Wie sich wechseln Stund und Zeiten

Wie sich wechseln Stund und Zeiten

Die Lebensgeschichte einer Frau im barocken Gmunden

Maria Breitenbach-Mandl


EUR 17,90
EUR 10,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 332
ISBN: 978-3-99064-405-8
Erscheinungsdatum: 13.09.2018
Gmunden in Österreich im 17. Jahrhundert: Die kleine Josefa wird in die Zeit der Religionskonflikte und der bereits spürbaren Aufklärung geboren. Mit Witz, Charme und Romantik, aber auch Anregungen zum Nachdenken wird der Leser in die Welt des Barock entführt.
10.
Kaspar, Melchior oder Balthasar

1679


„Der Auftrag zur Realisierung des Hauptaltares
geschah auf Veranlassung eines ungenannten Wohltäters,
der den Namen von einem der Könige getragen haben soll.“

(aus dem Kirchenführer „Die Stadtpfarrkirche Gmunden“
von Stadtpfarrer Kanonikus Johann Schicklberger, 1930–2017)



Stadtpfarrer Dr. Johann Ferdinand Herakh liebte die Stille. Am späten Nachmittag des 4. Oktober 1679 war im Pfarrhof nach einem arbeitsreichen Tag erstmals ein wenig Ruhe eingekehrt. Pfarrer Herakh fand endlich Muße, sich an sein Pult zu setzen, um Schreibarbeiten zu erledigen. Und deren gab es wahrlich eine Vielzahl. Es galt eingehobene Gebühren für Taufe, Beerdigung, Trauung, Beichte, Krankensalbung einzuschreiben, Gehälter auszuzahlen, den Georgizins einzuheben, Stipendien an die Jugend zu vergeben und vieles mehr. In finanziellen Dingen war Pfarrer Herakh sehr genau. Sein Zechamt sollte eine korrekte Buchhaltung aufweisen können.
An diesem Tag ging er daran, die Abrechnung hinsichtlich des neu gestalteten Hochaltares fertigzustellen. Meister Thomas Schwanthaler wartete auf die Bezahlung für seine vollendete Arbeit. Von der Gasse drangen hin und wieder der Klang von Pferdehufen sowie die Stimmen sich im Vorbeigehen unterhaltender Menschen herauf. Sonst herrschte Stille in der Kanzlei des Stadtpfarrers. Nur das leise Kratzen des Federkieles am Papier war zu hören. Zügig und mit gleichmäßigem Schriftzug trug Pfarrer Herakh die zur Entlohnung des Künstlers Thomas Schwanthaler aus Ried aufgewendeten Mittel in seine Aufzeichnungen ein.
„Jene zwayhundert Gulden, welche zu den nun aufrichtenden Hochaltar distiniert …“
Noch einmal hielt er inne und sann darüber nach, ob es auch richtig gewesen, wie er in dieser Angelegenheit vorgegangen war.
Egal ob Recht oder Unrecht, den Stifter dieses Betrages durfte er nicht nennen. Er hatte sein Wort gegeben und dem Übergeber die Beichte abgenommen.
Über dessen Schuld zu richten stehe ihm nun nicht mehr zu, dachte er.
Das letzte Wort würde nicht hier auf Erden gesprochen werden.

Pfarrer Herakh legte den Federkiel beiseite und begab sich zur nur wenige Schritte entfernten Kirche und betrat sie durch den Eingang an der Sakristei. Das Licht der nun schon tiefer stehenden Sonne drang durch ein Fenster in den Altarraum und fiel auf die lebensgroße Figurengruppe auf dem in Schwarz und Gold gehaltenen Hochaltar. Während die Muttergottes mit dem Jesuskind am Schoß, der heilige Josef und der kniende Melchior bereits im dämmrigen Schatten lagen, erreichte der Sonnenstrahl gerade noch die ein wenig weiter im Vordergrund stehenden beiden anderen Könige Balthasar und Kaspar. Das Licht fiel auf Gesicht und Körper des Balthasar, der ein Gefäß mit Weihrauch in seiner Rechten hielt. Seine und des Mohren goldene Gewänder erstrahlten in königlichem Glanz. Für einen kurzen Moment blitzte der Edelstein im Ohrring des Mohren im wandernden Lichtstrahl auf. Die Lebendigkeit und Kraft sowie zugleich die Zartheit der Darstellung zogen den Betrachter unwillkürlich in ihren Bann. Trat man ganz nahe an die Figurengruppe heran, so war es, als begebe man sich mitten hinein in das biblische Geschehen und könne davon Zeugnis geben.
Leise sprach Pfarrer Herakh die Worte des Matthäusevangeliums aus:
„Sie gingen in das Haus und sahen das Kind und Maria, seine Mutter; da fielen sie nieder und huldigten ihm. Dann holten sie ihre Schätze hervor und brachten ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe als Gaben dar.“

