Treppenwitz zur Urkultur

Treppenwitz zur Urkultur

Sprung in unsere Leitkultur?

Walther Wever


EUR 17,90
EUR 10,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 290
ISBN: 978-3-95840-882-1
Erscheinungsdatum: 09.10.2019
Bernd und Claudia lernen einander durch Zufall im Hofbräuhaus kennen, wo sich eine Diskussion über den Begriff „Leitkultur“ zwischen ihnen entspinnt. Aus dieser entwickelt sich eine Serie von Vorträgen über die mitteleuropäische Urgeschichte.
Prolog

„Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten,
die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.
Mir zu gelingen, endlich, scheint euch festzuhalten,
dank euch, ihr Nornen, die mir wohl geneigt!
Ich krieg euch, himmlisch ferne Urgewalten.
Verdammt, wie steil ist doch der Pfad!
Sieh da, am Schluss des Tunnels wird es heller,
ich geb nicht auf – und würd’s noch zehnmal greller.“

An seinen Schläfen nimmt er das heftige Pochen seines Pulsschlages wahr. Doch das hält ihn nicht davon ab, weiter an dem selbst gebrauten Gemisch zu schnüffeln, das ihn wundersam empfindsam macht für all das, was ihn umgibt. Nicht um sich zu berauschen, sondern beseelt alleine von dem Drang, nach dem Ursprung des Seins zu suchen, seines eigenen und gleich dem der gesamten Welt. Er sieht sich auf der Zielgerade. Sie erscheint ihm greifbarer. „Bist du noch zu retten?“, stellt er sich die Frage. Doch nur dann nicht, wenn er jetzt aufgäbe, befindet er trotzig. Er merkt, wie seine Sinne schwinden. Während Bernd bisher von einem immer lauter werdenden, pfeifenden Geräusch begleitet wurde, ist es urplötzlich totenstill und stockfinster. „Wo bin ich?“, will er wissen, worauf ihm eine freundliche, tiefe Stimme antwortet:
„Beim Weltgeist bist du, herzlich sei willkommen!“
„Beim Weltgeist? Gebt mir etwas Licht!“
„Ich weiß, die Welt hier scheint dir trüb,
zu dunkel und verschwommen,
denn Licht, das gibt’s hier oben nicht.
Sei unbetrübt! Du bist im Grunde nur benommen,
weil selbst das Licht hier oben bricht.
Hier ist das Reich des ‚Antimateriellen‘,
im schwarzen Loch Gefühle nur erhellen.“

Bernd merkt ein ungutes Gefühl in sich aufkommen. Ist dies etwa das Fegefeuer? „Muss ich nun bangen, dass Gut und Böse um mich streiten, kämpfen, ringen?“ Er hört ein schallendes Gelächter. „Mein Sohn, so etwas gibt es wirklich nicht!“ „Oder ist das gar das große Tribunal?“ „Ein Hirngespinst ist auch dieses.“ Bernd versucht, diese Erkenntnisse in sein bisheriges Weltbild einzuordnen. „Das wäre im Grunde wirklich zu banal.“ Erneut vernimmt er ein schallendes Lachen, irgendwie merkwürdig verzerrt.
„Das alles sind nur, Freund, sehr schlichte, irdische Themen,
Mit Glauben kommst du hier nicht weit.
Selbst Eigennutz – die Gier des Raffend-an-sich-Nehmen –
hier oben fremd ist! Da sie nie gedeiht
in einer Welt geprägt von Körperlosigkeit.“

Bernd ist fasziniert. So hätte er sich die „Jenseits-Welt“ nicht vorgestellt. Ohne Eigennutz, ohne Materie, ohne Trennung von Spreu und Weizen und vermutlich auch von Gut und Böse.
„Auf zur Befragung nun! Du sollst im Trüben staken
hier bald nicht mehr auf diesem Fleck.“

Bernd stutzt. Er verspürt einen Luftzug, der seinen Hals zuzuschnüren beginnt.
„Ich ahnt es schon, die Sache hat doch einen Haken,
ich wusste, ganz so billig komm ich hier nicht weg.“
Doch sein Gegenüber scheint ihn beruhigen zu wollen.
„Die meisten hier, wie du, zunächst darob erschraken.
Ein göttlich Spiel ist unser ganzer Zweck.“

Er runzelt seine imaginäre Stirn.
„Ein Spiel nur, das vom Anbeginn
des Lebens Grund ist letzter Sinn?“

