, Zeunerts, Kilians und Hofs und deren Kinder; die Männer waren ja im Krieg. Unter den ganzen Kindern waren nur zwei Jungs, ein älterer und ich, und neun Mädels im Alter von 6 bis 13 Jahren. Der ältere Junge ist aber tödlich verunglückt. Am Ende des Hofs stand immer ein Jauchentank mit großen Stahlrädern, und wie der Junge da reingefallen ist, weiß keiner. Ob er reingeguckt hat in den Jauchentank und ist ohnmächtig geworden von dem Gestank? Da gab’s Zeter und Mordio von den Frauen. Dann kam die Feuerwehr. Mann, die sahen klasse aus. Sie hatten solche dunklen Anzüge und glänzende Messinghelme und ein riesengroßes, rotes Auto, und die holten den Knaben raus. Dann wurde uns aber feste eingehämmert, niemals zu dem Jauchenwagen zu gehen. Und so war ich nun der einzige Mann im Hof. Meine etwas klareren Erinnerungen beginnen, als Annelies schon ins Gymnasium geht. Renate ist in der Grundschule. Annelies gehörte zum BDM, dem Bund Deutscher Mädel. Mann, sie sah so hübsch aus: lange schwarze Haare, die sie oft in Zöpfe geflochten hat, weiße Bluse, schwarzer Rock und einen Schlips aus geflochtenen Leder. Ich habe immer meinen Kopf gegen den Eisenzaun gedrückt, wenn die beiden zur Schule gingen und fühlte mich dann so einsam und verlassen, denn die anderen Mädels waren nicht scharf auf meine Gesellschaft. Vielleicht war ich ihnen zu langsam oder zu deppert. Wenn meine Mädels nach Hause kamen, durfte ich meistens mitspielen, ob’s den anderen gepaßt hat oder nicht. Leider glaube ich, daß ich vielleicht bissel gepetzt habe, wenn ich auf die Schippe genommen wurde. Ich war ein Muttersöhnchen. Aber eins konnte ich, was die Weibleins nicht konnten: Direkt vor unserem Haus stand ein Lindenbaum. Ich weiß nicht genau, ob’s ein Lindenbaum war, aber jedenfalls in drei Meter Höhe hat der sich gegabelt - ein Riesenstamm ging nach rechts und der andere nach links. Und in der Mulde, da hab ich gern gesessen und mir die Welt angeguckt. Die Mädls kamen da nie hoch. An unser Haus kann ich mich nur spärlich erinnern, und manchmal vermute ich, daß meine Erinnerungen sich mit den Schilderungen meiner Mädels vermischen. Ins Wohnzimmer zu gehen wurde uns kaum erlaubt, obwohl ich weiß, daß da ein großes, rötliches Sofa stand mit zwei Polstersesseln und ein großes Radio, auf dem eine braune Holzfigur stand. Es war Jesus, der Schäfer, der ein kleines Schaf auf dem Arm trug, und in der anderen Hand hielt er einen großen Stab. Ich konnte gerade so da hochreichen, denn wenn man Jesus einen kleinen Stups gab, dann nickte er ganz freundlich für ’ne Weile. In Mutters Schlafzimmer war ein großes Bett und ein Schrank, und über dem Bett hing ein Bild von Jesus, wieder mit einem Lamm im Arm. Die Mädels sagten mir oft, daß Muttls Schlafzimmer und unsere Wohnstube das heilige Sanktum im Haus waren, wo wir kaum reindurften. Meine nächste, feste Erinnerung ist, wo ich mich auf mein Dreirad setzte und in die Stadt bis zum Ring radelte. Am Ring war ein Eiscafe, eine Eisdiele, da bin ich reingegangen, hab mein Dreirad unter der Theke geparkt und habe höflich nach einer Eiscreme gefragt, die ich auch bekam. Das Leben war doch so wunderbar, wenn man etwas unternahm. Ich fühlte mich so erwachsen und fragte flugs nach ’ner zweiten Portion, die ich auch bekam, und die schmeckte noch besser als die erste. Und während ich an die dritte dachte, kam Muttl rein: Also, aus der dritten Eiscreme wurde nichts. Es folgte eine laute Predigt. Die Eisfrau hatte Muttl angerufen. Wir hatten kein Telefon, aber die Frau Major hatte eins. Ja, und das war der erste und letzte Ausflug, den ich allein unternommen habe, denn das wurde mir streng untersagt für die Zukunft. Ich durfte nicht mehr allein aus dem eisernen Tor raus. Wenn man bei uns aus dem Küchenfenster rausgeguckt hat - wir hatten keinen Hinterhof -, da war gleich eine Landstrasse und darüber