Der Rest des Kirchenraumes lag bereits im abendlichen Dämmerlicht. Die beschauliche Ruhe wurde nur kurz durch die Schritte des Türmers, der zu seinem Wachtposten auf den Kirchturm hochstieg, unterbrochen. Oben angekommen, ließ er die Türe in der Annahme, dass niemand es hören könne - für Pfarrer Herakhs Begriffe ein wenig zu laut -, ins Schloss fallen. Wenigstens pfiff oder sang er dabei kein Wirtshauslied, dachte er.
Dann kehrte die Stille wieder ein.
In Betrachtung des einzigartigen Kunstwerkes kam Pfarrer Herakh noch einmal zu dem Schluss, dass er richtig gehandelt hatte. Wann immer er vor dem Altar stand, musste er an jenen Tag vor zwei Jahren denken, an dem Josefa frühmorgens an das Tor des Pfarrhofes klopfte und mit ihrer Hilfsbereitschaft, ohne es zu ahnen, einen entscheidenden Schritt zur Verwirklichung dieses Kunstwerkes gesetzt hatte. Das allerdings würde sie nie erfahren.

Josefa hatte sich rasch an die Arbeit beim Schneidermeister Krauß gewöhnt. Mehrere Wochen des Anlernens hatte sie nun bereits hinter sich gebracht. In den ersten Tagen schmerzten Schultern und Rücken von dem stundenlangen Sitzen in vornüber geneigter Haltung. Die Fingerspitzen waren wund von den zahlreichen versehentlichen Stichen, die sie sich in ihrer anfänglichen Ungeschicklichkeit zufügte. Das Nähen mit dem Fingerhut bedurfte einer gewissen Fertigkeit, die sie sich erst aneignen musste. Die Arbeiten, die man ihr zuteilte, bestanden hauptsächlich in elendslangen einfachen geraden Nähten.
Als sie eines Morgens im November des Jahres 1677 zur Arbeitsstelle aufgebrochen war und an der Behausung des alten Balthasar unweit ihres Elternhauses vorbeikam, rief dieser nach ihr.
„Halt ein, Mädchen! Auf ein Wort nur!“, bat der alte Mann.
Ein wenig unwillig wandte Josefa sich um. Noch nie zuvor hatte er sie angesprochen. Die Mutter legte dem verarmten Mann, der einst als Wasenmeister gearbeitet hatte, gelegentlich ein paar Eier, ein Stück Brot und ein paar Äpfel vor die Tür, für die er sich stets freundlich bedankte. Auch einen Achtering Most ließ sie ihm letzte Weihnachten zukommen. Ansonsten sprach man jedoch nicht viel miteinander.
„Was gibt’s? Was ist dein Begehr?“, fragte Josefa.
„Ich bitte dich inständig, sei doch so gut und erweise mir eine kleine Gefälligkeit“, sagte Balthasar und winkte sie mit seiner Rechten zu sich heran.
„Es ist wichtig, Mädchen!“, fuhr er fort. „Ich habe schon auf dich gewartet. Du kommst ja jeden Tag zur selben Zeit hier vorbei. Du gehst zur Arbeit, nicht?“, fügte er hinzu und strich sich mit seiner knorrigen Hand über den langen Bart.
Josefa kostete es Überwindung näherzutreten, da sie sich vor dem alten Manne ein wenig ekelte. Balthasar stand am Fenster, welches er nur einen Spalt weit geöffnet hatte.
„Worum geht es denn nun?“, fragte Josefa und versuchte nicht, ihre Ungeduld zu verbergen.
„Sei doch so gut und hol’ den Pfarrer für mich“, antwortete er, „es ist wirklich wichtig und duldet keinen Aufschub, hörst du?“
„Geht’s dir denn wirklich so schlecht, dass man schon einen Pfarrer rufen muss?“, entgegnete Josefa mit einem ungewollt abfälligen Unterton.
„Du siehst doch wirklich nicht gerade aus, als ob du in den nächsten Stunden dein Leben aushauchen würdest!“, rief sie ihm zu. Josefa war in Eile und es war ihr schlichtweg lästig, von dem Alten aufgehalten zu werden.