Bernd ringt mit der Fassung. Nichts als ein Spielball der Götter zu sein, hatte er immer wieder befürchtet, doch die Gewissheit beraubt ihn doch seines imaginären Atems.
„Die Sonne dort brennt nach der guten alten Weise
mit uns im Brüdersphären-Wettgesang,
mit unsrer Macht, die lichtscheu ist auf ihrer Reise.
Und gleichwohl stärkt der Menschheit irdisch Gang
als eine magisch Sphärenkraft,
die bei ihr Orientierung schafft.“

Er versteht kein Wort. Bernd hat nur noch eines im Sinn. Er will Zeit schinden, still hoffend, auf diese Weise wieder die Kontrolle zu gewinnen. Was nur könnte Antimaterie für eine positive Kraft auf der Erde entfalten? Wie könnte sie Orientierung geben?
„Mein Sohn, ich weiß, es überfordert menschlich Sinnen,
ich spüre, Hilfe sucht der arme Mann.
Wie soll’s erklären ich? Lass mich mal so beginnen.
Schlicht telepathisch man uns nennen kann,
den Träumenden erscheinend tief da drinnen,
so halten fest euch wir im Bann!
Ihr glaubt, ihr würdet selbst euch inspirieren,
dabei sind wir es, die euch stets soufflieren.“

Bernd prüft seine Gedanken. Die schwarze Kraft ist nicht das Böse, sondern der Weltgeist, der Erdenbürger als unsichtbarer Berater führt? Aber eben nicht in der Form von Spinozas puppenspielendem Gott, sondern mittels eines Kampfes mit dem Licht? So hatte er sich das Nullsummenspiel von Materie und Antimaterie nun wirklich nicht vorgestellt.
„Darf ich noch fragen eines, denn ich kann’s nicht lassen,
gibt es denn später noch ein Weltgericht?“
„Ich wünscht, ich wüsst es, doch hier muss ich leider passen.
Auch ich den Schöpfer traf noch nicht.
Ich spreche hier nur für die regen Geistermassen.
Ihn sah ich nie vom Angesicht.
Ich weiß nur, wir sind Teil von seinem Spiel
im Kampf mit der Materie, er so’s will.“

„Das also“, so schießt es Bernd durch den Kopf, „ist ‚des Pudels Kern‘.“ Ein irdisches Konzept, das ihm eigentlich schon auf Erden hätte in den Sinn kommen können, ein göttliches Spiel zweier Kräfte mit offenem Ausgang. Mitten in diesen Überlegungen wird er von einem Gedankenblitz abgelenkt. Wenn diese „Wolke Sieben“ hier also die Menschen beeinflusst, so verfügt sie sicher über einen Gegenpart im irdischen Lebewesen. Dann wäre das der kleine Teil, der sich auf seiner Reise „durch den Tunnel“ hierhin aufmachte. Nicht in seinen sterblichen Überresten verbleibend, sondern weiterstrebend, um sich mit ihr – der Summe aller Seelen – zu vereinigen. Dann würde er doch noch einmal die Chance erhalten, seine liebende Mutter und seinen abwägenden Vater zu verspüren, um so manch nagende Fragen nach dem „Warum“ doch noch stellen zu dürfen. Mutig fragt er:
„Werd ich die elterlichen Seelen heut hier finden?“
„Hab Acht, du bist dabei schon längst mein Sohn.
Verspürst du nicht, wie sie sich grad verbinden
mit dir?“ „Ich spür ne wohlig’ Wärme schon!“

Ein angenehmes Gefühl überkommt ihn, so als käme er endlich zurück nach Hause. Was für ein versöhnliches Ende nach dem irdischen Kampf. Doch bevor er sich nun auf diese Begegnung konzentriert, schießt es ihm noch durch den Kopf. Wollte ihn nicht der Sprecher der „Wolke Sieben“ noch vernehmen? Der lässt mit diesem Unterfangen nicht lange auf sich warten.
„Mein Sohn, ein jeder nutzte seine Seelenkräfte
auf Erden für sein eig’nes Glück.
Der eine also brauchte seine irdisch Säfte
zu handwerklichem Tun, Geschick.
Der andere fürs Lehren oder Geldgeschäfte,
für Wissenschaft, für Kunst, Musik.
Recht vielen so gelang sich zu erwählen
den eignen Weg! So reiften ihre Seelen.“