war ein großes, umzäuntes Gelände. Große Baracken standen in der Mitte, und auf den Feldern waren oft viele Leute in blauen Schlosseranzügen. Die Mädl’s sagten, daß das tschechische, polnische und russische Kriegsgefangene sind, die dort trainiert und ausgebildet wurden. Uns wurde befohlen, nicht groß rüberzugucken, aber wir haben das oft vom Fenster aus getan. Diese Mannschaften zogen oft in Arbeitskolonnen an uns vorbei, um in der Stadt nach dem Rechten zu schauen. Wenn die Leute was verkehrt gemacht hatten, haben sie oft Prügel gekriegt mit der Peitsche, und ich habe auch einmal gesehen, wie ein Mann auf dem Boden lag und da noch getreten wurde. Ich hab mich dann bei Muttl beschwert, und sie bat mich, da nicht mehr hinzuschauen, sondern die Gardinen zuzulassen. Einmal hörte Muttl, dass die Leute, wenn sie unsere Abfalltonnen leerten, nach was Essbarem suchten. Da wurde mit den anderen Frauen diskutiert, und von da an ließ man eingewickelte Essensreste oben in den Trommeln. Eines Tages gingen wir zu Fuß in die Stadt, aber Annelies blieb daheim. Als wir zurückkehrten, fanden wir mein großes Schwesterlein unheimlich aufgeregt und verheult vor, und Frau Zeunert saß bei ihr und hat sie an sich gehalten. Unter Tränen und Schluchzen stammelte sie, daß sie beim Haarekämmen im Spiegel sah, wie eine Hand hinter ihr zum Türspalt reinkam, worauf sie sich mit aller Gewalt gegen die Tür warf. Die Hand ließ etwas fallen und versuchte sich zu entziehen, was ihr nach ’ner Weile auch gelang. Der Gegenstand war ’ne Art Spielzeug; eine runde Holzplatte, worauf vier Küken standen, und wenn man einen Faden zupfte, fingen die Küken an zu picken. Das muß einer von den armen Kerlen nebenan gewesen sein, der bestimmt das Ding tauschen wollte für was Essbares. Nun haben die Frauen geheult und beschlossen, dann mehr Esszeug in den Trommeln zu lassen, bis dann eines Tages ein Offizier kam und Mutter unheimlich laut verwarnte. Wenn das noch einmal vorkäme, würde sie eingesperrt werden. Aber da hat Muttl ihre Geduld verloren und hat dem Mann ordentlich ihre Meinung gegeben von wegen „Bestrafen“. Und ob er sich nicht schäme, die Leute nebenan verhungern zu lassen und warum er nicht wie unser Vatl an der Front kämpft. Die gute Frau Major kam hinzu und hat die Sache beschwichtigt. Sie hatte des Mannes Auto und den Fahrer vor unserem Haus gesehen und schon gedacht, daß unserem Vatl was zugestoßen war. Schliesslich machte sich der Offizier von dannen, aber die Frau Major sagte dann zu Muttl: „Frau Suessenbach, das dürfen Sie nicht wieder tun, so gut Sie es auch meinen, denn diese Leute, die nehmen keine Rücksicht, und letzten Endes werden Sie noch als Feind des Vaterlandes hingestellt. Das sind eben keine Männer wie Ihr Mann und mein Mann, sondern das sind Feiglinge.”Traurige Zeiten, wenn Frauen die verhassten Mitteilungen bekamen, daß das Kommando der Wehrmacht bedauert, daß ihr Mann gefallen oder vermisst ist. Im Hof war Frau Kilian die Erste, die solch ein Telegramm erhielt, und da gab es Tränen und Trauer und noch mehr Tränen. Das „vermisst“ verstand ich nicht, denn ich wußte, was Mist war; da hatte ja der Schweinebauer einen Riesenhaufen davon. Ich dachte, daß ein Soldat vielleicht in ’ne Mistgrube gefallen war, und warum das tragisch ist, kapierte ich nicht. Ich glaubte, daß ich sogar aus ’ner Mistgrube rausklettern konnte. Das war aber so die Zeit, wo ich meine Mädels nicht nach allem fragte, denn da gab es zu oft Gelächter. Wir hörten, daß die Front immer näher kam. Die Front? Da hatte ich auch wieder keine Ahnung, wie das war mit der Front. Ich wußte, daß es Krieg gab mit Schießerei und Verwundung und Sterben, aber wie kann das alles auf uns zukommen, näher kommen? Ich war aber bereit für die Front. Wenn das Ding zu uns nach Reichenbach kommt, dann zeige ich meinen Mädels, wie man am Lindenbaum hochklettert