„Das geht dich nichts an, was ich mit dem Herrn Stadtpfarrer zu schaffen habe“, meinte er ein wenig ungeduldig. „Ich bitte dich aber nochmals inständig, einem Christenmenschen einen Liebesdienst zu erweisen!“
Josefa versprach, ihr Möglichstes zu tun, bezweifelte aber, dass der ehrwürdige Herr Stadtpfarrer den alten Wasenmeister in seinem Haus tatsächlich aufsuchen würde.
Glücklicherweise musste sie nicht lange warten, bis ihr das Tor des Pfarrhofes aufgetan wurde und sie ihre Schuldigkeit tun konnte. Sie wollte sich keinesfalls wegen eines Bettlers verspäten. Die Schneidermeisterin sah so etwas ungerne nach.
Pfarrer Herakh fand die Bitte des Balthasar, ihn in seinem Hause aufzusuchen, ebenfalls ein wenig sonderbar, wenn nicht sogar dreist, kam ihr aber dennoch nach. Er hatte sich für diesen Tag vorgenommen, das Sondersiechhaus, welches unter anderem auch aus Mitteln der Pfarre unterhalten wurde, aufzusuchen. Balthasars Haus lag am Weg und er vergab sich wohl nichts, wenn er mit dem Alten sprach. Das war auch ganz nach der Art des ehrwürdigen Dr. Johann Ferdinand Herakh. Als Doktor der Theologie und Rechtswissenschaften war er nach Jahrzehnten der unfähigen und machthungrigen Stadtpfarrer eine geachtete Persönlichkeit, die in Gmunden sehr viel zu Recht und Ordnung beizutragen in der Lage war. So wendete der ehrwürdige Herr Stadtpfarrer viel Zeit für die Beratung der Stadtobrigkeit auf. Hin und wieder gab er sich daher zur Abwechslung gerne den Gesprächen mit einfachen Leuten hin.
Es war mehr ein Verschlag als ein Haus, in dem der alte Balthasar sein Dasein fristete. In jungen Jahren hatte er als Wasenmeister - mancherorts sagte man auch Abdecker - gearbeitet. Seinem unappetitlichen, aber nichtsdestotrotz wichtigen Gewerbe konnte er bereits seit vielen Jahren nicht mehr nachgehen.
Seine Tätigkeit bestand im Entfernen von Kadavern in Stadt und Umland. Je nach Größe des Tieres, welches man ihm zu entsorgen auftrug, wurde er entlohnt. Was noch zu gebrauchen war, wurde verwertet. Die Kadaver lud er zum Abtransport auf seinen Karren und brachte sie aus der Stadt hinaus. Manche Tiere häutete er ab, um die Felle den Gerbern in der Linzer Straße zu übergeben. Was übrig blieb, wurde verscharrt oder verbrannt.
Hin und wieder entfernte er gegen Bezahlung von ein paar Kreuzern verschiedensten Unrat von den Straßen, mit welchem kein Bewohner der Stadt sonst in Berührung zu kommen wünschte.
Die Suche nach Arbeit führte ihn auch in entferntere Dörfer und Gegenden. Leben konnte Balthasar davon kaum. Kleinere Diebstähle und Unehrlichkeiten dort und da waren notwendig, um sich am Leben erhalten zu können. Wo immer jemandem ein paar Kreuzer abhandengekommen waren oder am Markt plötzlich zwei, drei Äpfel fehlten, fiel der Verdacht zuallererst auf Balthasar, wenn dieser sich in der Nähe aufgehalten hatte. Mehr getraute sich Balthasar auch nie zu entwenden, um nicht verfolgt zu werden.
Von der Bevölkerung war er aufgrund seines Berufes geächtet. Gestank und Pestilenz hingen ihm an. Man befürchtete, sich durch den Verkehr mit dem Wasenmeister allerlei Krankheiten und Übel einzuhandeln. So er in einem Gasthaus überhaupt geduldet war, musste er einen bestimmten Platz einnehmen - immer denselben und abgeschieden von den anderen Gästen. Die Kirche betrat er kaum. Wenn, dann stand er ganz hinten am Eingangstor. Hin und wieder betrat er die Annakapelle neben der Pfarrkirche, wenn es niemand sah. Besondere Frömmigkeit war ihm ohnedies nicht zu eigen. Er trat mit keinen Bewohnern in Kontakt, es sei denn zum Zwecke seines unbeliebten Geschäftes.