Bernd ahnt es, das also wollte der Weltgeist von ihm. Diese Erfahrungen absaugen, um sie fortan dazu einzusetzen, die Erdenbürger zu inspirieren. Jener Sprecher würde ihn nun sicher fragen, womit er sein Leben verbrachte. Sollte er sagen, er habe in seinem „ersten Leben“ als Unternehmer zumindest indirekt „dank der unsichtbaren Hand“ einen Beitrag zum Wohlstand der Menschheit geleistet? Oder sollte er nicht lieber doch auf sein „zweites Leben“ abstellen, sich als überzeugter „Aussteiger“ gerierend, literarisch wie Don Quichote gegen die Windmühlen des Wahns der Welt ankämpfend?
„So sage nun, was war dein Tun, war deine Gruppe?“ –
„Ist jeder gleichberechtigt hier?“ –
„Ich bin’s, der hier die Fragen stellt,
was also tatest du in deiner Welt?“

Nun erst erahnt Bernd anhand der zunehmenden Lautstärke des wundersamen, ihn umgebenden Summens, dass sein Gegenüber nicht allein ist. Er scheint von unterschiedlichen tongebenden Wolken umgeben zu sein, die sich alle für ihn zu interessieren scheinen, mal höher, mal tiefer summend. Hier im Dunklen beschließt Bernd, sie sich als größere oder kleinere Nebel vorzustellen, die je nach ihrer Größe unterschiedlich laut summen. Zu seinen Lebzeiten legte er immer großen Wert darauf, ein Individualist zu sein. Warum sollte er es hier oben, im Reich der Antimaterie, nicht auch mit dieser Masche versuchen? Auch wenn ihm die Situation nach wie vor nicht geheuer erscheint, entschließt er sich, sich nach der kleinsten Wolke – sprich dem leisesten Klang – zu erkundigen.
„Wofür steht dieser Klang?“ „Ist Künstlern vorbehalten,
voll anteilnehmend Emotion.
Zwar klein, doch einflussreich beim Wirken und Gestalten,
die Menschheit führend mit Vision,
wirkmächtig musisch Seelen-Leuchtgestalten!“

Bernd verspürt den anerkennenden Unterton seines Gegenübers. Es rutscht sofort aus ihm heraus:
„Da will ich hin, ich weiß es schon!“
„Halt, halt, das Spiel du spielst verkehrt,
der Himmel ist kein Wunschkonzert!“

Der Sprecher fordert ihn mit kritischem Unterton dazu auf, ihm zu erläutern, was ihn zu diesem Wunsch veranlasst. Bernd verspürt darob eine gewisse Erleichterung. „Die Schlacht ist also noch nicht geschlagen.“ Er erinnert sich an seine Verzweiflung über die immer größeren irdischen Missstände kurz vor dem Ende seines Lebens – und seine Ohnmacht, gegen sie anzukämpfen. Und doch hatte er es immerhin versucht. Hatte er nicht immer lauter die Lethargie seiner Landsleute angeprangert? Die Jedermanns immer und immer wieder kritisiert, sich mehr für Umweltschutz, Freiheit und Solidarität einzusetzen? Hatte er nicht immer lauter die Einstellung seiner Landsleute an den Pranger gestellt, Europa in den Dreck zu ziehen, anstatt die Visionen einer gerechteren, internationalen Welt ohne globale Korruption und Verbrechen zu bekämpfen? Hatte er nicht gleichzeitig all die Gutmenschen kritisiert, die – mit ihrem Beharren auf eine aus seiner Sicht falsche, global geprägte „politische Korrektheit“ – viele kulturelle Eigenarten zum Einsturz brachten? Er hatte all dies getan. Ja, er hatte sogar den Mut aufgebracht, diesen Sorgen mit neuen Denkansätzen entgegenzutreten.
„Wie äußerte sich dein Mut?“ Nun erst wird Bernd bewusst, dass sein Gegenüber offenbar seine Gedanken lesen kann. „Mit einem Buchprojekt“, antwortet er trotzig. „Für wen?“ „Geschrieben für diejenigen, denen die eigenen Wurzeln nicht gleichgültig sind. Und für unsere europäischen Nachbarn, um ihnen ein klein wenig mehr Verständnis für unser Sosein abzuringen. Um ihnen begreiflich zu machen, warum wir uns so quälen bei dem Versuch, uns selbst immer wieder davon zu überzeugen, noch zu retten zu sein.“ „Mit welchem Erfolg?“
Er stutzt. Er versucht sich krampfhaft zu erinnern. Wie soll er diese Frage beantworten? Er hatte das Buch geschrieben. Aber war es bereits veröffentlicht, als er sein irdisches Leben verlor? Er hatte mit einem Verleger verhandelt, der meinte, so ein Buch könne man nicht schreiben. Er erinnert sich an die lächerlichen Diskussionen, nur weil er „out-of-the-box“ dachte, schrieb, was in keinen Lehrplan passte. Doch er wusste, Schüler würden sich nicht so einfach verklappsen lassen, so sehr sich dies die Schulpolitiker auch wünschten. Sich aus jugendlichem Leichtsinn der Tatsache wohl bewusst, nur sie allein hätten den Schlüssel dazu, sich spielerisch zum Wesenskern unserer kulturellen Wurzeln vorzuarbeiten, ohne der Manipulation der Älteren zu erliegen. Einfach das, was ihrer Ansicht nach nicht mehr in den Zeitgeist passte, links liegenlassend. Um bestenfalls das zu bewahren, was einfach und plausibel genug war.
Er hatte sich darum bemüht, einfach zu sein. Verdammt einfach. Zu einfach? Mal ja, mal nein. Doch war das Buch verlegt worden? Er weiß es nicht mehr. Er erinnert sich nur noch an seinen Disput mit dem Verleger, darauf zu achten, weder zu sehr in die von Sachlichkeit geprägte, hölzern spröde Sprache abzugleiten noch in systembedingt oft unerträgliche Vereinfachungen. Doch wenn er ehrlich ist, kann er sich beim besten Willen nicht mehr an die Wirkgeschichte seines Buches erinnern.
„Ich will nicht lügen, will – ganz ehrlich – auch nicht stressen,
Ich will bescheiden mich beseh’n bei Licht.
Ich hab die Wirkgeschichte meines Buchs vergessen!
Könnt ihr für mich sie prüfen nicht?“