und es sich dann in der großen Gabelung bequem macht, wie ich es so oft schon getan hatte. Na, und dann können wir das Frontding von da oben betrachten. Dann kamen die ersten Militär- und Flüchtlingskolonnen an unserem Hof vorbeigezogen. Wir haben da stundenlang am Zaun gesessen und geguckt und gestaunt. Truppen marschierten; manche lagen auf Lastautos oder Pferdewagen; manche kamen auf Motorrädern, und dann wieder mehr Marschkolonnen, aber die sahen müde aus. Manche waren auch verbunden. Die Frauen wußten, daß es nicht sehr gut aussah mit dem Krieg, obwohl Goebbels von früh bis abends - wurde mir gesagt - gepredigt hat, wie sicher wir waren, denn der Führer hatte einen Meisterplan, die zweite Front - und das bedeutet das siegreiche Ende. Was der geheime Plan und die geheime Waffe waren, darüber wurde viel gemunkelt. Das Radio wurde heimlich die Goebbelsschnauze genannt, denn der hatte eben eine endlos große Klappe. Endlich erzählte ich meinen Mädls von meinem Rettungsplan auf dem Baum. Sie guckten sich zwar an, lachten aber nicht, und darüber war ich ganz schön stolz. Die Roten Horden konnte ich mir nicht vorstellen. Warum sich rot anmalen? Aber wie gesagt, ich hatte meinen Plan, und das gefiel mir recht. Wenn immer ich Schuberts „Am Brunnen vor dem Tore“ höre, sehe ich ihn immer noch vor mir, unseren treuen Baum im Hofe. Wer weiß, ob er noch steht. Eines Tages sind wir alle zum Ring gelaufen zu ’ner großen Militärparade. Das war klasse, mit lauter Blaskapelle und Parademarsch. Dann kam eine kleine Gruppe vorbei, wo ein Soldat nicht mithalten konnte. Er war hinterhergehumpelt und fiel immer weiter zurück, und die Soldaten in der letzten Reihe, die haben sich umgedreht nach ihm, haben ihm zugewunken, aber der kam nicht mit, und das hat mich so traurig gestimmt, daß ich anfing zu heulen. Muttl hat mich an sich gedrückt und getröstet, daß am Ende seine Kameraden schon auf ihn warten werden. Da stand eine Bühne, worauf ein Offizier in schwarzer Uniform predigte, daß der Krieg bald zu Ende ist, denn die zweite Front ist beinahe fertig, und daraufhin wurde geklatscht und gejubelt. Aber plötzlich wurde ich weggerissen von meinen Mädels, und wir rannten wie die Hasen, so daß mir bange wurde. Hinterher erfuhr ich, dass drei junge Soldaten erhängt wurden, weil sie Deserteure waren, Feiglinge.
4 Sterne
Ein planloses Leben - 28.03.2020
L. Schulze

Der Autor lebt seit 60 Jahren in Australien und hat seine Muttersprache nicht vergessen. Er ist kein Schriftsteller und dennoch gelingt es ihm ohne geschliffene Formulierungen den Leser mit seiner Lebensgeschichte in seinen Bann zu ziehen. Die Kriegsjahre, die Flucht aus Schlesien, die Suche nach Integration in der neuen Heimat Ostdeutschland, die er mit 17 Jahren Richtung West verlässt, die Suche nach neuem Glück in Australien, der Aufbau einer neuen Existenz – all das erzählt er mit einfachen Worten sachlich, interessant, eindrucksvoll, anschaulich, nicht ohne Humor und oft sehr berührend. Er bietet damit auch viel Einblick in seine Gefühlswelt und seine familiären Bindungen. Der Autor hat in seinem Leben viel versucht um eine Existenz aufzubauen. Besonders beeindruckt hat mich dabei, dass er nach Rückschlägen und Niederlagen immer wieder aufgestanden ist.Dieses Buch dürfte nicht nur für die ältere Generation interessant sondern auch für die jüngeren Leser wertvoll sein, da sie erkennen können, dasss man mit viel Fleiß, Enthusiasmus, Geradlienigkeit und Ehrlichkeit zum Erfolg kommen und nebenbei noch einen kleinen geschichtlichen Rückblick auf die Kriegs- und Nachkriegsjahre erhalten kann.Daß die Fotos in schlechter Qualität sind und manches Detail dem Leser vielleicht etwas weitschweifig erscheinen mag, hindert mich nicht daran, das Buch als willkommene Neuerscheinung einzuschätzen.

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