Seine Arbeit tat aber nun schon lange ein anderer. Das Haus, in welchem er sein Gewerbe betrieben hatte, lag außerhalb der Stadt. Da sein Nachfolger ihn nicht durchfüttern konnte, hatte Balthasar sich eine andere Bleibe suchen müssen und diese in dem verlassenen Haus unter dem Guglberg gefunden.
Balthasar war alt und gebrechlich geworden, sein Rücken war gekrümmt und seine Gelenke waren verformt. Er litt mehr an den Schmerzen als an der Einsamkeit, an welche er seit jeher gewohnt war. Er war den Bürgern ob ihrer Ablehnung nicht böse, liebte die Leute aber auch nicht. Die Ablehnung beruhte zum Teil auch auf Gegenseitigkeit, und er gestand sich sogar ein, mit der vornehmen Gesellschaft, den Stadtbewohnern oberer Schichten sowie Bürgern und Mitbürgern gar nichts zu tun haben zu wollen. Er wollte in Ruhe gelassen werden.
Pfarrer Herakh hatte eigentlich nicht vorgehabt, das Haus des Balthasar zu betreten, tat es aber doch, als dieser ihm erklärte, dass er eine Sache mit ihm zu besprechen habe, die nicht für die Gasse tauge.
Unwillkürlich wich Pfarrer Herakh zurück, als ihm der üble Geruch in der Stube entgegenschlug. Dieser ging aber weniger von der ärmlichen Einrichtung des Hauses aus als von seinem Bewohner selbst.
„Ich bin mir der Kühnheit, Hochwürden auf diese Weise in mein Haus zu beordern, durchaus bewusst“, begann Balthasar, „aber der ehrwürdige Herr wird mich mit Sicherheit verstehen, nachdem ich Ihm meine Geschichte erzählt habe“, erklärte Balthasar dem Stadtpfarrer.
„Bitte sehe der hochwürdige Herr Pfarrer das, was ich Ihm sogleich erzählen werde, gleichzeitig als Beichte an“, fügte er hinzu und bot dem vornehmen Geistlichen an sich zu setzen.
Die Stube war notdürftig aufgeräumt, am Tisch lagen Birnen und Nüsse auf einem Teller. Balthasar war vorbereitet.
Unruhig fuhr er sich mehrmals mit seinen verkrümmten Fingern durch das fettige graue Haar, blickte verlegen im Raum umher, als suche er irgendwo in der Luft nach Worten. Mit gesenktem Blick begann er schließlich mit seiner Erzählung.
„Es war im Jahr des Herren 1650, als in Ohlsdorf die schreckliche Pest ausgebrochen war. Hochwürden erinnert sich bestimmt auch daran“, begann Balthasar seinen Bericht.
„Mehrere Familien hatte es hart getroffen. Der Steurer zu Hildprechting beispielsweise hatte alle seine Leute verloren, beim alten Kainz waren es sechs Personen. Der Hof war damit sozusagen ganz ausgestorben. Die Leute waren starr vor Angst gewesen. Jeden hätte es treffen können.
Ich war damals noch ein wenig jünger und gut bei Kräften, als ich zu jener Zeit mit meinem Fuhrwerk in Ohlsdorf auf der Suche nach Arbeit unterwegs gewesen war. Es hatte in Strömen zu regnen begonnen und ich habe mich gerade nach einem trockenen Platz umsehen wollen, als zwei Männer auf mich zugeritten kamen.“
Stadtpfarrer Herakh hatte keine Vorstellung davon, was ihm der alte Balthasar zu erzählen hatte, nahm sich aber vor, aufmerksam zuzuhören.