Akzeptiert der Sprecher diese Frage? Nein, er reagiert sogar ärgerlich. „Wenn dies hier jeder versuchte, verbrächte ich den ganzen Tag mit diesem unnützen Studium.“ Nach einer kurzen Bedenkzeit setzt er fort: „Egal.“ Bernd ist verdutzt. Egal?
„Das Echte bleibt der Nachwelt unverloren,
erscheint in einer neuen Lichtgestalt.
Was glänzt, ist für den Augenblick geboren.
Wenn du mit Worten gabst der Menschheit Halt,
wenn so was hätt’st du auserkoren,
du passtest zu der ‚Künstlerwolke‘ schlicht. –
Allein ich trau so ganz dem Braten nicht.“

Bernd wird heiß. Er merkt, wie sich sein Hals zuschnürt, er den Halt verliert. Ein nasskalter Abendzug umgibt, umhüllt und umschlingt ihn. Er fällt …
Schweißgebadet schreckt Bernd auf, vor sich hin murmelnd: „Gott sei Dank nur ein Traum. Was für ein merkwürdiger Albtraum.“ Er greift zu dem neben ihm stehenden Wasserglas, um einen kräftigen Schluck zu sich zu nehmen, das angenehme Gefühl des seinen trockenen Schlund benetzenden, lauwarmen Elixiers wohlig verspürend. Innerlich aufgewühlt beschließt er aufzustehen, denn längst hat sich die Gewissheit in ihm breit gemacht, nun ohnehin nicht mehr schlafen zu können. „Ist auch nicht so schlimm“, murmelt er leise vor sich hin. „Ich muss ohnehin in gut zwei Stunden los, um rechtzeitig den Flix-Bus nach München zu bekommen.“




1
Treffen auf Claudia in München –
Kultur der Keltenzeit,
800 v. Chr.–0

„Der Weg zu allem Großen führt durch die Stille“, befindet Bernd, sich selbst in seinem stickigen, winzigen und leider auch verstaubten Zimmer eines kleinen Münchener Gasthauses am Schreibtisch Mut zusprechend. Er versucht, sich erneut zusammenzureißen. Morgen ist Abgabetag und irgendwie ist der Text immer noch nicht ganz rund. Zwei Schweißperlen tropfen auf sein Manuskript. Er konzentriert sich, doch ahnt er längst, seinem Großhirn keine inspirierenden Gedanken mehr entlocken zu können. Er sieht aus dem Fenster. Schwarze Gewitterwolken türmen sich über dem Häusermeer, das zunehmend mit dem Himmel zu verschwimmen scheint. Vielleicht hat er es mit seiner Schlaflosigkeit übertrieben. Seine Augen schmerzen, seine Schläfe brennt. Wo war sein Sommernachtstraum, sein kleines Stück vom Glück? Aufgebraucht war es. Glück ist eine Maßeinheit, die für jeden begrenzt ist. Und seine war geleert, bis zum letzten Tropfen. Umgeschüttet in einer ihm nun so fern erscheinenden Zeit voller Hochmut, Leichtsinnigkeit und jugendlicher Naivität. Es gab kein Entrinnen mehr vor der nahenden dunklen Seite. Er spürt, dass seine Lebensuhr langsam rinnt und rinnt. Doch er stemmt sich nicht mehr hiergegen. Seine Frau will ihn – ausgerechnet ihn – verlassen, sein Geld zerrinnt zwischen seinen Fingern, seine Freunde mutmaßen, ihn habe eine Geisteskrankheit erfasst.
Er liebt seither seine Einsamkeit, das Spiel seiner Gedanken, solange sie nicht nur noch um sich selbst kreisen so wie gerade eben. Denn dann gelingt es ihm nicht einmal mehr, sich in eine vollkommene Gedankenfreiheit hinabfallen zu lassen. Leise brummt er vor sich hin: „Irgendwann geht die Konzentration halt zur Neige.“ Ihm ist nicht mehr nach Kontemplation zumute. Genauso muss sich auch sein PC fühlen, wenn er sich aufhängt.
Ein Neustart erscheint ihm daher unumgänglich. Er springt erleichtert über seine eigene Entscheidung geradezu freudig auf. „Dann mal auf zur Inspiration.“ Mit diesem erlösenden Satz scheinen urplötzlich seine Lebensgeister zurückzukehren. Allein aufgrund der Vorstellung, nun unter Menschen zu kommen. Erst jetzt bemerkt er die unerträgliche Schwüle, die bleischwer über der Stadt liegt. Mit gedämpften Tempo schleicht er in der Abendsonne über den flirrenden Asphalt, sich ohne Umschweife vorbei an schwitzenden Leibern zielstrebig zu dem am Platzl gelegenen Hofbräuhaus begebend. Endlich taucht die ihm vertraute Silhouette des Gasthauses hinter hunderten junger Leute auf. Beim Betreten des unteren Schankraums dröhnt ihm die traditionelle, bayerische Blasmusik entgegen, den Raum blechern durchdringend, ohne akustische Hindernisse des harten Kachelbodens sich über die holzvertäfelten Paneele ausbreitend, um sich nach oben hin in den blauweißen Rundungen der Decke zu verlieren, sich mit dem Lärmen der sich lautstark unterhaltenden, eng beieinander sitzenden Besucher vermischend. Wie auch mit dem dumpfen Aneinanderprallen der Humpen, um nach dem Zuprosten wieder – der Schwerkraft gehorchend – auf die blanken Holztische zu fallen, zu knallen. Bernd ist froh, einen kleinen Sechsertisch am Fenster zu ergattern, der ihm – als Stammtisch ausgeschrieben – auch heute wieder ein freies Plätzchen bietet. Es sei denn, ein Einheimischer besteht grantelnd auf seinem Recht, hier als Mitglied der Stammtischgemeinde sitzen zu dürfen. Doch heute hocken an diesem Tisch – an der zur Musik zeigenden Tischseite – nur zwei verliebt ineinander aussehende Touristen, sich offensichtlich über das Ambiente mit den vielen mit Lederhosen bekleideten Münchenern wundernd.
Also setzt sich Bernd an die gegenüberliegende Tischseite, von jenen gar nicht wahrgenommen. Denn am Fenster gibt es nichts Außerordentliches zu sehen, abgesehen von dem urplötzlich einsetzenden Prasseln der dicken Regentropfen, des sehnlich erwarteten, nun einsetzenden, gewitterlichen Platzregens.

Das könnte ihnen auch gefallen :

Treppenwitz zur Urkultur

Esther Räbsamen

Ein Double für die Beerdigung

Weitere Bücher von diesem Autor

Treppenwitz zur Urkultur

Walther Wever

Treppenwitz zur Hochkultur

Buchbewertung:
*Pflichtfelder