„Der eine der zwei Männer“, fuhr Balthasar fort, „sagte zu mir, ich könnte mir etwas verdienen, wenn ich ihnen eine Arbeit abzunehmen bereit wäre. Den beiden sei aufgetragen worden, auf einem zum Landgut Hildprechting - einem Besitz des Johann Philibert von Seeau - gehörenden Hof nach den Bauersleuten zu sehen, da bereits seit Tagen keine Bewegung wahrzunehmen sei. Es bestehe der Verdacht, dass die Bauersfamilie an der Pest erkrankt oder bereits verstorben sein könnte, erklärten mir die Männer. In diesem Falle sei es ihre Aufgabe, sie zu bestatten. An die vierzig Leute waren an der Pest bereits gestorben. Seit einigen Tagen schon habe es keine Toten mehr gegeben. Bisher sei für sie auch alles gut gegangen. Man habe aber nach all dem, was in anderen Häusern bereits vorgefallen war, keine Lust mehr sich in Gefahr zu begeben und sich die abscheuliche Seuche gar noch selbst einzufangen, sagte er zu mir.“
Balthasar hielt einen Moment inne und bedeutete dem Pfarrer, sich doch einen der Äpfel zu nehmen. Dieser winkte dankend ab. So sprach Balthasar weiter.
„Ich komme ihnen daher gerade recht, fuhr der augenscheinlich Ältere der beiden fort. Es dürfe nur niemand davon Kenntnis erlangen, dass man die unangenehme Angelegenheit einem Abdecker überlassen habe, warnte er mich eindringlich, denn eine größere Schande könne man einem Christenmenschen wohl nicht antun, als ihn von einem verdammten Abdecker in die Grube werfen zu lassen wie ein verendetes Tier“, setzte Balthasar seine Ausführungen fort.
„Die damit zum Ausdruck gebrachte Verachtung mir gegenüber habe ich sehr wohl wahrgenommen“, sagte Balthasar, „ich habe damals nichts darauf geantwortet und die erniedrigende Bemerkung auf sich beruhen lassen.
Nachdem man mir eilig ein paar Münzen in die Hand gedrückt und mir den Weg zu besagtem Hof erklärt hatte, haben wir uns getrennt“, erzählte Balthasar weiter.
„Was für eine schändliche Tat, diesen Auftrag auf mich abzuwälzen, habe ich mir damals gedacht. Eigentlich hätte ich das Geld nehmen und das Weite suchen können“, erzählte Balthasar, „habe aber doch so viel Ehrgefühl gehabt, es nicht zu tun. Die beiden Feiglinge verachtete ich aber zutiefst!“
Den Ort, den er aufzusuchen hatte, habe er leicht gefunden, berichtete Balthasar weiter, und als er an den etwas abgelegenen Hof nahe genug herangetreten sei, habe er sogleich gefühlt, dass etwas nicht stimmte. Aus dem Stall sei kein Laut zu hören gewesen. Er war auch völlig leer. Kein verendetes Vieh, nichts. In der Scheune nebenan allerdings habe er neben einem Karren zwei Gäule vorgefunden - angebunden und offenbar vor Hunger und Durst unruhig wiehernd. Er habe sie sogleich losgebunden und auf die Weide gelassen.
Balthasar hielt in seiner Erzählung kurz inne, erhob sich von seinem Stuhl, ging unruhig umher und blieb schließlich am Fenster stehen. Dem Pfarrer nun den Rücken zuwendend erzählte er weiter.
„Dann bin ich in die Stube getreten. Ich habe nicht lange gebraucht, um zu fassen, was in diesem Haus vorgefallen war. Hier war ganz offensichtlich eine Flucht vorbereitet worden! Der Tod jedoch war schneller gewesen. Es hat sich mir ein Bild geboten, welches ich mein Lebtag nicht vergessen werde!“, sagte Balthasar, nahm seinen Platz gegenüber Pfarrer Herakh wieder ein. Lebhaft erstanden die schrecklichen Bilder jenes Tages vor Balthasars geistigem Auge, als ob es erst gestern gewesen wäre.
Eine junge Familie war von der Pest ausgelöscht worden. Die Frau lag auf dem Lager in der Stube, Gesicht und Körper notdürftig bedeckt - vermutlich von ihrem Mann. Dieser lag selbst nur wenig von ihrem Bett entfernt am Boden. Daneben - ebenso vom Tode ereilt - ein kleiner Knabe, nur halb bekleidet, dicht an seinen Vater gedrängt, mit dem Kopf auf dessen Brust ruhend. Alle drei trugen die abscheulichen Male der schrecklichen Seuche. Die Vermutung lag nahe, dass sie beinahe gleichzeitig erkrankt sein mussten. Die Frau war wohl als Erste der abscheulichen Krankheit erlegen, gefolgt von ihrem Mann. Erst danach der Knabe. Der Tod konnte kaum länger als vor einem Tag eingetreten sein.
„Bevor ich an mein Werk gegangen bin, habe ich mich noch in der Stube umgesehen“, erzählte Balthasar weiter.
„Eine Truhe war mit den spärlichen Habseligkeiten der Familie gepackt gewesen. Am Tisch lag eine lutherische Bibel aufgeschlagen. Vermutlich hatte der junge Familienvater im Angesicht des Todes Trost in der Bibel gesucht, damit er und seine Lieben nicht völlig unvorbereitet in das Jenseits hinübertreten würden und ihre Seele nicht dem Teufel zufiele.
Dann war mein Blick auf den Geldbeutel gefallen, der in der offen stehenden Truhe obenauf lag. Als ich diesen am Tisch entleert hatte, war mir - ohne die Münzen richtig abgezählt zu haben - rasch bewusst geworden, dass es sich um ein Vermögen von gut zweihundert Gulden handeln musste! Fast ausschließlich Taler und Dukaten zu zwei oder mehr Gulden, davon ein guter Teil im Bayernland geprägt!“
Das war mehr, als der Bauer durch den Verkauf seines Viehs allein hätte erzielen können. Weiß der Himmel, woher der Bauer das viele Geld hatte.
Balthasar habe mehrfach davon gehört, dass Leute, die im Geheimen dem protestantischen Glauben angehörten, sich zur Flucht entschieden, ohne sich zuvor von ihrem Gutsherrn loszukaufen. Hätte sich dieser junge Vater offen zum lutherischen Glauben bekannt und fortgehen wollen, so hätte er das minderjährige Kind zurücklassen müssen und wenn seine Frau vielleicht auch noch gesegneten Leibes gewesen wäre, auch sie! Viele der Geheimprotestanten, die nicht länger vortäuschen wollten katholischen Glaubens zu sein, verschwanden über Nacht und wanderten in protestantische Gebiete westlich oder nördlich gelegener Länder aus. Man erzählte sich auch, dass man den Zusammenhalt der Lutherischen untereinander nicht unterschätzen dürfe. Es sei dabei auch nicht wenig Geld im Spiel.
„Was hast du gemacht? Etwa das Geld genommen?“, unterbrach der Stadtpfarrer die Erzählung des alten Balthasar.
„Ohne weiter zu überlegen, habe ich das Geld zusammengerafft und den Beutel in die Tasche meines Rockes geschoben. Als ich durch die Tür treten wollte - mir wird noch heute ganz bang -, da war mir, als blickte mir jemand nach. Als ich mich umwandte, stellte ich fest, dass die starren glasigen Augen des toten Kindes auf mich gerichtet waren. Das Kind musste im Moment des unbarmherzigen Todes seinen Blick noch zur Türe gewendet haben. War zuvor schon jemand hier gewesen und dem sterbenden Kind nicht beigestanden? Der Gedanke beschäftigt mich noch heute. Den leeren Blick des toten Kindes werde ich wohl nie vergessen“, sagte Balthasar und blickte auf seine Hände herab.
Das Geld habe er rasch in einer Satteltasche verstaut, nachdem er sich umgesehen hatte, ob sich wirklich niemand in der Nähe befände, und sei in das Haus zurückgekehrt, um die Leichen auf seinen Wagen zu laden. Aufgrund seiner kräftigen Statur habe er dies gut alleine bewerkstelligen können, erklärte er dem aufmerksam zuhörenden Stadtpfarrer. Die Truhe habe er daraufhin in ein Hinterzimmer geschleift, berichtete Balthasar weiter. Die schwere Bibel, die er zuerst habe verbrennen wollen, dies dann doch nicht fertigbrachte, habe er in dem dunklen verwinkelten Gebälk der Scheune versteckt. Wenn nichts auf eine Flucht eines Geheimprotestanten samt Familie hindeute, habe er gedacht, werde man so schnell nicht nach fehlendem Geld suchen. Um die Meldung beim Pfarrer wegen der Eintragung ins Sterbebuch habe er sich nicht zu kümmern gehabt, denn das erledigten die beiden Knechte. So habe er sich, nachdem er die Toten in die offene Grube hinabgelassen hatte, unverzüglich davongemacht.
Pfarrer Herakh hatte geduldig zugehört und wollte gerade das Wort ergreifen, als Balthasar eine neben seiner Bettstatt stehende Kiste wegrückte und ein darunter liegendes Bodenbrett mit flinkem Griff aushob. Balthasar langte in den Hohlraum, zog einen schweren Beutel hervor und legte ihn vor dem Stadtpfarrer auf den Tisch. Dieser konnte kaum glauben, was er sah.
„Das war der Grund, warum ich auf den Besuch bei mir im Haus bestehen musste“, sagte Balthasar. „Keinen Schritt wollte ich mit dem Geld außer Haus tun!“
„Du hast es nie ausgegeben?“, fragte Pfarrer Herakh erstaunt. „Warum?“
„Es ist mir damals sehr bald bewusst geworden, dass ich mich mit dem Diebesgut selbst zwangsläufig an den Galgen bringen würde. Zu auffällig wäre es gewesen, hätte ich, der ich doch weithin bekannt war, eine dieser Münzen ausgeben wollen. Ein Wasenmeister, Bettler und Almosenempfänger wie ich konnte wohl nur durch Diebstahl oder Raub in diesen Besitz gekommen sein, würde man zurecht annehmen. Einem Geschöpf dieses niederen Standes, wie ich es war und bin, würde man auch wegen eines geringeren Vergehens den Prozess machen. Auch heute noch. Ich kenne doch die Menschen! Wenn selbst ein ehrbarer Mensch den Verleumdungen sensationsgieriger Leute hilflos ausgesetzt war, wenn diese sich in den Kopf gesetzt hatten, dass sie jemanden hängen sehen wollten, so würde man erst recht mit einem alternden Wasenmeister so verfahren, oder nicht? Und sei es aus Langeweile. Es würde sich kaum jemand die Mühe machen, mich vor dem Strange zu bewahren!“, erklärte Balthasar und fuhr sich mit beiden Händen über sein Gesicht. Dann beugte er sich zum Stadtpfarrer hinüber und sah ihm in die Augen.
„Ich liebe das Leben wie jeder andere Mensch auch, das versteht Hochwürden doch, oder?“, sagte Balthasar mit Nachdruck.
Der Stadtpfarrer musste ihm Recht geben. Der Besitz dieser Münzen musste den Alten zwangsweise in Verdacht bringen. Selbst wenn er diese einzeln ausgab. Das Diebesgut sei ihm zur Last geworden, erklärte Balthasar weiter. Er wollte auch nicht, dass es in die Hände von Leuten käme, die es seiner Meinung nach nicht verdient hätten. Er misstraute den Menschen. So verbarg er das Geld im Boden seiner Hütte und lebte weiter wie bisher. Es habe auch Zeiten gegeben, da habe er gar nicht mehr an die Existenz dieses Geldschatzes gedacht. Nun aber, da er alt geworden war, sah er sich gezwungen, die Sache ins Reine zu bringen. Auch die Vorstellung, dass nach seinem Tode ein Fremder völlig unverdient oder jemand, der ihm mit Spott und Hohn einst das Leben schwer gemacht hatte, an das Geld käme, belastete ihn. Es sei ihm wohl bewusst, wie höchst eigenartig dies auf den ehrwürdigen Herrn Pfarrer wirken musste.
Für ihn habe es nun nach langer Überlegung nur einen gangbaren Weg gegeben. Die Beichte, so hoffte er, würde ihm den Galgen ersparen. Denn auch auf seine alten Tage hing er noch am Leben. Und der Verwendungszweck wurde für ihn, je länger er darüber nachdachte, immer klarer.

5 Sterne
Liebe der Autorin zur Geschichte der Stadt Gmunden spürbar - 12.01.2020
Deidree C.

Wir bewegen uns hier in Gmunden der Jahre 1663 bis 1734. In „Wie sich wechseln Stund und Zeiten“ lässt Maria Breitenbach-Mandl das Gmunden der damaligen Zeit wieder auferstehen. Im oberösterreichischen Salzkammergut blühte der Salzhandel - soweit der schulische Lehrstoff. Doch hier spürt man die Liebe der Autorin zur Geschichte und zur Stadt Gmunden selbst.Wir Leser dürfen als Hauptprotagonistin Josefa begleiten. Mit ihr durchleben wir aber nicht nur ihre Lebensgeschichte geprägt von Armut, Liebe und mühseliger Arbeit. Auch die verschiedenen Jahreszeiten, kirchliche Gebräuche, Rituale, das damalige Weltbild und auch Änderung der Lebensgrundlagen der Bewohner, unterschiedlicher Stände, aufgrund politischer Wirren und Krankheiten, Seuchen und Todesängste werden bildlich und nachvollziehbar aufbereitet. Maria Breitenbach-Mandl zeigt anschaulich verschiedene Berufe der damaligen Zeit mit ihren typischen Aufgabenbereichen. Ihre Detailliebe macht sich im harmonisch und sehr gut recherchierten Gesamtbild bemerkbar. Dennoch werde ich als Leser nicht mit Jahreszahlen und uninteressanten Fakten überschüttet. Gekonnt verpackt die Autorin die Geschichte des Landes mit der der Stadt Gmunden und webt geschickt das Leben von Josefa als roten Faden mit ein.Die Wortwahl ist der damaligen Zeit angepasst, lässt sich aber flüssig und leicht lesen. Der Aufbau des Buches ist in einzelne Kapitel geteilt, die jeweils eine kurze Überschrift und die jeweilige Jahreszahl tragen. Immer wieder finden wir auch kurze Zitate und Gedichte berühmter Persönlichkeiten aus dieser Zeit. Als sehr hilfreich kann sich der Anhang erweisen. Hier sind spezielle Begriffe, Feste, Persönlichkeiten oder Gewohnheiten erklärt. Untypisch, aber umso übersichtlicher sind diese Erklärungen nicht alphabetisch angeordnet, sondern in die jeweiligen Kapitel eingeteilt.Ich durfte ein paar interessante Stunden mit Josefa verbringen und kann eine uneingeschränkte Leseempfehlung für alle Geschichtsinteressierten und Liebesromanbegeisterte abgeben. Für Gmundner können die beschriebenen Häuser mit ihren Adressen interessant sein, für alle anderen vielleicht ein Anreiz dieser Stadt einen Besuch abzustatten.

5 Sterne
Wie sich wechseln Stund und Zeiten - 02.05.2019
M. A.

Mit seinem hervorragend recherchierten historischen Hintergrund schildert der Roman sehr anschaulich und lebendig die Verhältnisse und Umstände, in denen die Menschen in der Zeit des Barocks und der Gegenreformation in Gmunden lebten. Der Autorin ist es aber auch ausgezeichnet gelungen,das Denken, Fühlen und Empfinden in dieser Zeit dem Leser nahe zu bringen. Man ist beim Lesen in einer Zeitreise, fühlt sich selbst ganz in diese Zeit versetzt, kann sich in sie hineindenken und hineinfühlen. Das macht das Buch so beeindruckend und packend. Man möchte es am liebsten ohne Unterbrechung zu Ende lesen, gar nicht zur Seite legen, so auch neugierig macht das Buch von Anfang an auf den Fortgang, vor allem natürlich der Lebensgeschichte der Josefa als der Hauptfigur des Romans. Dabei wird die Lokalgeschichte von Gmunden gekonnt mit den großen Ereignissen und Veränderungen der Zeit verbunden und mit dem Leben und Schicksal der Romanfiguren verwoben. Die Autorin hat es aber auch verstanden, zeitloses menschliches Denken, Fühlen und Verhalten so eindrucksvoll und oft auch berührend dem Leser nahe zu bringen. Etwa wenn Josefa mit Konrad zum Grab seiner Mutter und des Kindes, bei dessen Geburt sie verstorben ist geht und seinen traurigen Gedanken und Worten mit so tröstenden antwortet und ihm dabei fest die Hand drückt.... Oder wie Lukas der Josefa seine Liebe erklärt und zugleich, dass er der Bräutigam ist, mit dem ihr Vater gesprochen hat...Oder wenn der behinderte Stiefsohn die Josefa in der Katastrophe der Abrutschung des Gschliefgrabens rettet.

5 Sterne
Wie sich wechseln Stund und Zeiten - 30.04.2019

Sehr beeindruckt von dem in Ihrem Verlag erschienenen Roman mit ausgezeichnet recherchierten historischen Hintergrund und der feinen Wiedergabe sowohl von historisch bedingten als auch zeitlos geltenden allgemeinen menschlichen Denkens und Fühlens "Wie sich wechseln Stund und Zeiten" von Maria Breitenbach-Mandl.Möchte auf diesem Weg dem historischen Roman mit beeindruckenden menschlichen Tiefgang auf diesem Weg die Höchstnote, also die fünf möglichen Sterne vergeben.

5 Sterne
Wie sich wechseln Stund und Zeiten - 23.10.2018
Elfriede Wolfsgruber

Beeindruckend wie man belegte Geschichte leicht verständlich und spannend servieren kann!

5 Sterne
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Elfriede Wolfsgruber

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